Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0663: Heftromane


Bevor ich Captain Kirk, Mr. Spock und Pille kennenlernen durfte, waren da Perry Rhodan, Atlan, Bully und Gucky, der Mausbiber. Früher, als es noch Heftromane an jedem Kiosk zu kaufen gab. (Und Schleckmuscheln!)

Download der Episode hier.
Beitragsbild: Von Olaf Simons – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link
Opener: „Lachmuskel Quäler John Sinclair“ von amidragon678
Closer: „John Sinclair Outtakes“ von SpiderFairy08
Musik: „John (2008)“ von PETIT HOMME / CC BY-NC-SA 3.0

Wenn ich so über Geduld nachgrübele und über Menschen in meinem Leben, die wirklich geduldig waren, dann fällt mir immer der Besitzer von unserem Kiosk ein. Und unser Kiosk, das ist das einzig wahre und unvergessliche Kiosk direkt gegenüber unserer Grundschule an der Feldmochinger Straße.

Natürlich sind wir nach der Schule da alle im Rudel hingepilgert und haben erst einmal geshoppt.

„Also. Ich hätte gerne eine Schleckmuschel. Und so ein Brause-Ufo. Und einen Brausebrocken. Und zwei Colaflaschen. Und zwei Fruchtkaramellen und ein Eiskonfekt…. Bitte.“

„Also. Eine Schleckmuschel, ein Brause-Ufo, ein Brausebrocken, zwei Colafläschchen, zwei Karamellen und ein Eiskonfekt. Hier. Bitteschön. Macht 17 Pfenning.“

„Oh. Ich hab’ aber nur 10 Pfenning gekriegt vom Opa.“

„Dann verzichte docham besten auf die Schleckmuschel und das Ufo, dann reicht Dein Geld.“

„Nein. Dann nehme ich lieber zwei Schlümpfe, zwei Eiskonfekt, zwei Gummischlangen und zwei Bazooka und so eine Knabberkette!“

„Aber das kostet dann 15 Pfenning.“

„Oh. Ach so. Na dann…“

Wir blenden hier aus. Der Stefan hat immer Stunden gebraucht, aber der Mann vom Kiosk hat nie mit uns geschimpft und wurde nie ungeduldig.

Ich erzähle das ja auch nur, um zu erklären, warum ich soviel Zeit mit Heftromanen verbracht habe. Jeden Tag habe ich ca. eine halbe Stunde in der Warteschlange verbracht. Und da waren zwei so Drehständer mit Heftromanen.

„Jerry Cotton“ hießen die. Oder „John Sinclair“. Oder „Perry Rhodan.“ Sie hatten interessante Cover von exotischen Orten und aus fremden Ländern. Aber es gab noch viel, viel mehr in den beiden Karusellen – das sind nur die drei Beispiele, die jeder heute noch kennt.

Aber da standen auch: Star Western, Terra Astra, Amora, Gaslicht, Spionage, Landser, Landser Ritterkreuzträger, Red Rock Ranch, Commander Scott, Butler Parker, Lassiter, Atlan, Mephisto, Nick Carter, Ronco, Dragon, SOS, Zukunft Roman, Gespenster Krimi, John Cameron, Macabros, Olivia, Professor Zamorra, Wyatt Earp, Zeitkugel, Geister Krimi oder Sam und Sally.

Das sind nur die Beispiele aus meiner Grundschulzeit. Da waren die Heftromane ja schon auf ihrem langen Weg in den Abgrund. Die Hochzeit dieser Literatur war bereits vor dem Krieg gewesen, als das ganze noch Groschenroman hieß.

Eine sehr deutsche Erfindung übrigens, die uns zuerst die Engländer nachmachten. „Penny Dreadful“ heißt diese Lektüre in England, da steckt der Groschen auch drinnen und in Amerika nannte man das „dime novels“. In den USA praktisch Mama und Papa der pulp fiction.

