Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Wie man richtig liest


Lesen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die wichtigste Kulturtechnik, die wir in unserer Zivilisation lernen können. Darum sind Erstklässler ja auch „ABC-Schützen“.

In der Schule und vielleicht auch im Studium lernen wir zwei Techniken des Lesens, die für uns vor allem im Beruf ganz entscheidend wichtig sind. Die sind nicht falsch oder schlecht, aber nicht das ganze Geheimnis.

Leider verlernen wir dabei aber die Lesetechnik, die aus dem Entziffern von Buchstaben mehr macht als nur Information. Die Technik, die aus einem Buch Gedankenübertragung macht. Und uns zu anderen Menschen.

Download der Episode hier.
Akte-X-Thema aus der Sendung: „The X-Files Theme – Flute Cover“ von Gina Luciani
Musik: „I Wish It Would Rain“ von Mercury in Summer / CC BY-NC-SA 3.0

Skript zur Sendung

Es gibt Zeiten im Leben, in denen man viel liest. Und in anderen Zeiten wieder weniger. Ich kann mich erinnern, dass ich ziemlich wenig gelesen habe, als die Kinder klein waren. Das war eher die Zeit für kurze Artikel oder für Überschriften.

Aber als Kind habe ich richtig viel gelesen.

Ich habe auf jeden Fall über das Lesen nachgedacht. Darüber, wie ich das gelernt habe. Und ich kann mich ehrlich nicht mehr genau erinnern. Ich weiß, dass ich schon irgendwie beinahe Lesen konnte, als ich in die Schule gekommen bin.

Es gibt da diese Episode, wo wir vor der Schule warten. Mit unseren Schultüten. Alle sind furchtbar aufgeregt. Vor allem die Erwachsenen. Wir Kinder haben ja noch keine Ahnung, was uns blüht. Was es wirklich heißt, JEDEN Tag in aller Herrgottsfrühe in die Schule gehen zu müssen. Jahr für Jahr für Jahr.

Mir war das schon am allerersten Tag unheimlich.

Ich erinnere mich, wie ich auf der Treppe stehe, alle Erwachsenen knipsen uns wie bescheuert und mein Blick fällt auf ein Schild. Und da steht doch, am Schulhaus: „Verräter anlehnen verboten.“

Oh je! Da gibt es also Verräter in der Schule! Und die dürfen sich nicht anlehnen! Was haben die denn bloß verraten? Und: Was kann man hier noch alles falsch machen? Kann mir einer bitte erklären, was ich hier machen soll?

Na ja. So gut konnte ich ungefähr damals lesen. Da stand natürlich nicht „Verräter anlehnen“, sondern „Fahrräder ahnlehnen“. Kann man im Kopf aber eben auch falsch zusammen basteln.

Na ja. Wir gehen alle in die Schule, um lesen zu lernen. Das ist die Herz-Aufgabe von Schule, seit es Schule gibt. Das ist die wichtigste zivilisatorische Technik, die es zu Erlernen gibt. ABC-Schützen heißen die Kleinen mit ihren Schultüten, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Und nicht „1-2-3“-Schützen.

Das hat einen guten Grund. Und der ist, dass unsere Zivilisation auf Lesen beruht. Wenn alles, was wir lernen können, uns von der Generation vorher nur mündlich weitergegeben wird – dann reicht das halt nur, um den Status Quo zu erhalten. Und so ändert sich eine analphabetische Gesellschaft halt nur langsam..

Das braucht man jetzt nicht einmal bewerten. Tatsache ist aber, dass Lesen uns einen großen Vorsprung verschafft. Wir können uns das Wissen anderer Menschen aneignen, ohne dass diese noch leben. Uns die Welt von Toten ordnen lassen.

Von Sartre oder Camus, von Kant oder Hegel, von Cervantes oder Melville. Und sogar von Platon oder Aristoteles. Dabei gibt es keine Körper mehr dazu. Aber wir kennen ihre Gedanken.

