Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Theodizee und Anthropodizee


In meiner (hw) Twitter-Timeline mischen sich die Atheisten und die Theologen. Wie halt auch in meinem Leben. Und erwartungsgemäß sind die, besonders in religiösen Fragen, völlig verschiedener Meinungen. </ironie>

Dabei verstehe ich diesen Konflikt persönlich nicht. Ich kann da keinerlei Widerspruch erkennen. Weil beide Systeme alleine keinerlei befriedigenden Aussagen zur menschlichen Existenz treffen können.

Das möchte ich heute an zwei wichtigen Fragen der Philosophie erläutern. An die Religion geht die Frage, die man „Theodizee“ nennt. Und an die Wissenschaft die Frage, die man „Anthropodizee“ nennt.

Download der Epsiode hier.
Musik: „The Atheist Anthem – A Song for Atheism“ von The Fruit and The Piano

Skript zur Sendung

Viele Menschen nehmen ja an, dass sich Wissenschaft und Religion ausschließen. Das ist auf jeden Fall die Meinung, der ich meistens so begegne.

Aus irgendeinem Grund habe ich im Bekannten- und Freundeskreis viele religiöse Menschen und viele Skeptiker und Naturwissenschaftler.

Das gibt auf Twitter manchmal schon ein drolliges Bild. Speziell, wenn die Religion einmal wieder zum Thema wird. Da scrolle ich dann durch die Meinungen meiner theologischen Blase, versetzt mit Skeptikern und Atheisten und Agnostikern.

Das habe ich mir wohl selber zuzuschreiben, weil ich diesen inneren Konflikt eigentlich nie gespürt habe. Wenn es gegen zu kindliche Gottesvorstellungen geht, dann finde ich mich auf einmal in den Reihen der Naturwissenschaftler wieder.

(Kleine Zwischenbemerkung: Ich mache hier, auch für den Rest der Sendung, Atheismus und Wissenschaft sinngleich zu verwenden. Um dabei auch noch der Theologie die Wissenschafltichkeit abzuerkenne. Tut mir leid, religiöse Wissenschaftler. Ich weiß, euch gibt es. Aber da müsst ihr jetzt aus Gründen der Polemik durch!)

Wo waren wir? Ach, bei den kindlichen Gottesvorstellungen. Die gibt’s. Und nicht zu knapp. Frag‘ mal die brasilianische Fußballmannschaft!

Wer davon ausgeht, dass man nur ein frommes und gottesfürchtiges Leben führen muss, damit der Herr im Himmel einem auch seine Gebete erhört, der schadet nicht nur sich selber, sondern auch den Menschen um ihn herum.

Weil Leben eben auch immer Leid, Krankheit und Tod bedeutet. Und darauf hat diese sogenannte Werksgerechtigkeit keine befriedigende Antwort.

Umgekehrt streite ich dann auf Seiten der Religion, wenn der Atheismus mal wieder zu breitbeinig und unsensibel daherkommt. Und alle Christenmenschen für dumm erklärt, wie Richard Dawkins und Konsorten.

Es ist Atheisten schwierig zu erklären, dass die Argumente Dawkins für Theologen eigentlich schon vor zweihundert Jahren behandelt wurden. Seine Religionskritik ist laut, aber wenig intelligent. Und überhaupt nicht neu.

Auch das schadet eher als es nutzt. Die fromme Oma in der Kirche für ihr Gottesbild zu verspotten, ist eben einfach nicht in Ordnung.

Überhaupt ist auffällig, dass die leidenschaftlichsten Atheisten oft junge, gesunde Männer sind. Die Unsterblichen, nenne ich die. Was aber nicht bedeutet, dass das eine Diskussion ausschließt.

Und heute wollte ich euch einmal ein Stück in meinen Kopf mitnehmen. Über den Zustand der dieser beiden Seelen, ach in meiner Brust.

Fangen wir also mit dem lieben Gott an. Der ist ja irgendwo das Hauptproblem für viele Kritiker.