Irgendwann konnte ich genug lesen und hatte so lange mit Brausebonbons-Kaufen gegeizt, dass ich mir einen Perry Rhodan kaufen konnte. Schon wegen des coolen Covers und der Rißzeichnungen und wegen Gucky, dem Mausbiber und Ivan Ivanowitsch und Atlan und der Crest und weil halt…

Zuhause lernte ich neue Begriffe für das literarische Genre des eben erworbenen Werks kennen. Schundroman, Käseheft, Schmuddelheftchen, solche Wörter halt. Sagten meine Eltern. Mir wurde der weitere Erwerb solcher Literatur fürderhin untersagt… was die heimliche Lektüre nachts, mit Taschenlampe in Zukunft gleich noch spannender machte.

Damals, Anfang der Siebziger, verteilten die Marktführer Moewig und Pabel jede Woche noch einige Hunderttausende dieser Druckerzeugnisse an die Lesesüchtigen. Heutzutage findet man nur noch Liebesromane in den Drehständern. Das gilt auf jeden Fall für Bobingen, wo ich alle gängigen Quellen abgegrast habe.

Es lohnt sich nicht mehr wirklich für die Verlage. Selbst John Sinclair, nach Perry Rhodan immer noch mit der verkaufsstärkste Roman hat eine Auflage unter 20.000 Stück. Ein Drittel der Auflage jeder Zeitschrift in Deutschland produziert man für den Müll, also werden maximal 13.000 Hefte gelesen.

Macht grob 26.000 Euro Umsatz die Woche. Davon kassiert der Vertrieb auch gleich ein Drittel und die Druckerei ein weiteres, so das nur an die 8000 Euro hängen bleiben an jedem John Sinclair.

Dessen Hauptautor, Helmut Rellergerd alias John Dark, verdient wahrscheinlich mehr, aber in der Regel verdient so ein Groschenromanschreiber zwischen 800 und 1200 Euro an einem Werk, an dem die meisten immerhin über eine Woche dichten.

Man merkt rasch, dass das den Verlagen keinen großen Spaß mehr bereitet, weswegen die meisten Formate auch mausetot mit Nadeln aufgepiekst in virtuellen Bilderrahmen auf Fanwebseiten zu entdecken sind. Meistens in der Web 1.0-Ausführung.

Der schleichende Niedergang setzt sich immer noch fort. In England und den USA ist der Heftroman schon längst komplett ausgestorben und auch bei uns verlieren sie zunehmend Boden. Weil Taschenbücher halt jetzt so billig sind und für die gleiche Kohle viel mehr Buchstaben drinne sind.

Ausnahmsweise ist also nicht der böse Computer schuld, der soll, im Gegenteil, vielleicht noch der Retter in letzter Sekunde werden. Denn als eBooks für den Kindle und andere eReader – gibt’s das eigentlich noch? – als eBooks soll dieses klassische deutsche Literaturformat vielleicht doch noch eine Überlebensnische finden.

Ich habe mir unlängst eine Leseprobe eines aktuellen Perry Rhodan auf’s Kindle geschickt. Außer Perry Rhodan kenne ich darin keine Figur mehr. Und den habe ich eigentlich früher immer am wenigsten gemocht. Großadministrator…
Die außerirdischen Spezies kenne ich alle komplett nicht mehr, das Raumschiff ist mir völlig fremd.

Band 2913 der Serie, die seit dem 8. September 1961 ohne Unterbrechung jede Woche verlässlich erscheint, hat mich nicht nach 45 Jahren heimgeholt. Ist aber auch zuviel verlangt.

Obwohl der Roman im Vergleich zum hölzernen, drögen Stil eines Karl-Herbert Scheer richtig gut geschrieben war! Respekt, Herr Michael Marcus Thurner.
Ich bin natürlich Clark Darlton-Fan. Gucky und so…

Puh. Heute bin ich ganz schön nostalgisch geworden. Ich sollte vielleicht wieder so Heftromane kaufen. Kann man sicher auch bei Amazon bestellen… Da stellt sich mir aber doch die Frage… Gibt’s eigentlich diese Schleckmuscheln noch? Und Knusper-Puffreis? Und Nappo? Und Knuspermünzen! Die die waren echt lecker!


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 June 27, 2017  16m