Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Corday beichtet doch


Die französische Revolution hat den Anfang vom Ende des Adels eingeläutet und zum ersten Mal unveräußerliche Menschenrechte gefordert. Allerdings sind die ersten Jahre auch äußerst blutig. Und ziemlich unübersichtlich dazu.

Wenn man sagt: „Die Revolution frißt ihre Kinder“, dann verwendet man ein Zitat, dass in dieser Zeit gemünzt wurde.

Eine der Heldenfiguren, die wir vor allem von einem berühmten Bild kennen, war für viele Sozialisten dabei Jean Paul Marat. Auf dem Bild sehen wir ihn tot in seiner Badewanne.

In unserer heutigen Geschichte besuchen wir aber seine Mörderin. Die Corday, wie sie sich selber nannte. Die keine Beichte ablegen will, weil sie sich ja nicht versündigt hat!

Download der Sendung hier.
Musiktitel: „Ça Ira“ – Revolutionslied

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Skript zur Sendung

HW: Darf ich eintreten, Madame?
FA: Ach, nein! Ein Pfaffe! Meinen die Herren Jakobiner, ich möchte eine Beichte ablegen?
HW: Jawohl, Madame Corday d’Armont, das ist wohl der Gedanke.

FA: Und mit wem habe ich die Ehre?
HW: Ich bin Abbé Guillaume, Gnädigste.
FA: Ein Prediger?
HW: Nein, in keinster Weise! Predigen ist mir schon lange fremd. Aber der Titel ist mir hängen geblieben.

FA: Das ist für viele zur Zeit das Problem, dass so ein Titel hängen bleiben. Das kann durchaus schon reichen, um den Kopf zu verlieren.
HW: Da kann ich Ihnen nur recht geben, Madame. Es sind blutige Zeiten.
FA: Sie sind kein Anhänger der Revolution, nehme ich an.

HW: Weil ich als Kleriker dem ersten Stand angehöre, meinen Sie? Aber, Madame, Sie sind doch selbst blauen Blutes?
FA: Abbé, wenn Sie mir ins Gesicht schauen – was sehen Sie da?
HW: Ich bin kein Arzt, Madame. Ich würde sagen, Sie wurden geschlagen. Zahlreiche Hämatome und Schürfwunden. Eine große Platzwunde auf Scheitelhöhe.

FA: Da hat mich der Stuhl erwischt. Ich war schon fast wieder draussen aus dem Haus des Hetzers, da hat jemand mir einen Stuhl über den Kopf gezogen…
HW: Laurent Bas hieß der Mann. Er läßt sich seit Tagen als Held feiern.
FA: Ach? Weil er eine Frau niedergeschlagen hat! Von hinten! Sehr heldenhaft!

HW: Wie schon gesagt: Blutige Zeiten!
FA: Blutige Zeiten. Welche Farbe hat der Schorf auf meinen Wunden, kleiner Abbé?
HW: Dunkelrot, Madame.

FA: Und keineswegs blau. Stimmt’s? Ich bin die Tochter eines so verarmten Landadeligen, dass die meisten Bürger in Paris die Nase rümpfen, wenn Sie von meiner Herkunft hören.
HW: Madame ist also der Revolution positiv gegenüber eingestellt?

FA: Das war ich. Das war ich wohl. Bevor dieser Marat und seine Henker die Herrschaft an sich gerissen haben! Der nannte sich wie seine Zeitschrift, wußten Sie das? Er liess sich tatsächlich mit „Freund des Volks“ anreden! Wußten Sie das?
HW: Nein, Madame, das wusste ich nicht. Ist das der Grund für Ihre Tat?

FA: Moment. Ganz langsam! Wollen Sie mir hier durch die Hintertür die letzte Beichte abnehmen?
HW: Gewiss nicht, Madam, gewiss nicht! Wenn Ihr nicht beichten wollen, dann werde ich Euch nicht zwingen, den Frieden mit Gott zu machen!

FA: Den Frieden mit Gott! Im Ernst! Stellt Ihr euch das wirklich so vor, Abbé? Ich beichte jetzt hier vor euren Ohren und dann schickt mich der Allmächtige nicht in die Hölle?