Das erste Problem ist der biblische Rächergott. Viele sind recht gut darin, besonders blutrünstige Passagen speziell im Alten Testament ausfindig zu machen. Und da gibt es einige!

Um diese alle auf einen Nenner zu bringen: „Ein eifernder und rächender Gott ist der HERR; ein Rächer ist der HERR und voller Zorn; ein Rächer ist der HERR gegenüber seinen Widersachern, er verharrt im Zorn gegen seine Feinde.“

Tatsächlich empfanden auch viele frühe Christen den Widerspruch zwischen dem rächenden Gott aus dem Alten Testament und dem lieben Gott aus dem Neuen. Als eine christliche Theologie erst im Entstehen war, gab es eine große Strömung, die Gnosis.

Und ein Hauptbestandteil der gnostischen Überzeugungen war es, dass im Alten Testament eben eine Art anderer Gott steckt und im Neuen eben ein neuer, ein Guter. Den Demiurgen nennen sie den materiellen Gott, der auch den Menschenleib geschaffen hat. Und der liebe Gott ist die nicht-materielle Kraft in uns. Die Pneuma. Jesus Christus ist für Gnostiker die geistige Verkörperung Gottes. Nicht die körperliche.

Das ist zum einen ein verständlicher Ansatz und verträgt sich auch prima mit dem Platonismus. Oder mit Zarathrustra. Ist auch leichter mit dem Mahayana-Buddhismus zu kombinieren. Auf der anderen Seite ist es auch enttäuschend und zutiefst körperfeindlich.

Die christliche Lehre hat aber auf Dauer gnostische Vorstellungen abgelegt.
Und es den Gläubigen dafür mit der Trinität auch nicht gerade leicht gemacht….

Das ist immer wieder ein Anlass zu heftigen Diskussionen. Wie denn Gott bitteschön Vater UND Sohn UND Heiliger Geist gleichzeitg sein kann. Und, was ist denn bitteschön der Heilige Geist?

Was in der Volksfrömmigkeit geblieben ist, das ist der umgangssprachliche „liebe Gott“. Eine Entität außerhalb der erkennbaren Welt, die uns im Prinzip wohlgesonnen ist. Ein allmächtiger Gott, der die Güte selber ist. Der allgütig ist.

Übrigens diskutieren wir heutzutage zu Recht, warum Gott denn ein Mann ist. Darum formuliere ich den letzten Satz noch einmal:

Was in der Volksfrömmigkeit geblieben ist, das ist die umgangssprachliche „liebe Göttin“. Eine Entität außerhalb der erkennbaren Welt, die uns im Prinzip wohlgesonnen ist. Eine allmächtige Göttin, die die Güte selber ist. Die allgütig ist.

Ich verwende – aus Gründen – ab jetzt Gott, aber mit weiblichem Geschlecht, o.k.?

Und dann kam auf die Theologie eine wirklich große Frage zu. Die heißt in der theologischen Fachsprache: Die Theodizee. Das ist griechisch und heißt „Gerechtigkeit Gottes“.

Das ist die Frage, wie den ein göttliches Wesen allmächtig sein kann und trotzdem das Leid auf der Welt zulässt. Oder wie es allgütig sein kann und nichts gegen das Leid der Welt tut.

Das ist im Kern eine sehr frühe Frage vieler religiöser Vorstellungen. Und die wurde mit der Shoah in Europa noch einmal brandaktuell.

Denn vorher war eine Antwort: Vielleicht tut sie ja etwas und wir merken es nicht. Vielleicht entwickelt sich die Geschichte zu immer weniger Leid? Wenn wir nur ernsthaft das Lebensmodell befolgen, dass uns die Evangelien zeigen.

Und dann kam, mitten aus einem christlichen Land, ein unchristliches Regime und hat diese Art der Geschichtsdeutung für immer vernichtet.

Geschichte scheint kein Prozeß zu sein mit einem Ziel. Keine ständige Entwicklung zu höheren Idealen und zu besseren Menschen. Unter dem dünnen Lack der Zivilisation findet man immer noch die Höhlenmenschen von einst.

