Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Cicada3301


Wenn man kleine Kinder hat und die nicht im Winter Geburtstag haben, dann ist eine Schnitzeljagd eine beliebte Methode von Eltern, ihr Wohnzimmermobiliar zu schonen.

Und was es außerhalb des Internets gibt, das gibt es meistens auch im Internet gespiegelt. Das gilt auch für das Konzept „Schnitzeljagd“.

Und eine richtig, richtig schwierige und sehr, sehr seltsame Schnitzeljagd fand 2012 ihren Anfang in einer eher schmuddeligen Ecke des Webs. Und ist, wenn man es genau nimmt, noch nicht zu Ende.

Haben Anders und Wunderlich die Lösung? (Nein. Aber ist trotzdem sehr spannend!)

Download der Sendung hier.
Link: „Liber Primus“: Ungelöste Seiten
Musik: „The Instar Emergence (761)“ von 3301 (2013)
Link: Theorien zum Larvenrätsel

Skript zur Sendung

Es gibt eine Art food chain für Memes im Internet. Ein Meme gilt offiziell als veraltet, wenn man es auf Facebook findet. Denn vorher war es wahrscheinlich durch Zweitverwerter gelaufen wie zum Beispiel 9Gag und noch vorher auf Seiten wie imgur.com oder gleich reddit.

Viele der bekanntesten und einflußreichsten Memes wurden aber ursprünglich auf 4Chan geboren. Das ist ein bekanntes Imageboard. Also eine Art Forum, in dem über Bilder diskutiert wird.

Aber das klingt jetzt zu sehr nach Teekränzchen. Auf 4Chan geht es ziemlich heftig zu. Im Subboard /b/ darf alles gepostet werden, was man sich nur denken kann. Damit die dort ansässigen /b/tards – so nennen sich die – darüber herziehen können.

Da findet sich Hardcore Porn und Gore und Gewalt, der sonst kaum Platz bietet. Die b/tards halten sich für eine Netzelite. Neuzugänge werden erst einmal monatelang verfolgt und beschimpft. Als Newfag – Neuschwuchtel.

Es herrscht ein absichtlich raues Klima, denn man versucht, unter sich zu bleiben. Das ist auch die Heimat von Anonymous, der Hackergruppe, die immer ‚mal wieder in der Öffentlichkeit auftaucht.

Und wenn sich Anonymous ein Ziel aussucht, dann verursacht das Probleme. Die zwingen schon einmal YouTube oder Google für einige Zeit in hektische Betriebsamkeit. An einem Tag verstecken sie plötzlich in allen YouTube-Videos Porno und einem anderen machen sie den HTML-Code für ein Hakenkreuz zum Google-Trend Nummer eins.

Sie sorgen dafür, dass online-Umfragen manipuliert werden, so dass auf einmal Kim Yong Un zum populärsten Mann der Welt gekürt wird. Oder sie stürzen sich auf ihren Lieblingsgegner, die Scientology Kirche, und drängeln die aus dem Internet.

Das ist also 4Chan. Und da startet unsere Geschichte. Die Geschichte der rätselhaftesten Schnitzeljagd des Internets. Denn auf 4chan wurde 2012 ein Bild gepostet. Schwarzer Hintergrund, weiße Schrift. Da stand zu lesen:

„Hallo. Wir suchen nach hochintelligenten Individuen.
Um sie zu finden, haben wir uns eine Prüfung ausgedacht.
In dieser Nachricht ist eine Botschaft verborgen.
Finde sie und sie führt Dich auf den Weg, uns zu finden.
Wir freuen uns schon, die wenigen zu treffen, die bis zum Schluss durchkommen.
Viel Glück, 3301“

Das ist schon einmal eine Ansage, oder? Wo kann sich aber in der Bilddatei eine Nachricht verbergen, die einem den Weg zeigt? Popeliger Zeichensatz – Arial – keine besondere Formatierung.

