Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Die Lachepidemie von Tansania


Lachen ist fast so ansteckend wie Gähnen. Wenn jemand sich nicht mehr halten kann, dann hält es auch uns nicht mehr lange. Gut, dass das auch irgendwann wieder aufhört, denn Lachen ist auch sehr anstrengend.

Vor etwas mehr als fünfzig Jahren verbreitete sich das Lachen in Tansania wie eine Epidemie. Tausende von Mädchen konnten tagelang einfach nicht mehr aufhören zu lachen.

So schnell und unerklärlich wie diese Seuche kam, so schnell war sie auch wieder vorbei. Auch heute haben wir dafür keine physischen Ursachen gefunden – ist das nur ein weiterer Fall einer rätselhaften Massenhysterie?

Download der Sendung hier.
Musik: „Kwetu“ von Rayvanny

Skript zur Sendung

FA: Im Gegensatz zu Dir, HW, bin ich ja nicht superschlecht in Geographie. Ich kann auf einer Deutschlandkarte sagen, wo Bobingen ist oder Berlin oder Hamburg oder der Westerwald.

HW: Ich komme im Umkreis von 50 km um München herum auch gut zurecht!

FA: Eben! Aber wo mich alle Kenntnisse verlassen, das ist der große Kontinent Afrika. Also, im Norden geht’s noch. Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten. Dann wird’s schon schwieriger.

Kongo geht auch noch. Und Südafrika. Aber dann wird’s echt schwierig. Ist echt eine Schande, ich weiß. Aber wo ist Malawi? Wo ist Burundi?

Und auch Tansania habe ich mit Angola vertauscht. Das liegt in Wirklichkeit einigermaßen mittig an der Ostküste. Über Mosambik und unter Kenia.

Wenn ich an Afrika denken, dann ist das immer noch ein bisschen von Daktari oder Tarzan oder aber Herrn Grzimek beeinflußt. Der sich so für die Serengeti eingesetzt hat. Stellt sich heraus, dass die tatsächlich in Tansania liegt. Genauso wie die untere Hälfte des Viktoria-Sees. Oder der Kilimandscharo. Wußtet ihr das?

Und vor der Küste liegt Sansibar. Klingt irgendwie auch wild.

In Tansania leben so viele Menschen wie in Frankreich. Und es ist ungefähr so groß wie dreimal das vereinigte Deutschland. Die Hauptstadt heißt Dodoma, der Regierungssitz ist Daressalam.

Tansania war deutsche Kolonie. 1885 kaufte sich die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ Anspruch auf Gebiete im Binnenland. Die wurden dann 1888 vertrieben und holten das deutsche Militär zu Hilfe. Danach war Tansania das Kerngebiet von Deutsch-Ostafrika.

Nach dem ersten Weltkrieg waren ja Deutschlands Plätze an der Sonne weg und Deutsch-Ostafrika dann Tanganijka.

Anfang der Sechziger wurden Tanganijka und Sansibar dann Tansania. Kurz danach kam es zur Lachepidemie.

Die Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf. Kashasha heißt das und dort betreiben Missionare ein Mädchen-Internat. Kleine Klassenräume, überfüllte Klassen, alle Altersstufen werden gemeinsam unterrichtet, eine Schuluniform gibt es auch. War ja britische Kolonie.

Am 30. Januar 1962 war es, als die Epidemie begann. Drei Mädchen fingen an zu kichern, dann zu lachen, schließlich so laut zu lachen, dass sie richtig geschüttelt wurden.

Die Lehrer dachten sich natürlich erst einmal nichts dabei. Und schickten die drei Mädchen nach Hause. Alles Schimpfen und Drohen hatte nicht geholfen. Diese drei konnten einfach nicht anders, sie mussten in einem fort weiterlachen.

Wird sich schon legen über Nacht…

Aber die drei lachten auch am nächsten Tag weiter. Und am nächsten Tag auch. Und am dritten Tag auch. Sie wurden weiterhin der Schule verwiesen.

Doch es bald schon die nächsten Kinder angesteckt. Und mit jedem Tag wurden es mehr lachende Schulkinder. Wochenlang führten die fünf Lehrer des Mädcheninternats einen Kampf gegen das Lachen.

Doch die Epidemie breitete sich in der Schule immer weiter aus. Als über 90 der 160 Schüler zu Hause bleiben müssen, weil sie einfach nicht mehr die Fassung kriegen, schließen sie. So kann man keinen Unterricht mehr machen.

Die Mädchen wurden also in ihre Heimatdörfer zurück geschickt. Was soll man sonst auch machen?

Allerdings ging die Lach-Seuche dann erst so richtig los! Man hatte sozusagen die Viren jetzt breit gestreut. Und die lachenden Mädchen steckten ihre Heimatdörfer an.

Eines der drei Mädchen, mit denen alles angefangen hatte, steckte im Dorf Nshamba in zwei Monaten über 200 Menschen an.

In Bukoba musste eine weitere Schule geschlossen werden. Da wohnte ein weiteres der Lach-Mädchen.

Im ganzen Bezirk Bukoba explodierte schließlich die Seuche. Tausende von Menschen wurden von den Lachkrämpfen heimgesucht.