Es ist wirklich so: Nach der irrationalen Vernichtung von sechs Millionen Mitbürgern gibt es keine einfache Antwort auf die Theodizee.

Das ist übrigens auch der Punkt, warum mich bestimmte esoterische Sprüche so maßlos aufregen können. Sätze wie: „Jeder bekommt genau so viel Leid zugewiesen, wie er oder sie tragen kann.“ machen mich richtiggehend wütend!

Ich verstehe die vielleicht gute Absicht. Einem Leidenden zu sagen: Du bist dafür stark genug.
Aber es verleugnet halt auch die Wahrheit, dass es da draussen verdammt viele Menschen gibt, die ihr Leid eben nicht mehr tragen können. Jetzt, gerade jetzt. Suizidale, Depressive, anderweitig psychisch oder physisch Kranke. Das ist diesen Menschen gegenüber eine bodenlose Frechheit.

Und auch im Angesicht der Menschen, die auf den alten Fotos so stumm im Lastwagen stehen. Und ins Massenvernichtungslager gefahren werden. Dieses rosa Naturgesetz der Esoterik ist einfach nur eine unendliche Frechheit. Eine Wohlfühlreligion für die besser Situierten und Glücklichen.

Zurück aber zur Gerechtigkeit Gottes. Und auch meiner Suche nach einer Antwort auf die Theodizee. Die ist allerdings nicht besonders clever. Und vielleicht enttäuschend.

Gott ist nicht allmächtig. Sie ist ohnmächtig. Und die Tatsache, dass das Symbol des Christentums ein Mensch ist, der gerade einen Foltertod stirbt, ist nicht grausam, sondern weise.

Die traurige Antwort ist: Gott ist keine Allzweckwaffe gegen das Leiden. Der Glaube hilft nicht mit einfachen Antworten. Gott ist eben auch im Leiden. Sie ist da, selbst, wenn wir das nicht spüren.

Aber das ist natürlich nur meine persönliche Religiösität. Die noch dadurch verkompliziert wird, dass mein Gott keine Person ist. Und weder Frau noch Mann.

So. Jetzt die andere Seite der Medaille. Die Atheisten. Und, oft in einen Topf geworfen, zu einer nüchtern wissenschaftlichen Betrachtung der menschlichen Existenz.

Erklären wir also Gott für tot. Und erklären wir auch, dass wir sie nicht brauchen, um zu erklären, was ist. Das ist viel Erklären auf einmal. Aber das ist ja die Spezialität der Naturwissenschaft.

Da steht also der Mensch der Moderne und hat die Religion abgeschüttelt. Kein allmächtiger und allgütiger Gott, die uns sagt, wo es lang geht. Wir müssen den Weg also selber finden. Da ist nur ein kleines Problem…

Ein eher unbekanntes Problem. Nämlich die Anthropodizee. Das ist, das haben wir ja gelernt, die Frage nach der Gerechtigkeit. Und nun eben statt Gott vorneweg mit dem Menschen stattdessen draufgeklebt.

Die stellt sich nun aber ein bisschen anders. Denn natürlich ist der Mensch nicht allmächtig. Und natürlich ist er nicht allgütig. Trotzdem gilt: Das Leben ist voller Leiden und vieles davon ist sogar menschgemacht.

Jeder Mensch für sich, lebt, rein wissenschaftlich betrachtet, ein Leben voller Leiden. Und stirbt am Ende. Sinnlos. Ist dann weg. Puff. Vorbei. Geboren, ohne gefragt zu werden. Tot, ohne gefragt zu werden. Weg.

Auch die bittere Tatsache, dass es die Shaoh gegeben hat, müssen wir nun also zu 100% uns als Menschen anlasten. Wir Menschen müssen diese Sinnlosigkeit ertragen. Und die Massenmorde in Kambodscha, Ruanda oder im Kongo lassen nicht darauf schließen, dass wir da eine Lektion gelernt haben.

Wenn es keinen religiösen Sinn gibt, dass Menschen existieren, dann gibt es aber auch keinen Sinn, Menschen zu erzeugen.