Wißt ihr was, Pfaffe? Ich habe überhaupt nichts zu beichten!
Ich habe keine Sünde begangen!
Ich habe das französische Volk von seinem Unterdrücker befreit!
Jetzt werden die Bürger endlich diese Jakobinerbrut aus dem Amt jagen und sich auf die eigentlichen Ideale der Revolution berufen!

HW: Madame, glaubt Ihr wirklich, dass es das ist, was da draussen geschieht?
FA: Das glaube ich. Natürlich!
HW: Was hören Ihr von hier so an Geräuschen außerhalb des Prison de l’Abbaye? Hört sich das nach einer zweiten Revolution an?

FA: Kleiner Mönch, was glauben Sie, was ich hier den ganzen Tag tue? Ich sitze hier und höre, mehr kann ich nicht machen. Es ist mir nicht einmal erlaubt, ein Buch zu lesen.

Die Konterrevolution wird nicht in Paris ihren Ursprung haben. Die Pariser sitzen schon lange daheim und zittern vor Angst. Aber in der Provinz, da wo ich herstamme, da hasst man die Jakobiner. Dort wird der Tod des Oberteufels ein Feuer entfachen!

Ich, Marie Anne Charlotte Corday d’Armont, eine junge Frau aus Caen, habe der Hydra den Kopf abgeschlagen!

HW: Das ist… eine passendere Allegorie, als Ihr vielleicht annehmt…
FA: Was soll das heißen, Abbé?
HW: Die Hydra, Madame, war ein Wesen mit vielen Köpfen. So auch die Revolution. Schlägt mir ihr einen Kopf ab, dann wachsen sofort zwei nach.

FA: Was? Ach, was soll’s? Warum schicken mir die Unterdrücker eigentlich einen erbärmlichen kleinen, dicken Mönch, der statt aus der Heiligen Schrift aus der griechischen Mythologie predigt? Ist das, um mich zu quälen? Werdet ihr recht gut bezahlt, Judas?

HW: Im Gegenteil, Schwester. Und Ihr habt recht. Ich bin wirklich nur ein kleiner, dicker Mönch. Obwohl ich mich selber lieber als stämmig bezeichnen würde. Und predigen tu‘ ich schon lange nicht mehr. Ich bin für die Einkäufe des Klosters zuständig.
Meine Statur ist dieser Profession geschuldet. Wenigstens rede ich mir das ein.

FA: Für mehr war ich also den Jakobinern nicht gut? Hat man euch gezwungen, mir die Beichte abzunehmen?
HW: Oh nein. Ich habe mich freiwillig gemeldet.
FA: Oho! Warum das denn?

HW: Wenn ich ehrlich sein darf, dann einfach, weil sich sonst niemand dazu bereit erklärte.
FA: Was? In eurem Orden sitzen lauter rechtgläubige Jakobiner und keiner wollte etwas mit der Mörderin ihres Helden Marat zu tun haben?

HW: Oh nein! Die meisten hätten Euch sicher gerne diesen Dienst erwiesen, glaube ich. Aber es geht das wahrscheinlich nicht unberechtigte Gerücht, dass die Revolutionäre nichts vom Beichtgeheimnis halten.
FA: Verstehe. Das klingt wahrscheinlich.
HW: Vielmehr wurde schon so mancher Beichtvater gefoltert, bevor er die heiligen Beichten seiner Schafe preisgab.

FA: Oh.

(Pause)

FA: Aber… Das hat euch nicht abgehalten?

HW: Das hat mich beinahe abgehalten, Madame. Ich bin kein starker Mann. Und körperliche Schmerzen sind mir ein Gräuel. Die ganze Nacht lag ich wach und habe mir ausgemalt, wie die Folterknechte was genau bei mir veranstalten mögen…

FA: Das… Tut mir leid… Aber ihr habt euch trotzdem gemeldet?
HW: Ja, Madame. Aber erst, als ich mir ganz sicher war, dass sich nicht jemand Frömmeres vor mir meldet.
FA: Hat aber keiner.

HW: Nein, Madame, keiner.

