Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Mark Strong & John Steel


„Über welches Geschenk hast Du Dich am meisten gefreut?“ So lautete die Anfrage bei Quora. Und die hat Herrn Wunderlich schwer ins Grübeln gebracht. Und zurück transportiert in eine Zeit, als er noch ein kleiner Junge war.

Mit den damals typischen Begehrlichkeiten, die einem so vom Werbefernsehen ins Ohr geflüstert wurden. Wie zum Beispiel dem Wunsch, eine Puppe zu haben.

Aber natürlich nicht die Barbie! Nein, für Jungs gab es spezielle Puppen! Die hießen „Action-Figuren“. Und trugen Namen wie „Mark Strong“ und „John Steel“. Echte Männer natürlich! Geheimagenten, mindestens!

Download der Sendung hier.
Musik: „Cold X-Mas Magick“ von Atlas. Aus „World Didgeridoo Vibes Volume 1“ / Community Audio

Skript zur Sendung

Eigentlich geht die Geschichte ganz anders los. Mit Quora. Das ist ein Frage-Beantworte-Forum. So wie „gutefrage.net“, bloß in besser. Weil es das erst seit einem Jahr in Deutsch gibt, ist es da noch sehr schön.

Noch haben das kaum Hohlbirnen und Trolle und Reichsbürger entdeckt. Man gewinnt da ein bisschen Glauben an das Internet zurück.

Da wird man, wenn man ein bisschen länger dabei ist, von anderen Menschen um die Beantwortung von Fragen gebeten. Wenn sie einen für kompetent genug für eine interessante Antwort halten.

Und unlängst erhielt ich die Frage: „Über welches Geschenk hast Du Dich am meisten gefreut?“

Da musste ich schon ein bisschen grübeln. Mein erster Impuls war es, etwas Weises abzusondern. So Meisterchen-mäßig. Für meine Kinder. Dafür in meinem Leben von zwei tollen Frauen geliebt zu werden. Für die Schönheit der Schöpfung. Für das Geschenk des Lebens. So Quatsch halt.

Aber dann habe ich wirklich länger gegrübelt und bin tief in meine Vergangenheit getaucht. Und da gab es tatsächlich ein Weihnachten, wo ich mich besonders toll über ein Geschenk gefreut habe. Und das war, glaube ich 1972.

Aber geben wir dem Ganzen ein bisschen Vorgeschichte. Mit der Kuckucksblumenstraße. Nummer eins.

Das ist eine Straße im Norden Münchens. Da entstanden Anfang der Siebziger zahlreiche Häuser für eine Stadt, deren Einwohnerzahl sich seit 1945 um 140% vergrößert hatte. Lauter Familien zogen dahin.

Unser Haus war eines der ersten. Und für mich war das der Eintritt in eine andere Welt. Ich wuchs die ersten Jahre als Einzelkind auf. Mein Vater hatte eine Firma gegründet und meine Mutter half mit. Es war viel zu arbeiten.

Ich hatte keine Spielkameraden in meiner Kindheit. Nur manchmal meine Cousinen, wenn ich bei der Schwester meiner Mutter geparkt wurde. Trotzdem kam ich auch nicht in den Kindergarten, warum weiß ich nicht. Aber so selbstverständlich wie heute war das in den Sechzigern nicht.

Die meiste Zeit war ich auf mich selber und meine Phantasie angewiesen. Ich hatte einen besten Freund, der hieß Jimmy. Der kam aus Afrika. Dort hatte er in einem Dorf gelebt. Alles war sehr einfach dort. Die Männer seines Stamms mussten noch jagen gehen.

Eines Tages wurden alle Erwachsenen von einem Tiger gefressen. Und Jimmy wäre sicher verhungert, hätte Tarzan ihn nicht in letzter Minute gefunden und auf dem Rücken von Tantor zur nächsten Mission gebracht.

Von dort kam er dann irgendwie nach Moosach, in die Meggendorfer Straße und wurde ganz speziell mein persönlicher bester Freund.