Das klingt vielleicht lustiger, als es war. Aber Lachen ist sehr anstrengend. Viele der Patienten konnten sich nicht mehr richtig ernähren, praktisch niemand seinen Alltagsgeschäften nachgehen.

Lachpausen gab es nur, wenn die Patienten stattdessen von Weinkrämpfen heimgesucht wurden. Viele klagten auch darüber, dass sie von Ängsten heimgesucht wurden. Irgend etwas bedrohte sie oder verfolgte sie.

Alle hatten geweitete Pupillen und stark verstärkte Reflexe, waren aber sonst körperlich unauffällig.

Spezialisten aus Daressalam wurden geholt und bald auch internationale Ärzteteams.

Woran konnte diese Seuche nur liegen? War es vielleicht ein Virus? Der sich durch Tröpfchen-Infektion verbreitete?

Doch die Blutbilder der Befallenen blieben völlig normal. Es konnte kein Virus oder kein Bakterium gefunden werden, dass die Ursache für die Epidemie sein könnte.

Vielleicht war es eine Vergiftung? Irgend etwas im Essen? Doch die Lebensmittel im Internat stammten aus den Nachbardörfern, die ja alle nicht davon betroffen waren. Bis man die Mädchen nach Hause schickte.

Eine besonders gewagte Theorie machte dann die Runde: Die Lach-Krankheit wurde von radioaktiver Strahlung ausgelöst. Weil es irgendwo Atombombentests gegeben habe, von denen aber nicht berichtet wurde.

Aber keine dieser Theorien machte wirklich Sinn. Es gab einfach keine Erklärung für das Lachen. Die Ärzte hatten nicht einmal einen Namen dafür. Die Bewohner Bukobas nannten die Krankheit „Akajanja“. Das ist einfach das Suaheli-Wort für „Wahnsinn“.

Wie die Epidemie gekommen war, so ging sie auch im Laufe des Jahres 1963 wieder. Aber ein Jahr lang wogte die Lach-Krankheit durch die Provinz und es erwischte tausende von Menschen.

16 Tage lang konnte so eine Ansteckung dauern. 16 Tage lang Lachen. Und Angst.

Es erwischte fast nur Mädchen, kaum Jungs. Wenige Erwachsene und keine Menschen mit höherer Bildung. Schreiben zwei der Ärzte, die das Phänomen aus nächster Nähe beobachtet hatten.

Auch heute haben wir keine neue Erklärung für diese rätselhafte Krankheit. Die plausibelste Theorie ist natürlich, dass es sich um eine „Massenhysterie“ gehandelt hat.

Die kommen nicht so selten vor, wie man meinen mag – über die Tanzwut von Straßburg hatten wir ja zum Beispiel schon einmal eine Folge.

Betroffen sind oft Menschen, die unter Stress leiden und unbewältigte Ängste haben. Und die das einfach nicht anders verbalisieren können.

Einen Monat vor dem Ausbruch der Lach-Epidemie war Tansania selbstständig geworden. Keine Kolonie mehr, sondern Teil des Commonwealth. Doch so viel Wealth war da nicht im Commonwealth.

Tansania war damals ein sehr armes Land. Die Lebenserwartung lag bei 43 Jahren – viele der Mädchen würden bei ihrer ersten Geburt sterben, die Müttersterblichkeit lag bei fast fünf Prozent.

Keiner wußte genau, was jetzt geschehen würde. Oft wurden ehemalige Kolonien von Kriegen oder Unruhen heimgesucht. Wenn schwelende Konflikte auf einmal wieder ausbrachen.

Wer wäre denn dann da, um das zu verhindern? Die Briten auf jeden Fall nicht mehr. Aber nicht nur die Soldaten und Polizisten waren wieder heimgegangen, sondern auch die Ärzte, Beamten und die Lehrer.

Wahrscheinlich entlud sich das alles im Lachen der Mädchen. Die, die wirklich nichts zu lachen hatten, die konnten auf einmal nicht mehr anders.

Aber so richtig glücklich macht mich ja die „Massenhysterie“ nicht. Da haben wir wirklich Jahrzehnte gebraucht, um das komische Krankheitsbild „Hysterie“ loszuwerden, aber wenn es Massen betrifft, dann gibt es die immer noch, diese seltsame Nervenkrankheit. Die nur Menschen mit Gebärmutter erwischt…

Man spricht heute in der Psychologie stattdessen von „sozialer Ansteckung“. Netzwerkstudien haben sehr deutlich gezeigt, dass wir uns mit unseren Emotionen anstecken. Alle. Dauernd. Unbewusst…

Das ist für „Happiness“ sehr schön nachgewiesen, wirkt aber natürlich auch genauso mit negativen Gefühlen. Und das müssen nicht einmal Freunde oder Bekannte sein. Auch der eigene Nachbar wird einen anstecken mit Angst, Freude, Wut oder allen anderen Emotionen – auch wenn man das nicht merkt!

Ich verlinke dazu einen sehr interessanten Artikel aus der Spektrum:
„Gemeinsam sind wir – anders“ heißt der.

Anders sind wir. Und nicht nur wunderlich, Herr Wunderlich!


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 July 18, 2018  24m