Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Blinddarm auf Eis


Das, was in der heutigen Geschichte passiert, das hätte niemandem hier im morgenradio-Haus passieren können. Erstens mögen wir alle die Kälte nicht und die Antarktis kommt als Reiseziel nicht in Frage.

Zweitens hat keiner eine medizinische Ausbildung. Höchstens ein fortgeschrittenes Praktikum als Patient aller denkbaren Ärzte-Gattungen.

Und drittens haben nur noch 50% aller Mitarbeiter einen Blinddarm.

Alle diese drei Faktoren: Medizinstudium, Besitz eines Blinddarms und Antarktis müssen aber eintreffen, damit unsere Geschichte heute funktioniert
.
Tipp bei schwachen Nerven : Erst den Kaffee zu Ende trinken, dann hören!

Download der Sendung hier.
Musiktitel: „Die beste Stadt der Erde“ von Müslüm Maqomayev

Wegen der DSVGO ist uns eine eigene Kommentarfunktion zu zeitaufwändig.
Ihr könnt diesen Artikel unter diesem Facebook-Post oder diesem Tweet kommentieren.

Skript zur Sendung

FA: Hallo? Leonid? Hallo?
SFX: Rauschen
FA: Genosse Leonid! Kannst Du mich hören! Hallo! Melde Dich!
SFX: Rauschen
FA: (zu sich) Verdammter Mist… Scheiss-Anlage…
FA: (ins Off) Das brauchst Du nicht protokollieren, Genossin
FA: (zu sich) Das muss doch gehen! Hallo?
FA: Leonid! Hallo! Ist da noch wer?
SFX: Rauschen
FA: An die Nowolasarewskaja-Antarktisstation – hier ist Dr. Walentina Glinka! Antarktis, bitte meldet euch wieder!
SFX: Rauschen
HW: Walentina?
FA: Leonid? Leonid, bist Du’s wieder?
HW: Genossin Walentina! Hier Leonid Rogosov! Melde mich von der Nowolasarewskaja-Antarktisstation. Wie ist das Wetter bei euch?
FA: Leonid! Schön, wieder von Dir zu hören. Hier wird es langsam Frühling, kein Schnee mehr weit und breit! Und bei euch?
HW: Hier herrscht Winter. Aber ich bin mir sicher, dass die nächste Jahreszeit auch Winter ist. Weil die davor war ja auch Winter!
FA: Wie kalt ist es bei euch gerade?
HW: Gerade hat es minus 20 Grad Celsius, aber wir rechnen damit, dass es bis August immer noch kälter wird!
FA: Leonid, geht es euch gut da draussen?
HW: Ja, danke, Walentina! Mittlerweile sind alle wieder wohlauf und munter!
FA: Habt ihr keinen Lagerkoller?
HW: Na ja, wenn man 12 Menschen in einen Bungalow steckt, dann gibt es schon manchmal dicke Luft!
FA: Vor allem, wenn es 12 junge Männer sind.
HW: Ja. Manchmal wird es sehr trist, wenn uns Stürme wieder daheim festsetzen und keiner raus kann. Aber psychologisch passiert hier nichts, was nicht zu erwarten gewesen war.
FA: Ich habe Dir ja gesagt, dass das der ruhigste und entspannendste Job für einen Arzt ist, den man sich nur ausmalen kann. 12 junge Männer, alle strengstens auf ihre Gesundheit gecheckt, was soll da passieren außer Schnupfen und Husten?
HW: Da passiert schon das eine oder andere. Das könnt ihr euch daheim nicht ausmalen.
FA: Was ist den passiert?
HW: Wir hatten hier während der zwei Monate ohne Funkkontakt schon das eine oder andere Problem…
FA: Erzählen Sie, Genosse Leonid, wir schreiben mit.
FA: (ins Off) Ab jetzt wieder mit protokollieren, Genossin!
HW: Na ja, da ist ein gesundheitliches Problem, dass alle 12 Expeditionsteilnehmer betrifft.
FA: Das wäre, Genosse?
HW: Fusspilz. Alle 12 Mann haben Fußpilz.
FA: Das ist ihr Problem? Das ist alles?
HW: Na ja, es ist so, dass unser Desinfektionsmittel ausgeht…
FA: Ihr desinfiziert euch die Füße?
HW: Jeden Abend, Genossin Walentina! Wir sitzen in der Runde und desinfizieren.
FA: Womit desinfiziert ihr das denn?
HW: Alkohol.
FA: Bei Fußpilz?
HW: Ja, wir mussten auf Wodka zurückgreifen.
FA: Ihr schmiert Wodka auf den Fußpilz?
HW: Nein, ich habe eine interne Anwendung verschrieben!