Meine Eltern machten sich immer ein bisschen über Jimmy lustig, muß ich gestehen. In einem ernsten Gespräch nahmen sie mich zur Seite. Sie hatten wohl Angst, dass ich geistig nicht ganz gesund bin.

Und sie drängten mich solange, bis ich dann unter Tränen zugeben musste, dass es Jimmy gar nicht gab. Dass ich mir den nur einbilden würde. Dass es ein „imaginärer Freund“ war.

Pfft! Die hatten ja gar keine Ahnung! Ab da beschlossen Jimmy und ich, nur noch heimlich miteinander zu spielen.

Dann zogen wir in die Kuckucksblumenstraße. Da war alles anders als in der Meggendorfer Straße. Denn da wohnten in jedem Haus auch Kinder. Und in meiner Erinnerung verbrachte ich die nächsten vier Jahre eigentlich ununterbrochen draussen mit den anderen Kindern.

Klar, da war noch die Grundschule, aber das sind alles keine tollen Erinnerungen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass das für mich oft eine unbeschreibliche Qual war, die Zeit in der Schule abzusitzen, bis ich danach wieder nach Hause durfte, etwas aß und – nachdem ich die Hausaufgaben hingeschludert hatte – wieder raus durfte.

Wo ich immer jemanden traf. In meiner Bande waren außer mir noch der Percy, der Toni, die Conny und dann noch jeder, der gerade Zeit hatte. Wir waren die ältesten Kinder und damit die Chefs der Kuckucksblumenstraße. Und auch der Hummelblumenstraße.

Unser Reich reichte bis vor zur Feldmochinger Straße und zum Blütenanger. Da kannten wir jeden Stein. Und jeden Busch. Dahinter war Terra incognita.

In diesem kleinen Reich, dass wir da dominierten, gab es auch Kinder, die nicht so richtig Anschluss fanden. Zum Beispiel der Jörg von gegenüber. Der war irgendwie… schwierig…

Klar durfte der mitspielen, aber manchmal war er einfach unberechenbar. Wir haben uns einen Sommer lang immer wieder Mutproben ausgedacht. Wie zum Beispiel zwischen zwei Pfosten freihändig durchradeln.

Aber wenn der Jörg dabei war, haben wir das lieber gelassen. Denn der machte jeden Scheiss. Egal, was wir uns ausdachten, egal wie eklig oder wie gefährlich, er machte das sofort.

Ein andernmal hatten wir einen Dreckhügel auf einer Baustelle zur Ritterburg erklärt. Und mussten nun abwechselnd diese Burg stürmen. Zur Verteidigung war es erlaubt, mit Dreck zu werfen. Mit möglichst viel Dreck, so dass die Angreifer hustend abziehen mussten.

„Dreck“ war dabei recht großzügig definiert. Hauptsächlich Erdklumpen, aber auch der Splitt und das Geröll, was da rumlag. Ganz sicher nicht abgedeckt waren dabei aber Ziegelsteine.

Hatten wir aber wohl nicht in den AGBs abgedruckt, weswegen eben Jörg einen auf eine Flugbahn beförderte, an deren anderem Ende meine Schädeldecke war. Die Platzwunde blutete wie Sau. Auf den 400 Metern nach Hause war ich einmal komplett durchgeblutet.

Sechs Stiche später war ich für ein paar Tage ein echter Held. Jörg hatte dann, glaube ich, richtig lange Stubenarrest. Was für uns damals übrigens kurz vor der Todesstrafe war.

In diesem Juni bekam Jörg zum Geburtstag aber ein Geschenk. Ein cooles Geschenk war etwas, das immer einen mächtigen Image-Gewinn bedeutete. Eine Zeitlang klingelten wir wieder öfters bei ihm, nur um so mal gaaanz unverbindlich zu fragen, ob er denn Zeit zum Spielen hat.

Und dann stellte sich – auch völlig zwanglos – die nächste Frage: Womit spielen wir denn jetzt?