Aber man kann eine Bilddatei auch in manchen Textverarbeitungen öffnen. Und siehe da! Da verbarg sich doch in dem Pixelhaufen eine Nachricht. Da stand:
„VS CLAVDIVS CAESAR“ und „lxxt> 33m2mqkyv2gsq3q = w] O2ntk“

Findige Köpfe verstehen den Hinweis. Nach Cäsar ist eine angeblich von ihm erfundene Methode der Chiffrierung benannt. Dabei wird einfach das Alphabet verschoben. Und die ersten vier Buchstaben geben die Anleitung. Aus einem L wird ein T.

Dabei kommt dann eine URL ‚raus. Eine Webadresse. Und unter der Webadresse fand sich wieder eine Bilddatei. Dieses Mal mit dem Bild einer Holz-Ente. Und den folgenden Zeilen:

„Oops! Hier lang gib’ts nur Lockvögel! Schaut so aus, als könntest Du nicht raten, wie man die Nachricht herausbekommt.“ Looks like you can’t guess how to get the message out.

Wenn man nun wiederum dieses Bild in einer Textverarbeitung öffnet, findet sich folgender Text…
Nein, da findet sich kein Text.

Aber ein paar User erkannten den steganografischen Hinweis. Steganografie ist, sagt Wikipedia, die Kunst oder Wissenschaft der verborgenen Speicherung oder Übermittlung von Informationen in einem Trägermedium.

Und dafür gibt es spezielle Software. Zum Beispiel ein Programm namens OutGuess. Das wird wahrscheinlich gemeint sein, weil „out“ und „guess“ ja auch im Text vorkam. Mit OutGuess kann man Nachrichten in Bilddateien verstecken.

So wie bei der Holzente auch. In der verbarg sich folgende Nachricht:

Das ist ein Bücher-Code. Um das Buch zu finden gehe zu – und dann folgt eine Webadresse auf dem Forum Reddit. Der Code lautete:
1:20, 2:3, 3:5, 4:20, 5:5, 6:53, 7:1, 8:8, 9:2, 10:4, 11:8, 12:4, 13:13, 14:4, 15:8, 16:4, 17:5, 18:14, 19:7, 20:31, 21:12, 22:36, 23:2, 24:3, 25:5, 26:65, 27:5, 28:1, 29:2, 30:18, 31:32, 32:10, 33:3, 34:25, 35:10, 36:7, 37:20, 38:10, 39:32, 40:4, 41:40, 42:11, 43:9, 44:13, 45:6, 46:3, 47:5, 48:43, 49:17, 50:13, 51:4, 52:2, 53:18, 54:4, 55:6, 56:4, 57:24, 58:64, 59:5, 60:37, 61:60, 62:12, 63:6, 64:8, 65:5, 66:18, 67:45, 68:10, 69:2, 70:17, 71:9, 72:20, 73:2, 74:34, 75:13, 76:21
Viel Glück, 3301

Das erwähnte Unterforum auf Reddit enthiel viele Bilder. Eines davon hieß „Willkommen“ und das andere hieß „Probleme“.

In OutGuess geöffnet findet sich in „Willkommen“ folgende Nachricht:

Ab jetzt werden wir alle Nachrichten verschlüsseln.
Der Schlüssel findet sich auf den Schlüssel-Servern.
Wie in a2e7j6ic78h0j gepostet. Geduld ist eine Tugend.
Viel Glück, 3301

Und in „Probleme“ stand:

Der Schlüssel ist schon immer vor Deinen Augen gewesen.
Das ist nicht die Suche nach dem Heiligen Gral.
Mache es nicht schwieriger, als es ist.
Viel Glück, 3301

Der PGP-Schlüssel bedeutet, dass man damit sicherstellen konnte, dass die Nachrichten auch wirklich von Cicadia3301 sind und nicht von jemand anderes.

