Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Lob der Bürokratie


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Jurastudenten erzählen folgenden Witz: „Ein Mann geht mit seinem Hund spazieren. Inwiefern ist das rechtlich relevant?“ Und tatsächlich gibt es dazu ein gutes Dutzend an Regelungen, die der Gassigeher zu beachten hat. Ob er sie kennt oder nicht.

Das ist Bürokratie. Weil jeder schon Umstände mit den Behörden gehabt hat, ist sie ein Schimpfwort. Und über Beamte macht man schlechte Witze.

Doch „unbürokratisch“ bedeutet nicht lebensnah, sondern oft „missbräuchlich“. Denn die Bürokratie ist das Fundament unseres freien, demokratischen Zusammenlebens.

Zeit, der Bürokratie ein Loblied zu singen! Und unsere Beamten ganz dolle zu knuddeln! Erledigen wir heute für euch.

Download der Episode hier.
Musik: „Office Days“ von NYCO / CC BY-NC-SA 3.0

Skript zur Sendung

Warum haben Beamte eine Brille auf?
Damit sie sich beim Einschlafen nicht mit dem Bleistift in das Auge stechen.

Oder:

Fragt ein Beamter den anderen:
Wieso meckern die Leute eigentlich immerzu über uns, wir tun doch gar nichts?

Beamtenwitze sind eine eigene Gattung. So wie Deine-Mutter-Witze oder Blondinen-Witze oder die Witze, über eine bestimmte Volksgruppe. Bei uns gerne die Ostfriesen oder die Österreicher, in Österreich gerne die Schweizer, in der Schweiz gerne über die Berner, in Frankreich über die Burgunder, in England über die Schotten und in Schottland über die Engländer.

Beamten sind Ausgestossene! Wenn die auf einer Party angesprochen werden, was für einen Beruf sie haben, dann antwortet niemand stolz „Ich bin Beamter!“, sondern sagt eher kleinlaut „Ich bin auf der Behörde X für Y zuständig.“

Kapitel eins: Scheiss auf die Bürokratie!

Das liegt daran, dass die Bürokratie den Bürgern verhasst ist. Bürokratie ist ein Synonym für Zeitverschwendung. Weil alle Beamten faul sind, dauert mein Antrag halt drei Monate – Frechheit! Oder mein Ausweis vier Wochen. Oder meine Steuer-Rückzahlung gefühlt Jahre.

Und was das kostet, diese Bürokratie! 32 Milliarden Euro kostet das! Da müsste man den Rotstift ansetzen und einmal ordentlich durchgreifen! Da kann man sparen! Da kann man viel mehr sparen, als man dadurch gewinnen kann, uns armen Bürgern irgendwelche Steuern zu erhöhen!

Und was heißt Bürokratie überhaupt? Das heißt doch Herrschaft der Beamten! Wollen wir das? Warum wählen wir eigentlich eine Regierung, wenn dann in den Ministerien nur das Gesicht ausgetauscht wird, dass in die Kamera lächelt? Und alle Beamten bleiben eh‘ auf lebenszeit?

Bürokratie ist ein Schimpfwort. Dabei können wir wirklich heilfroh sein, dass wir Bürokratie haben. Die Herrschaft der Beamten ist nämlich das Beste, was uns passieren kann.

Denn ohne funktionierende Bürokratie herrscht Willkür. Das kann man deshalb so gut behaupten, weil das in verdammt vielen Staaten eben nachweislich so ist.

Viele Menschen wollen zum Beispiel nichts für Menschen in der dritten Welt spenden, weil das Geld ja die Betroffenen nie erreicht. Weil das ja alles irgendwo in dem korrupten Sumpf verschwindet.

Das liegt daran, dass in vielen dieser notleidenden Staaten die Bürokratie eben nicht funktioniert. Denn die notleidendsten Länder sind die ohne Bürokratie… aber mit Korruption.

Politiker können prima auf die Bürokratie schimpfen. Das ist natürlich eine der billigsten Methoden, Bürger auf die eigene Seite zu kriegen.

Man nehme irgendeine EU-Richtlinie und reite hämisch auf der ‚rum. Wie z.B. den Streit, wie krumm eine Gurke sein darf. Oder wieviel Salz der Bäcker in sein Brot machen darf, damit er es noch „gesund“ taufen darf.

Da lacht der Stammtisch dann herzlich darüber, wie doof die Beamten in Brüssel sind! Ist doch scheißegal, wie krumm eine Gurke ist! Und so ein Bäcker, der backt doch schon immer sein Brot! Muss man den deutschen Handwerkern jetzt bei jedem Handgriff reinfuschen?

Dann gehen diese Stammtischbürger angeheitert nach Hause. Um am nächsten Tag als erstes mal ihren freundlichen Nachbarn anzuzeigen, weil der seinen Rasen nicht ordnungsgemäß einmal die Woche mäht! Und außerdem schneidet der seine Hecke au ned gescheid! So!