Lesen ist eigentlich Telepathie. Gedankenübertragung von einem Ort zum anderen. Und sogar von der einen Zeit zur anderen. Das ist eigentlich schon unglaublich, oder?

Und so baut auch jede Wissenschaft auf einer Reihe von Fundamenten auf. Diese Theorie basiert auf jener Theorie und die wiederum auf jener Behauptung. Wir sprechen dann also über Menschen, die etwas geschrieben haben über das, was sie gelesen haben.

Das erklärt, wie wir in der Schule das Lesen lernen. Wir lernen da nämlich hauptsächlich zwei Arten des Lesens, obwohl es eine dritte auch noch gibt.

Die erste Art des Lesens, die wir lernen, ist die, einen gegebenen Text zu verinnerlichen. Ihn so oft zu lesen und zu bearbeiten, bis die Inhalte des Textes zu unseren Inhalten werden.

Damit wir diese Inhalte dann bei einer Prüfung wiedergeben können. Das ist eine Methode, die auch schon sehr alt ist. Früher mussten Studenten riesige Textmengen auswendig lernen.

Heute glauben wir, wichtiger ist es, dass das Gelesene verstanden wird. Aber wenn man sich anschaut, wieviel Text da in einigen Studienfächern zu bewältigen ist, dann kann man Verständnis eigentlich nicht mehr voraussetzen.

Und dann hätten wir noch die zweite Form des Lesens, die wir in Schulen und Universitäten erlernen. Das analytische Textverständnis. Wir lernen, einen Text kritisch zu betrachten und auszuwerten.

Und das Gelesene in die Schubladen „gut“ und „schlecht“ einzusortieren. Die können auch anders heißen. Zum Beispiel in Naturwissenschaften „falsch“ und „richtig“.

Aber immer sortieren wir den Text für uns in Bestandteile, die uns nützen oder nicht nützen.

Das geht dann noch eine Stufe ins Abstrakte, wenn wir die Form und Farbe der verwendeten Sprache analysieren und die dadurch beabsichtigte Wirkung.

Ich erinnere mich genau an dieses Gefühl im Deutsch-Leistungskurs, als auf einmal jeder Text seinen Geschmack und seinen Geruch verloren hatte.

Selbst fantastische Bücher, wie zum Beispiel „Berlin, Alexanderplatz“ von Döblin berührten mich nicht mehr.

„Rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch, und die Schienen haut sie wie nichts in den Boden. Eisige Luft. Februar. Die Menschen gehen in Mänteln…“

Das las ich. Und dachte mir: Interessant, wie Döblin seinen Roman mit einem Onomatopoion beginnt. Die Wucht, mit der hier Maschinenkraft fast wie in einem Comics stilisiert wird, macht wahrscheinlich das Trauma der Industrialisierung zu einem Leitthema…

So geschwollen kann man nur mit 18 denken…

Zwischenbilanz: Es gibt also Texte, die wir lernen und Texte, die wir analysieren. Das ist Schule. Und das ist die Art, wie wir auch als Erwachsene meistens lesen.

Die ganzen Textschnipsel, die einem heute um die Ohren fliegen, lassen sich auch gar nicht anders bewältigen. Gut, dass wir das lernen, um überhaupt noch einen Weg zu sehen, eine Richtung zu erkennen. Im Internet zum Beispiel.

Und verständlich, dass diese dauernde Textanalyse bei manchen auch aus dem Ruder gerät. Bei allem, was man veröffentlicht und allem, was man schreibt, egal auf welcher Plattform, hat man die Kritiker ständig im Hinterkopf. Ich zumindest.

Das sind nicht einmal Trolle. Sondern einfach Menschen, die nicht unterscheiden können zwischen Textanalyse und Lesen. Und so finden sich in den Kommentaren dann immer die Textkritiker, die nicht die Botschaft hören, sondern aufpassen, dass auch alles seine Richtigkeit hat.

Aber, da gibt es noch eine andere Art des Lesens. Die richtige Art des Lesens.