Das gesuchte Buch im Forum war „The Mabinogion“ von Lady Charlotte Guest. Arthus-Legenden. Wenn man den Buchcode anwendet, also Zeilenzahl und Zeichenzahl ankreuzt, dann bekommt man die Nachricht:

„Call us at us tele phone numBer two one four three nine oh nine six oh eight“

Das kann man natürlich leicht machen. Das krieg‘ ja sogar ich noch hin. Dort hörte man folgende Ansage:

„Gut gemacht! Das ursprüngliche JPG-Bild enthält drei Primzahlen. 3301 ist die erste. Multipliziert man alle drei und hängt an das Ergebnis „dot-com“ geht die Schnitzeljagd dort weiter.“

Innerhalb der nächsten Stunden wurden alle Kopien und Versionen des ursprünglichen Bilds durch eine neu hochgeladene Version ersetzt. Wer jetzt zum Rennen kam und die allererste Version der Nachricht nicht abgespeichert hatte, hatte verloren.

Kurze Pause.
Damals gab es auch einen Tag Pause, bis jemand die Lösung fand.

Und wir machen eine Pause, denn gleich wird es so kompliziert, dass ich’s nicht mehr erklären kann. Schauen wir einmal in die Runde:

Mittlerweile hatten sich schon eine beträchtliche Menge Freizeit-Detektive auf 4Chan, Reddit und in anderen Ecken des Netzes gesammelt. Man tauschte Informationen und Theorien aus.

Spannend war vor allem die Frage: Wer sucht da denn auf diese Art und Weise nach intelligente Leuten?

Die meisten gingen von einem Geheimdienst aus. Der MI6 oder die CIA. Der Mossad oder die NSA. Oder vielleicht Google, Apple oder Facebook?

Klingt lächerlich. Aber sowohl der britische Nachrichtendienst GCHQ als auch Google hatten mit solchen Rätseln schon Jahre zuvor tatsächlich nach Bewerben gesucht.

Aber die Komplexität dieses Rätsels erreichten die nicht. Und beide machten auch keinen Hehl, worum es bei der Sache ging. Anders als Cicada3301

Nehmen wir also die Jagd wieder auf. Die Lösung war gar nicht so schwierig, wie viele vermutet hatten. Die beiden anderen Primzahlen waren die Pixel-Längen des Originalbilds. 503 Pixel mal 509 Pixel mal 3301 macht dann: 845145127

Dann noch Dot und Com und schon landet man auf einer Website mit dem Bild einer Zikade. Cicada. Daher der Name, richtig vermutet.

Auf der Website lief ein Countdown. Als der dann abgelaufen war, erschien stattdessen ein neues Zikadenbild und Zahlenkolonnen. Die wurden dann sehr schnell als zwei Geokoordinaten erkannt.

Aber: Mit OutGuess geöffnet fanden sich im neuen Zikadenbild gleich noch 12 weitere Adressen.
14 Orte, auf dem Globus verteilt. Kanada, Hawai, Australien, Südkorea, Japan, Frankreich.

Das war für die Detektive ein kleiner Schock. Nicht nur, dass sie jetzt gezwungen wurden, ihren gemütlichen DX-Racer-Stuhl zu verlassen, nein – sie mussten zusammenarbeiten. Weltweit.

Das konnte schlecht das Werk eines einzelnen Internet-Trolls sein, der sich vor seinem Monitor etwas ausgedacht hatte, um andere zu ärgern. Das schien schon eine weltweit organisierte, geheime Gruppe zu sein. Oder?

Aber lassen wir das einmal beiseite. Wenn man die Orte aufsuchte, dann fanden die tapferen Schnitzeljäger vor Ort einen Zettel mit einer Zikade und einem QR-Code. Wenn man alle QR-Codes zusammenwarf, dann kamen am Ende wieder zwei verschlüsselte Nachrichten heraus.

Die eine war ein Hinweis darauf, dass die Zeit der Zusammenarbeit jetzt vorbei war. Man suche nur einige wenige schlaue Köpfe. Wer zu spät kommt, der hat Pech. Ach, und es gab ein Rätsel, das ein Buch beschrieb.

Die andere enthielt wieder einen Buchcode. Der führte zu einer Website im Thor-Netzwerk. Das, was wir in deutschen Medien gerne das Dark Web nennen.