(Pause)

FA: Abbé, Sie glauben nicht, dass ich das Richtige getan habe, oder?
HW: Oh. Das kann ich nicht beurteilen, Madame. Ich glaube nur, dass Ihr euch mit dem, was ihr mit dieser Tat erreicht habt, sehr verschätzt habt…

FA: Glauben Sie, dass ich in die Hölle komme?
HW: Glaubt Ihr, dass es eine Hölle gibt?
FA: Sie nicht?
HW: Nein, ich nicht!

FA: Wie? Keine Hölle? Dann kommen alle ins Paradies?
HW: Ich halte das wie der Kirchenvater Origenes, Madame. Wenn Gott seine Schöpfung liebt, dann verdammt er sie nicht. Gott ist die Liebe. Das Vergeben.

FA: Das ist widersinnig! Wenn es keine Hölle gibt, dann werden die Monster und Teufel da draussen ja niemals gerecht bestraft!
HW: Sicher nicht in dem Sinne, wie es Euch vorschwebt, Gnädigste.

FA: Dann sitze ich an der Tafel des Herrn und Jean-Paul Marat, mit meinem Messer noch in der Brust, reicht mir das Brot und wir lachen alle über das Geschehene?
HW: Madame, ich mache mir tunlichst keine Vorstellungen über ein Leben nach dem Tode. Ich denke nicht, dass wir in der Lage sind, uns etwas so Übernatürliches vorzustellen. Und ich denke, die Gerechtigkeit Gottes geht ganz andere Wege, als wir uns das ausmalen können.

FA: Ich bin mir nicht sicher, ob euer Origenes mir gefällt, Abbé. Aber ich verstehe, dass ihr nicht mehr predigen solltet…
HW: Da habt Ihr den Nagel auf den Kopf getroffen, Schwester!

(Pause)

FA: Und ihr habt recht mit der Gerechtigkeit, Pater. Wir können wahrscheinlich nicht gerecht handeln…

(Pause)

FA: Oder?
HW: Hast Du gerecht gehandelt, Corday?

FA: Ich weiß es nicht. Ich habe getan, was ich tun musste. Keiner wollte auf mich hören. Keiner wollte hören, was die kleine, dumme, junge Landadelige zu sagen hat. Keiner.

(Pause)

FA: Und dann habe ich meine Börse genommen und bin in die Arkaden gelaufen. Eigentlich wusste ich nicht genau, was ich da tat. Aber dann hatte ich schon dieses riesige Küchenmesser gekauft. 40 Sous.

FA: Darauf bin ich zu seinem Haus. In der Rue des Cordeliers. Ich habe seiner Hetäre gesagt, ich wüßte die Namen von Girondisten in Caen, die eine Revolte planen. Aber sie wies mich ab. Marat wäre unpässlich!

FA: Auch beim zweiten Mal wollte sie mich nicht einlassen. Erst als ich abends, halb acht war es wohl, ein drittes Mal gekommen bin, da habe ich mich einfach an der Magd vorbei ins Haus geschoben. Da saßen seine Sklaven und falteten sein Hetzblatt! Großer Aufruhr! Geschrei!

FA: Dann hat er von oben gerufen. Was denn da los sei, wollte er wissen. Wer denn da sei, wollte er wissen. Und dann hat er mich zu sich gerufen.

FA: Dann bin ich in den ersten Stock und da lag er. In seiner Badewanne. Ein Brett darüber und Papier und Feder und Tinte. Sein Körper war über und über voll mit… ich weiß nicht, was das war…
Mit Geschwüren, mit Schwellungen, mit Ausschlag, mit lauter kleinen Beulen…

FA: Pater, vielleicht hat der Herr ihn schon mit dieser Krankheit geschlagen? Vielleicht muss sich der Mörder den ganzen Tag kratzen an seiner entzündeten Haut, weil er ein schlechtes Gewissen hat? Vielleicht leidet er tägliche Höllenqualen und ich habe ihn befreit?

(Pause)

FA: Er lag in seinem lauwarmen Kräuterbad. Die Brust mit einem Tuch bedeckt. Ein anderes Tuch um den Kopf gewickelt. Wie eine Kröte in ihrem Teich.