FA: Was? Leonid – lass‘ den Unsinn! Wir protokollieren das alles mit!
HW: Gut! Ich bitte hiermit um Aufstockung unserer Wodka-Vorräte aus medizinischen Gründen!
FA: Sehr witzig. Aber lassen wir das einmal so im Protokoll. Ernstere Probleme gab es nicht?
HW: Doch, durchaus. Iwan hat sich beinahe einen Finger abgetrennt, als er versucht hat, eine der vereisten Türen mit einem Schraubenzieher zu öffnen.
FA: Aber Du hast den Finger retten können.
HW: Ja, aber die Beweglichkeit ist jetzt stark eingeschränkt.
FA: Sonst noch schockierende Meldungen aus der Antarktis?
HW: Zwei Meldungen hätte ich noch.
FA: Fahr‘ fort, Genosse!
HW: Alexejew hat sich ernsthaft den Knöchel verknackst. Ich habe ihm Eis verschrieben. Und deshalb vor die Tür geschickt…
FA: Leonid, lass‘ den Unsinn!
HW: Und wir hatten eine Blinddarm-Operation!
FA: Was? Das klingt schon eher nach einem Notfall. Wo hast Du denn da operiert?
HW: Wir haben ein Zimmer völlig leer geräumt bis auf ein Bett und zwei Nachttische und gründlich geschrubbt. Das war unser OP.
FA: Und wie hast Du die Narkose verabreicht? Ihr habt doch keinerlei stark wirksamen Anästhetika dabei!
HW: Wir haben Novocain. Eine örtliche Betäubung musste genügen. Ich wollte auch nicht, dass der Patient bewusstlos wird.
FA: Was? Warum denn nicht?
HW: Ich brauchte seine Mitarbeit.
FA: Wieso das denn?
HW: Ich hab‘ ja noch nie einen Blinddarm entfernt. Und ich hatte wirklich bleischwere Hände.
FA: Das kann ich mir vorstellen. Hat’s lange gedauert?
HW: Eine Stunde und 45 Minuten.
FA: Über Anderthalb Stunden? Mein Gott! War das ein Durchbruch?
HW: Fast, da war eine 2 mal 2 cm große Stelle, die stand kurz vor der Perforation. Aber das war nicht der Grund für die Dauer der Operation.
FA: War es, weil Du keine Helfer hattest?
HW: Doch, ich hatte tolle Helfer. Die waren zwar sehr blass, so viel Blut hatten die noch nie gesehen, aber sie sind bei der Stange geblieben. Wladislaw stand bereit, für den Fall, dass Aleksander bewusstlos wird. Aber der hat sich wacker geschlagen und den Spiegel gehalten, wie ich ihn gebraucht habe.
FA: Den Spiegel? Was hast Du denn da gemacht? Hast Du versucht, den Blinddarm durch den Mundraum zu entfernen, oder was?
HW: Nein, aber ohne Spiegel konnte ich nicht in den Bauchraum schauen.
FA: Warum das denn bitte?
HW: Weil ich doch im Bett lag beim Operieren.
FA: Warum bist Du denn im Bett gelegen?
HW: Damit das Narkosemittel mich nicht zu sehr betäubt und das Blut nicht überall hin fließt. Im Stehen wäre ich wahrscheinlich ohnmächtig geworden…
FA: Du hast Dir selber eine örtliche Narkose gegeben? Mein Gott, Leonid, habt ihr alle Hirnerfrierungen? Wenn hast Du den da operiert? Wie heißt denn der Arme?
HW: Der Patient hieß Leonid Rogosov, Genossin Walentina.
(Pause)
FA: Du hast Dich selber operiert?
HW: Ja, Walentina.
FA: Du hast Dir selber den Blinddarm entfernt?
HW: Jawohl.
FA: Mein Gott, wie hast Du das denn gemacht?
HW: Ich habe mich leicht aufgerichtet hingelegt, ein bisschen auf die linke Seite gedreht. Dann habe ich die Haut mit Novocain betäubt…
FA: Mit 0,5%gem Novocain? Hat das denn geklappt?
HW: Den Schnitt habe ich auf jeden Fall kaum gespürt. Später hat die Betäubung nachgelassen… Aber der Darm ist ja schmerzunempfindlich.
FA: Und dann? Wie hast Du denn den Blinddarm gefunden?
HW: Am Anfang hab‘ ich mich auf den Spiegel verlassen, denn Aleksander mir gehalten hat. Aber dabei habe ich mir erst einmal aus Versehen den aufsteigenden Dickdarm punktiert, das musste ich erst einmal nähen…
FA: Mein Gott! Und weiter?
HW: Das war wirklich sehr schwierig, weil ja alles speigelverkehrt war. Und nach einer halben Stunde wurden mir schon die Hände schwer. Ich dachte wirklich, jetzt hab‘ ich verschissen…