Dort wurde noch einmal die Mahnung ausgesprochen, dass ab jetzt Geheimhaltung herrscht. Wer mit anderen zusammenarbeitet, der fliegt. Das müsse jetzt alles geheim bleiben.

Und mit diesem Schritt kam die heiße Jagd dann irgendwie zum Stehen. Punkt. Schluss.

Für einige hochintelligente Menschen ging die Jagd weiter. Und wir wissen nicht genau wie. Na ja, in Wirklichkeit wissen wir einen Schritt, der damals noch geheim war.

Aber für uns Laien war Ruhe.

Für einen ganzen Monat. Bis dann in Reddit eine Nachricht auftauchte. Mit dem Titel „Valete“.

Hallo!
Wir haben die intelligenten Menschen gefunden, die wir gesucht haben.
Also endet unsere ein-monatige gemeinsame Reise.
Für heute.
Danke für eure Hingabe und euer Engagement. Wenn Du den Test nicht abschließen konntest und noch keine Email bekommen hast, verzweifle nicht.
Es wird noch andere Gelegenheiten geben.
Danke an alle.
3301

Die Organisation, die hinter Cicada steckt, hatte wohl ihre Leute gefunden.
Aber wer war das, bitteschön? Was passierte am Ende der Suche? Wer hatte denn gewonnen?

Tja. Das erste Rennen ist jetzt schon sechs Jahre her. Aber auf diese Fragen gibt es immer noch keine Antworten.

Im nächsten Jahr läutete die Zikade auf jeden Fall eine zweite Runde ein. Ab der Runde drei starteten die Rätsel dann auf Twitter.

Die Runde vier, im Jahr 2016, verwies dann, wie auch Runde zwei und drei, am Ende auf das Liber Primus. Anscheindend hatte man nur 2012 Gewinner gefunden. Und die letzten Schnitzeljagden scheiterten anscheinden daran, dass eben dieses Buch nicht entziffert wurde.

Und so ist das auch heute noch. Das Liber Primus ist nicht ein unbekanntes Werk der literarischen Geschichte, sondern direkt von Cicada verfasst. In einer seltsamen Runenschrift.

17 Seiten sind bisher entschlüsselt, 56 nicht. Ich poste den Link auf der Webseite, ihr könnt euch das mit eigenen Augen ankucken.

Und so stehen wir vor der größten Schnitzeljagd in der Geschichte des Internets. Und den schwersten Rätseln, die wir da bisher inszeniert gesehen haben. Aber wir wissen immer noch: Genau nichts. Sechs Jahre später.

Natürlich finden sich auch heute noch genug Menschen, die sich für Kryptografie interessieren. Und auch ein Interesse an Cyberpunk oder Aleister Crowley oder Okkultismus oder Steganografie haben. Denn das sollte man schon mitbringen.

Natürlich wird immer noch heftig diskutiert und gerätselt, wer denn Cicada ist. Ist es wirklich eine riesige Organisation? Da bemerkt links jemand: Jaaaa, aber alle Zettel wurden nur im Umkreis von neunzig Minuten vom Flughafen aufgehängt. Da hätte auch ein einzelner einen Rundtrip buchen können, oder? Da antwortet rechts jemand: Im Umkreis von 90 Minuten um eine Großstadt liegt immer die ganze Großstadt, Du Arsch! Wie doof kann man sein?

Und natürlich sind auch die Illuminati, die Freimaurer, Bones & Skulls, die Rothschilds und selbst die Nazis im Gespräch, die irgendwo im Inneren der Erde das Dritte Reich aufrecht erhalten haben.

Ich persönlich habe keine Idee, wer Cicada ist. Ich glaube am ehesten, es ist eine Teilmenge von Anonymous, die begabte Kryptographen suchen.

Aber irgendwie ist Cicada auch eine tröstliche Geschichte, finde ich.
Man kann auch heute noch Geheimnisse haben, wenn man will. Das scheint mir die Botschaft.
Man kann sogar besser als jemals Geheimnisse haben – wenn man sich ein bisschen Mühe gibt.

Ich finde das eine positive Nachricht.


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 July 31, 2018  27m