Die kennen wir alle. Irgendwann, in der Kindheit und Jugend, hat jeder eine Erinnerung an einen Text, der ihn völlig gefesselt hat. An ein Buch, dass man beim besten Willen nicht aus der Hand legen konnte. Das man verbotenerweise sogar unter Decke mit der Taschenlampe gelesen hat.

Ich habe da echt viele Beispiele gefunden, als ich so nachgedacht habe. Da gibt es auch Intelektuelles darunter. Ich habe „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab verschlungen, als ich noch zu klein dafür war.

Und ein dicke Ausgabe von „Robin Hood“ von Howard Pyle. Das war auch toll, das habe ich auch sehr geliebt!

Darauf folgten die wirklich coolen, neuen „Drei Fragezeichen“-Romane. Ein Buch, ganz in schwarz! Schlichte weiße Buchstaben als Titel. Die drei Fragezeichen in Rot, Blau und Weiß. Und ein mysteriöses quadratisches Bild in der Mitte! Das war wie „Fünf Freunde“, bloß aufregender!

Einige Romanautoren habe ich sogar komplett gelesen. Kafa, Hesse oder Dostojewski. Um hier einmal ein bisschen anzugeben. Aber vor allem Jules Verne, Edgar Allan Poe, Tolkien, Astrid Lindgren, Stephen King bis Langoliers, Bradbury, Asimov…

Und natürlich viel Perry Rhodan oder Atlan. Im Notfall auch einen Jerry Cotton oder einen John Sinclaire.

Das war mein Liebesverhältnis mit dem Lesen. Ich habe so vieles vergessen und mir fallen dauernd neue Sachen ein, die ich liebe, ich könnte eine Stunde weitersprudeln!

Aber dann wurde alles anders. Dann kam das Studium. Und die Arbeit. Und damit Fachliteratur und Sachliteratur und Artikel und Verträge. Lesen war Bildung und nicht mehr Leidenschaft. Und so blieb das dann wirklich lange.

Und wenn ich dann doch zur Entspannung einen Roman rausgeholt habe, dann habe ich den gelesen wie ein Sachbuch. Das ist ja zum Beispiel bei Science Fiction auch nicht besonders schwer, das wie ein Sachbuch zu lesen.

Aber die einzig richtige Art zu lesen, ist es, sich fallenzulassen! Zu akzeptieren, dass man die Welt durch die Augen eines anderen sehen wird. Dass eine andere für uns jetzt Ordnung schafft. Dass wir einen anderen Standpunkt als den eigenen einnehmen werden.

Dass wir, während wir lesen, ein anderer Mensch sein werden.
Das ist die richtige Art zu lesen, glaube ich. Das ist die Faszination Lesen.

Und das gilt für einen Perry Rhodan genauso wie für das sogenannte „gute Buch“. Denn sehr viele Bücher können „gute“ Bücher sein, wenn wir nur bereit sind, mitzuspielen.

Die Unterscheidung, was „gut“ ist, die trifft eine Stimme in unserem Kopf. Eine Instanz unseres analytischen Verstands, die wir jahrelang geschärft haben. Und die jetzt keine Ruhe mehr geben will.

Die einzige Art, richtig zu lesen, ist, wie ein Kind zu lesen. Ich, auf jeden Fall, übe das wieder. Tag für Tag. Das geht schon, wenn ich erst einmal die erste Hürde gepackt hat, wo es in mir dauernd nachdenkt. Eine Viertelstunde brauche ich allemal.

Das ist richtig anstrengend. Ich muss mir richtig Mühe geben, mir keine Mühe zu geben. Ich muss mich solange konzentrieren, bis ich die Konzentration nicht mehr brauche.

Und wenn man dann ein anderer Mensch ist, wenn man dann einen anderen Standpunkt hat, wenn man sich dann von jemand anderem die Welt erklären lässt, dann kann man Schätze finden.

Wie zum Beispiel: „Ein Lesender lebt tausend Leben, bevor er stirbt, sagte Jojen. Der Mensch, der niemals liest, lebt nur eines.“ Steht da, in diesem Fantasyroman. Und das stimmt genau.


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 June 19, 2018  26m