Wir sind, wenn wir Kinder in die Welt setzen, nicht nur an derem persönlichen Leid und Tod schuldig – in vollem Umfang – sondern auch an dem von allen folgenden Generationen.

Wir erzeugen sonst selber ohne Grund das Leid. Wer sich fortpflanzt, ist höchstpersönlich die Quelle für Leiden und Tod. Kinderkriegen heißt Leid erzeugen. Denn leidende Menschen existieren nur, wenn sie geboren werden.

Je weniger Menschen es gibt, desto geringer ist in der Summe das menschliche Leid.
Das ist in sich ein vollkommen logischer Schluss. Da gibt es wenig daran zu rütteln, oder?

Das wäre, vereinfacht ausgedrückt, das humanistische Pendant zur Theodizee-Frage. Die sogenannte Anthropodizee-Frage.

Und bis jetzt ist uns der Atheismus die Antwort schuldig geblieben.

Ihr Unsterblichen, also ihr jungen Menschen ohne Krankheit und Leid und Tod im Leben, die ihr Atheisten und Agnostiker seid: Schön, dass ihr euch damit abgefunden habt, ein sinnfreies Leben zu führen. Ein Leben, das mit dem Tod einfach vorbei ist. Und auf dem Weg dahin für euch noch viel Leid bereit hat, wie ihr noch sehen werdet.

Aber warum sollte man so eine sinnlose Existenz anderen Wesen zumuten?
Wie eben den eigenen Kindern?

Und Arterhaltung als natürlicher Trieb reicht mir als Antwort nicht. Wenn ihr schon so evolutionsbiologisch daherkommt, dann unterlasst bitte Empfängnisverhütung! Dann gibt es nämlich auch keinen Grund, Lust und Reproduktion zu trennen. Ein Orgasmus ist eine schöne Sache, aber halt auch vollkommen sinnfrei.

Eine ehrliche Antwort auf die Frage der Anthropodizee gibt es bislang noch nicht. Ich habe bisher keine gehört, die ohne Metaphysik auskommt. Das ist die kleine, leise Schwester der Religiösität.

So eine Antwort müsste etwas aufzeigen, was das Leid und die Krankheit und den sinnlosen Tod aufwiegt. Irgendetwas muss so lebenswert sein, dass man seinen Kindern und deren Kindern es zumuten kann, grundlos zu leiden und sinnlos zu sterben.

Was kompensiert das Leid? Der „Spaß“? Nein, das glaube ich nicht. Lust und die Vermeidung von Schmerz stiften keinen Sinn. Dazu müssten wir schon die Erkennnis ausschalten können, dass wir am Ende einfach vergehen.

Das ganze Bewusstsein, der Verstand, die Ratio wären dann Folterinstrumente, denn sie würden uns beim Superkosmosorgasmus dauernd im Weg stehen. So wie auch die menschliche Gemeinschaft oder gegebenfalls der Mensch neben uns.

Was also sonst? Die Liebe? Da könnte man darüber diskutieren, wenn man will.

Allerdings… ist die selbstlose Liebe an und für sich eben auch ein Begriff der Metaphysik. Rein wissenschaftlich gesehen, existiert sie nicht. Höchstens als Nebeneffekt von Art- und Selbsterhaltung. Wir würden also folgerichtig nur dann selbstlos lieben, wenn es unsere Triebe befriedigt. Daran erkennt man den Widerspruch, oder?

Wenn man rein rationell nach Antwortensucht, endet man zwangsläufig bei einem leeren, kalten Weltraum. Bei einer grauen, endlosen Entropie.

Vielleicht ist ja von euch jemand strenger Atheist und findet eine Antwort. Ich bin sehr gespannt!

Ich persönlich habe kein Problem mit der Wissenschaft, weil ich ihr diese Fragen nicht stelle. Und weil meine Vorstellung von Gott nicht im geringsten im Widerspruch zu ihren Erkenntnissen steht.

Aber ich finde, wenn man jegliche Metaphysik ablehnt, dann muss man sich auch der Anthropodizee stellen. Und sich nicht irgendwie durchmogeln.


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 July 1, 2018  29m