Denn: Für Alles will der Spießbürger eine gesetzliche Regelung. Damit Alles seine Ordnung hat. Damit Alles fein geregelt ist. Damit man weiß, woran man ist. Das gibt Sicherheit und Beständigkeit in Allem einfach, fei…

Die Menschen, die die Bürokratie am meisten hassen, sind diejenigen, die in Wirklichkeit dauernd mehr Bürokratie fordern. Das ist wirklich das verhexte daran.

So oder so, Bürokratie hat eigentlich keine Chance. Und nie eine gehabt.
So oder so, Beamte können es den Bürgern nie recht machen. Und konntenes noch nie.

Kapitel zwei: Herr Spießwichtel

Dabei wird einem die Wichtigkeit der Bürokratie deutlich, wenn man sie einmal weglässt. Ein Gedankenspiel.

Herr Spießwichtel würde also aufwachen am Morgen. Mit grässlichen Zahnschmerzen. Aber zum Arzt kann er nicht gehen. Dann muss man selber zahlen. Krankenkassen sind überflüssige Bürokratie.

Hunger hat er. Aber das letzte Mal verlangte der Bäcker von ihm einen Euro für das Brötchen. Vom nächsten Kunden aber nur 10 Cent. Obwohl 25 Cent angeschrieben war. Aber was die anschreiben, ist ja nur ein Vorschlag. Tja, Pech. Da kann man nichts machen!

Darum kauft er fast nur noch online. Ob er überhaupt eine Internet-Verbindung hat, das obliegt dem Zufall. Der Provider schert sich einen Dreck um seine Straße, einen Vertrag gibt’s ja nicht.

Gestern hat es geklappt. Da hat er sich einen Pulli geklickt, den er dringend braucht. Wahrscheinlich klopft es deshalb gerade an der Tür.

Die Klingel ist nämlich kaputt, Elektriker gibt’s hier, weit draussen am Land nicht mehr. Die Stromversorgung ist so veraltet, da kann man nichts mehr reparieren. Tja, Pech. Da kann man nichts machen!

Es ist der Paketbote. Er will 20 Euro für das Päckchen, weil er keinen Sprit mehr hat. Und das, obwohl die Schachtel sichtlich beschädigt ist.

Aber Herr Spießwichtel braucht seinen Pulli. Denn heizen kann er nicht. Öl ist plötzlich verboten worden, Gas hat er nicht und Holz ist unerschwinglich.

Als er das Paket öffnet, ist darin nur Verpackungsmaterial. Kein Pulli. Schon wieder beschissen worden! Tja, Pech. Da kann man nichts machen!

Irgendwas muss er gegen seinen Zahnschmerz machen. Den hat er seit gestern. Der Nachbar hatte einen Schlägertrupp geschickt. Nur um klar zu machen, dass Herrn Spießwichtels Garage ab jetzt ihm gehört.

Dabei hatte er sich nicht einmal dagegen gewehrt. Denn er weiß ja, seit er diesen Brief bekommen hat, dass sein Haus eh‘ für die neue Autobahn abgerissen wird.

Entschädigung gibt es nicht. Der Staat enteignet, wen er will. Tja, Pech. Da kann man halt nichts machen!

Das klingt wie eine satirische Übertreibung. Das ist die Realität in vielen Staaten der Dritten Welt. Ohne Übertreibung. Keine Bürokratie bedeutet es herrscht Armut!

Kapitel drei: Sieg der Rationalität

Bürokratie ist in Wirklichkeit die „formal rationalste Form der Herrschaftsausübung“. Schreibt Max Weber, dessen Buch „Wirtschaft und Gesellschaft“ leider nicht wirklich viel gelesen wird.

Zitat: „Bürokratie ist die Ausübung von Geschäften nach allgemeinen Prinzipien, bei klar abgegrenzten Kompetenzen, mit dem Recht der Berufung oder Beschwerde an übergeordnete Instanzen.“

Es ist die Abwesenheit der Freiheit, die der Einzelne im System traditionaler, nicht-demokratischer Herrschaft erdulden muss. Es ist reine Willkür, die die sogenannte charismatische Herrschaftsform mit sich bringt. Also die Herrschaft von Autokraten, Königen, Tyrannen oder Diktatoren.

Bürokratie behandelt im Regelfall alle gleich und ist als Verwaltungsordnung neutral – das klappt nicht immer, aber hat in der Weise, noch nie besser geklappt als heute.

Bürokratische Vorschriften geben sichere und verlässliche Regelungen und dienen dadurch z. B. der Verhütung von Unfällen, Krankheiten und anderen Schäden.

Bürokratische Strukturen und Verfahren werden nicht sprunghaft verändert und sind daher stabil und verlässlich.

Bürokratische Entscheidungen werden abgewogen und durchdacht, sodass Voreiligkeit nicht zu falschen Entscheidungen führt.

Eine Demokratie kann nur durch eine funktionierende Bürokratie verwaltet werden.
Die Bürokratie schützt uns vor despotischer Willkür, Ungerechtigkeit und übelster Korruption!