FA: (ins Off) Ersetze „verschissen“ mit „Probleme“, Genossin
HW: Denn es hätte ja sein können, dass ich mich noch an vielen anderen Stellen punktiert habe mit dem Skalpell, ohne es zu merken. Und ich sah ja so wenig durch den kleinen Spiegel!
FA: Wie bist Du dann vorgegangen?
HW: Dann habe ich halt den Darm entlang getastet, bis ich zum Blinddarm gekommen bin. Als ich ihn gefühlt habe, dann habe ich ihn halt einigermaßen rausgeholt und dann hat man schon gesehen, dass die Lage ernst war.
FA: Das kann man sich ja nicht in den düstersten Alpträumen ausmalen! Du Armer!
HW: Das war aber auch der Moment, wo ich nicht mehr konnte. Mir wurde schwarz vor Augen und mein Herz schlug nur noch unregelmäßig. Und da habe ich beschlossen, ich muss mich erst einmal ausruhen…
FA: Mit Deinem eigenen Blinddarm in der Hand?
HW: Ja, meinst Du, ich wollte nach meinem Nickerchen die Suche noch einmal von vorne anfangen?
FA: Du hast eine Nickerchen gemacht?
HW: Ja, nur eine halbe Stunde!
FA: Und Aleksander und Wladislaw?
HW: Die haben gewartet. Was sollten sie auch sonst tun?
FA: Und nach dem Nickerchen ging’s wieder?
HW: Danach ging es wieder besser. Ich habe den Blinddarm entfernt, die Wunde vernäht und mir den Bauchraum sicherheitshalber mit mehr Antibiotika gefüllt, als es vielleicht gebraucht hätte.
FA: Warum das denn?
HW: Na ja, für den Fall, dass ich mir wirklich irgendwo den Darm punktiert habe…
FA: Das macht medizinisch zum ersten Mal wenig Sinn, Leonid. Aber was DU da erzählst, ist unglaublich! Warum habt ihr nicht versucht, einen Arzt auf irgendeiner anderen Station zu erreichen?
HW: Aber das haben wir doch gemacht! Das haben wir doch versucht! Aber, Genossin, ich kann euch garantieren: Am 1. Mai 1961 war ich der einzige Arzt auf dem ganzen Kontinent Antarktis!
FA: Und Du bist eigentlich nicht einmal ein Chirurg!
HW: Aber fast! Ich schreibe an meiner Dissertation!
FA: Das war auf jeden Fall eine Meisterleistung! Wann war die Operation?
HW: Vor zwei Wochen.
FA: Und Du bist wieder voll dienstfähig?
HW: Ja, nach fünf Tagen war die Körpertemperatur wieder normal. Und sieben Tage nach dem Eingriff habe ich die Wundnaht am Bauch entfernt. Aber zwei Wochen Urlaub habe ich mir schon gegönnt.
FA: Um nichts zu tun.
HW: Genau. Nur daliegen und den Winterstürmen zuhören.
FA: Statt?
HW: Nur dasitzen und den Winterstürmen zu zuhören!
FA: (ins Off) Streiche den letzten Satz aus dem Protokoll, Genossin.
FA: Genosse Leonid Rogosov, was Du da geleistet hast, das ist eine Heldentat. Ich werde Dich für einen Rotbannerorden vorschlagen! Und diese heldenhafte Geschichte unseren Medien weiterleiten.
HW: Das wäre mir nicht so wichtig, wie…
FA: Deine Tat wird anderen zum Vorbild dienen. Das sowjetische Volk dankt Dir für Deinen Einsatz, Genosse!
HW: Genossin Walentina, das ist alles schön und gut, ich hätte aber noch eine Bitte!
FA: Ich höre, Genosse?
HW: Ich meinte das völlig ernst!
FA: Was meintest Du ernst!
HW: Das wir den Fußpilz mit Wodka behandeln. Vielleicht könnte uns Leningrad mit Nachschub versorgen?
FA: Ich werde versuchen, zu tun, was möglich ist. Lebewohl, Leonid! Leningrad, und aus.
HW: Nowolasarewskaja-Antarktisstation, mach’s gut Walentina! Und aus.
(Rauschen Ende)
FA: Schneidet sich der verrückte Mongole glatt selbst den Darm aus dem Bauch. Meine Fresse! Jetzt muss ich diesen Stinker glatt zu einem Helden der Sowjetunion machen! Leck mich doch am Arsch!
FA (ins Off): Das kommt natürlich nicht ins Protokoll, Genossin!


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 August 14, 2018  20m