Und danach folgte der Vorschlag: Vielleicht mit Deiner Mark-Strong-Action-Figur? Nur so eine Idee… Muss nicht sein… Aber wäre doch vielleicht ganz nett? Oder?

Mark Strong war eine Action-Figur von Mattel. Wie wir aus der Fernsehwerbung wussten. Der Mark Strong, des war fei so ein cooler Geheimagent, weisste? Der hatte Klamotten zum Wechseln. Die Figur kam nur mit so Turnschuhen und mit einer kurzen Sporthose. Und einem kleinen Holzbrett aus zwei Teilen.

Das konnte man zusammenstecken und dann konnte der Mark Strong das mit der Hand durchhauen! Weil am Rücken hatte er einen Knopf und wenn man den drückte, dann macht er einen Karate-Schlag. Und Karate war die Super-Geheim-Kampfkunst, die nur die voll coolen Helden konnten!

Und wenn man den rechten Arm anwinkelte, dann wölbte sich der Bizeps von dem Mark Strong. Weil der halt so strong war, schon klar, oder?

Der Jörg hatte dann noch einen Jogging-Anzug für den bekommen. Was ziemlich langweilig war. Stundenlang durchstöberten wir die Kataloge, um zu kucken, was es sonst noch gab. Da gabe es – jetzt halt Dich fest – einen Taucheranzug! Mit Flossen, Maske, Sauerstoff-Flasche!

Einen Taucheranzug! So wie bei Jaques Costeau im Fernsehen! Das war der Hammer! Das musste ich haben! Nicht zu glauben! Das wäre sooo cool! Obwohl. „Cool“ haben wir nicht gesagt. Und „geil“ schon gar nicht. Wir haben wohl „prima“ gesagt…

Tja. Meine Eltern waren nicht der Meinung, dass zwanzig Mark für eine Barbie-Puppe für Jungs die richtige Investition in die geistige Entwicklung ihrer Erstgeborenen waren. Das Spielzeug war ihnen zu martialisch. Zu „militaristisch“, was auch immer dieses komische Wort wohl bedeutete!

Der Percy und ich behalfen uns eine Zeitlang damit, dass wir aus Pappe und Draht selber Action-Figuren bauten. Die natürlich viel cooler waren als der blöde, mitiratistische Mark Strong. Schnell hatten wir jeder drei, vier verschiedene Puppen. Und taten unser Bestes, den Jörg neidisch zu machen.

Wir konnten ihn sogar zum Tauschen überreden. Aber der Deal hielt nur bis abends, als unsere Eltern das revidierten.

Meine Eltern waren so gemein! So fies! Ich glaubte, ich war gar nicht ihr Kind! Ich wurde an die verkauft, damit sie jemanden hatten zum Foltern! Das Leben hatte unter diesen Qualen keinen Sinn mehr! Ich musste unbedingt hier abhauen.

Dem Percy ging es ähnlich. Wir begannen einen Tunnel zu graben. Ich weiß nicht mehr warum, aber wir waren sicher, wir hätten den Eingang zu einem geheimen Bunker gefunden und arbeiteten mindestens drei Tage lang daran, die Fundamente von einem Haus auszugraben, dass den Krieg nicht überstanden hatte.

Mark Strong war dann irgendwann vergessen. Sechs Wochen Sommerferien machten sogar die Schule vergessen. Der Sommer war unendlich. In meiner Kindheit fuhren auch noch nicht alle in den Urlaub, so dass wir den ganzen Tag Zeit hatten zum Spielen!

Bis die Straßenlaternen angingen, so war die Vereinbarung mit unseren Eltern.

Doch auch ein endloser Sommer ging irgendwann zu Ende. Und auf den folgte wieder Schule. Bei mir wurden übrigens, bis auf zwei oder drei Ausnahmen, Zeit meines Lebens die Klassen neu zusammen gewürfelt.