Das große Plus der Bürokratie ist, dass sie durch Gesetze und Regeln gebunden ist. Eine Verwaltung darf nicht gegen Recht verstoßen. Und nicht ohne gesetzliche Grundlage in Rechte des Einzelnen eingreifen.

Das führt zur Normierung. Denn der Gesetzgeber will die Bürger in erster Linie gleich und gerecht behandeln.

Aber wir wissen mittlerweile auch, das Recht und Gerechtigkeit nicht das Gleiche ist. Recht haben und recht bekommen ihr wisst schon… mmmmhhhh.

Durch Normen lässt sich die Vielfalt des Lebens nicht angemessen erfassen.
Die Einzelfallgerechtigkeit leidet hier natürlich unter der Normierung.

Darum schafft ein Rechtsstaat bei jedem Gesetz mit der Zeit immer mehr Ausnahme- und Sonderregelungen. Um das staatliche Handeln zu regulieren, aber dennoch gerecht zu sein.

Die Menge an Vorschriften steigt also ständig und unvermeidlich.

Und das ist tatsächlich der Haken. Je länger eine demokratische Bürokratie existiert, desto komplexer wird das Regelwerk, dass die Bürger und der Staat miteinander schaffen. In dem Wunsch, jedem gerecht zu werden.

Es kommt praktisch zu einer Überbürokratisierung und die ist ein Problem. Denn sie verschafft demjenigen, der sich mit den ganzen Paragraphen, Absätzen, Abschnitten und Sonderregeln auskennt, einen Vorteil. Die eigenen Rechte wahrzunehmen wird für den Bürger immer schwieriger und unüberschaubarer.

Als IKEA jüngst in der Nähe von Pisa eine Filiale eröffnen wollte und 350 Arbeitsplätze schaffen, ging diese Idee einfach wegen der Bürokratie in die Hose. Die Schweden waren einfach nicht bereit, sechs Jahre auf eine Genehmigung zu warten. Sechs Jahre!

Kapitel vier: Europa

Und natürlich potenziert sich das in der EU. Die EU hat 28 Mitgliedsstaaten und 24 verschiedene Amtssprachen. Sie versucht die Gesetze dieser Staaten zu harmonisieren.

Aus einem einfachen Grund: Weil das gerechter ist.

Wenn wir europäischen Länder einander die Grenzen öffnen und miteinander wandeln und handeln und wohnen und leben, dann müssen wir das irgendwie regulieren.

Die meisten der Staaten Europas haben aber nun Bürokratien, die genauso alt sind wie die bundesdeutsche, viele sogar deutlich älter. Und jede dieser Strukturen verteidigt mit gutem Recht seinen Anspruch.

Denn jede dieser Bürokratien hat seine Regeln ja nicht willkürlich erdichtet. Sondern den Bedürfnissen der eigenen Bürger angepasst.

Und weil wir in Europa Demokraten sind, lösen wir das Problem, unsere Bürokratien zu harmonisieren, in dem wir miteinander reden. Und diskutieren. Und argumentieren.

Das kostet viel Zeit. Und für den einzelnen Bürger mögen bestimmte Verordnungen und Bestimmungen dann lächerlich aussehen. Aber sie sind das Produkt eines langen, demokratischen Prozesses. Brüssel herrscht nicht willkürlich.

Es will nur, dass die Bürger ganz im Norden, in Finnland, fast am Polarkreis genauso gerecht behandelt werden wie die in Sizilien, beinahe in Afrika. Oder im Westen Irland oder im Osten Rumänien.

Dieser Wunsch ist eine große Utopie und ein einmaliges Experiment. Und dieser Wunsch hat uns die bisher längste Friedenszeit in der Geschichte Europas beschert.

Bilanz

Einer der wichtigsten Gründe, warum wir in Europa in Frieden miteinander leben, ist die Bürokratie.

Einer der wichtigsten Gründe, dass wir uns sicher fühlen, ist die Bürokratie.

Der Grund für die meisten Regelungen und Normen, für Ausnahme- und Sonderfälle, ist die Absicht, den Einzelnen gerechter zu behandeln.

Eine Gesellschaft ohne Bürokratie ist die Herrschaft von Willkür und Ungerechtigkeit.

Aber: Es gibt das Problem der Überbürokratisierung. Doch in Wirklichkeit ist die EU nicht die Wurzel des Problems, sondern eher die Lösung.

Bürokratien wachsen mit der Zeit. In Friedenszeiten. Nach Kriegen fangen wir in Deutschland immer wieder mit tabula rasa an. Ab dann wird es wieder komplizierter und komplizierter.

Also sollten wir eigentlich dankbar sein, dass es jetzt so kompliziert ist.
Weil wir halt soo lange schon Frieden haben…

Ein Hoch also auf die Bürokratie! Es leben unsere Beamten!


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 June 4, 2018  25m