Und wie selbstherrlich er war! Und wie gönnerhaft! Und wie er mir in den Ausschnitt gespäht hat, der geile Bock!

FA: Ich weiß nicht mehr, was wir geredet haben. Bei jedem Satz, den ich sagte, stellte ich mir vor, wie ich im das Messer in die Brust rammen würde. Das habe ich dann auch gemacht. Mitten ins Herz! Bis an den Anschlag!

(Pause)

FA: Mit was für großen Augen er mich anschaute! Mit was für einem Schrecken! Er blickte nur kurz auf den Griff des Messers und dann starrte er mich wieder an! Wie er mich anstarrte! Gar nicht wie ein Teufel! Gar nicht wie der Henker von Paris! Gar nicht wie jemand, der absichtlich die grausamsten Todesurteile erließ!

(Pause)

HW: Sondern? Wie sah er aus?

FA: Er sah aus… wie ein kleiner Junge… wie ein verängstigter kleiner Junge… wie ein Kind, dass nicht weiß, was ihm widerfährt…

(Pause)

HW: Meine liebe Schwester, leider darf ich nicht mehr lange bleiben. Ich verstehe Deine Reue. Und ich verstehe, dass Du nicht bereust. Mein Gott wird Dir trotzdem vergeben.

FA: Das ist eine schöne Vorstellung, Pater. Aber ich weiß nicht, ob ich das glauben kann.

HW: Du möchtest wahrscheinlich jetzt nicht beten, oder?
FA: Nein, Abbé… Wie war noch einmal euer Name?

HW: Guillaume, Madame. Nennt mich einfach Guillaume.
FA: Guillaume…

HW: Nun muss ich gehen, Corday!
FA: Nun werden sie Dich foltern, Guillaume.

HW: Und Du kommst morgen unter die Guillotine.
FA: Ich weiß.
HW: Möge der Herr unseren Seelen gnädig sein, Corday.

(Pause)

FA: Noch etwas, Abbé…

HW: Ja?
FA: Was sind der Hydra für Köpfe gewachsen?
HW: Das wollt ihr nicht wirklich wissen…
FA: Doch! Ich bin niemand, den man noch schonen müsste, oder?

HW: Schwester, ihr habt kein Monster erschlagen. Ihr habt einen Messias geboren. Robespierre macht aus Marat den Heiland der Revolution.
FA: Das glaubt ihr doch selber nicht!

HW: Es wurde bereits beschlossen, alle Kruzifixe aus den öffentlichen Gebäuden zu verbannen und mit Bildern und Büsten von Marat zu ersetzen.
FA: Das ist ein Scherz!
HW: Ich befürchte nicht.

FA: Also habe ich das Gegenteil von dem erreicht, was ich erreichen wollte?
HW: Das kann keiner sagen. Ein Pendel muss erst vollkommen in die eine Richtung ausschlagen, bevor es seinen Weg zurück in die Mitte wieder antreten kann…

FA: Und Du meinst, dass ich das Pendel angeschubst habe?
HW: Das wäre durchaus denkbar.

FA: Guillaume, verurteilst Du, was ich gemacht habe?

HW: Ich kann sicher kein Urteil fällen, Schwester. Aber ich finde es falsch, Dich hinzurichten. Sehr falsch. Unchristlich.
FA: Danke!

HW: Und ich finde es falsch, dass Du Marat hingerichtet hast. Das Pendel wird erst umkehren, wenn das Morden endet!

(Pause)

HW: Aber das sind nur die wirren Vorstellungen eines kleinen, dicken Mönchs.

FA: (lacht) Der sein Bäuchlein nur vor sich herträgt, weil er seinen Beruf so ernst nimmt!

HW: Du sagst es, Schwester!

(Pause)

FA: Abbé? Ich habe keine Beichte abgelegt, Abbé. Ich habe die Beichte verweigert. Das werde ich sagen, Guillaume. Wenn Du das auch sagst, dann werden sie Dich nicht foltern.

HW: So wird das dann in den Geschichtsbüchern stehen, meine Liebe.

FA: Das macht überhaupt nichts.

HW: Danke… Schwester. Der Herr segne Dich!


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 August 13, 2018  26m