Wir waren die geburtenstarken Jahrgänge und die Schulen völlig überfordert. In der Grundschule waren wir immer 42 Kinder pro Klasse.

Die ferienlose Zeit zwischen Sommer- und Weihnachtsferien war die schlimmste Schulzeit. Endlos! Drei Monate!

Doch Weihnachten kam auch 1972. Damals bekam man noch sehr viel Nützliches geschenkt. Ich musste mich brav über einen Schal von meiner Oma freuen und über einen kratzigen Rollkragenpullover von meinen Eltern.

Doch dieses Jahr bekam ich auch ein cooles Robin-Hood-Buch und dann waren da noch zwei ominöse Pakete. In dem ersten war ein Schlauchboot aus Plastik. Mit Rudern.

Und in dem zweiten war John Steel. Das war auch eine Action-Figur. Nicht von Mattel, sondern von Schildkröt. Gut sieben Zentimeter größer als Mark Strong. Mit echtem Haar. Und mehr Gelenken. Zum Beispiel mit Handgelenken.

Der konnte auch besser greifen als Mark Strong, der hatte weichere Hände.

Aber natürlich war es nicht Mark Strong. John Steel konnte nicht seinen Bizeps anspannen. Und er machte auch keinen Karate-Schlag, wenn man ihm auf den Rücken drückte.

Ich war also ein bisschen enttäuscht. Aber nur ein bisschen. Denn in Wirklichkeit freute ich mich so sehr, wie ich mich, glaube ich, seitdem nie mehr über ein Geschenk gefreut habe.

Als ich die Puppe und das Schlauchboot am Abend unter mein Bett schieben musste, um endlich zu schlafen, wartete ich geduldig, bis meine Eltern – nach laaanger Zeit – auch ins Bett gingen und das Licht im Gang aus war.

Dann schalte ich meines wieder ein und spielte mit John Steel, so lange ich nur durchhielt.

So. Jetzt ist es raus. Ich habe als Kind mit Puppen gespielt. Aber natürlich nicht mit Barbies oder mit Baby-Puppen. Für uns Jungs waren das natürlich Action-Figuren! Und die hießen natürlich „Mark Strong“ und „John Steel“!

Das „Action-Team“ übrigens von Schildkröt, das war in Wirklichkeit eine Reihe von Jungs-Puppen, die sich Hasbro ausgedacht hatte. Der amerikanische Name dafür war „G.I. Joe“. Und tatsächlich waren das Soldaten. In den Staaten. Bei uns waren es natürlich „nur“ Agenten.

Meine Mutter hatte da schon die richtige Nase gehabt, sich aber dann trotzdem, wegen der Anzahl an Gelenken, für den G.I. entschieden.

Mark Strong hieß dann bald genauso, wie er auch in den USA hieß. Nämlich Big Jim. Am Anfang gab es da noch rechtliche Problem mit dem Hersteller dieser Bobbycars.

Diese Puppen erfreuen sich bei Sammlern auch heute noch großer Beliebtheit. Wer will, kann sich auch in Deutschland viele Webseiten ankucken, wo Puppen und Zubehör aus den Siebzigern gehandelt werden.

Es gibt genug Männer meines Alters, die immer noch begeistert Big-Jim-Dioramen bauen.

Für mich war es, ganz ehrlich, ein sehr kurzes Spielvergnügen. Ich weiß nicht warum, aber mir viel nicht soviel Phantasievolles ein, was man mit dem Stück Plastik machen konnte.

Ich weiß noch, dass ich einmal versucht habe, ein Batman-Kostüm für John Steel zu basteln. Ein Desaster! Ich erinnere mich auch, dass John Steel ein lausiger Fallschirmspringer war. Und das er irgendwie den Flammentod gefunden hat…

Aber das war zu einer Zeit, als ich ja schon länger das Batman-Auto wollte, das der Percy hatte. Mit einem kleinen Batman und einem kleinen Robin zum Rausnehmen! Wie cool war das denn?


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 July 29, 2018  28m