Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Lächle, Dänemark!


Patricks Geschichte ist die einer verzweifelten Textnachricht auf seinem Smartphone, die auf einmal weite Kreise zieht. Weil er über ein Problem spricht, dass viele haben, aber über das man nicht spricht: Über Einsamkeit!

Sein Bericht ist aber keine Erfolgsstory, wie sie gerne im Internet weitergereicht werden, sondern eine Achterbahnfahrt der Gefühle.

Download der Sendung hier.
Patricks Profil auf Facebook.
Musiktitel: „Caged“ von Lucidy

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(Nur für Unterstützer)

Die Geschichte zum Lesen

Hi! Mein Name ist Patrick. Patrick Lichtenstein-Cakirli. Ich bin Botschafter der dänischen Volksbewegung gegen Einsamkeit. Und das bin ich wegen einer einzigen verzweifelten Kurznachricht, die ich auf Jodel geschrieben habe. Es war eine Achterbahnfahrt, kann ich euch sagen!

Kennt ihr Jodel? Nicht? Komisch, dabei stammt die App aus Deutschland. Im Prinzip schreibt man bei Jodel anonym eine Nachricht, die nur von anderen Nutzern gesehen werden kann, die in einem Umkreis von 10 Kilometern sind. Die können so eine Nachricht dann positiv oder negativ bewerten. Kennt ihr nicht? Na ja, ist mehr für Studenten. Aber angeblich haben die schon über eine Million Nutzer.

Aber vielleicht sollte ich erst einmal mehr über meine Person sagen, oder? Ich bin also Patrick, ich bin 29 Jahre alt. Ich habe die eine Hälfte meiner Kindheit in Waisenhäusern verbracht und die andere bei einer Pflegefamilie.

Meine Kindheit war voller Angst und Niederlagen, voller Unsicherheit und Gewaltausbrüchen. Darum habe ich wirklich nicht viel Selbstbewusstsein und habe das Gefühl nirgends so richtig hinzugehören. Oder hinzupassen.

Ein Haufen Gepäck also auf meinem Buckel und ich bin mein ganzes Leben als Erwachsener nicht so richtig erfolgreich darin gewesen, das mit mir herumzutragen. Die psychischen Probleme, die die Kindheits-Traumata auslösten, bekomme ich nicht immer richtig in den Griff.

Ich habe bisher noch nicht eine Ausbildung richtig abgeschlossen oder irgendeinen Job länger als ein paar Monate durchgehalten. Das ist mir sehr.. Also, da schäme ich mich dafür.

Die Achterbahnfahrt, die fing ungefähr im September 2016 an. Ich hatte niemals richtig viele Freunde, aber es wurden noch weniger, als ich mit meiner Freundin zusammenkam, das war so um 2010 herum. Wir waren sehr aufeinander fixiert.

Na ja, sechs Jahre später kam heraus, dass sie mich schon einige Zeit betrogen hat und dann hat sie mich auch tatsächlich verlassen. Das hat meine ganze Welt erschüttert und ich war wirklich fertig. Als ich die ersten Suizid-Gedanken hatte, wurde ich in die Psychiatrie eingewiesen.

Die haben sich eine Woche sehr intensiv um mich gekümmert, das schon. Aber es war halt nur eine Woche und dann war ich wieder raus. Und stand wieder da, völlig ohne Familie und jetzt auch noch ohne Freunde. Ich war tierisch einsam.

Also stand ich mitten in der Stadt und ich schrieb diese Kurznachricht. Ich schrieb einfach: „Ich suche verzweifelt neue Freunde. Ich bin einsam und die Zeiten sind für gerade ziemlich hart. Ich sitze auf den Treppenstufen zum Rathaus von 14.00 bis 20.00 Uhr. Ich habe schwarze Hosen an und einen North-Face-Rucksack.“

Das war alles. Der Anfang der Achterbahnfahrt. Ach, ein Herzchen-Emoji war noch am Ende. Aber das war, glaube ich, nicht so wichtig. Oder?

Eine verzweifelte Tat eines verzweifelten Menschen. Etwas, das so ehrlich war, wie man halt in Dänemark normalerweise nicht ist. Keiner sagt doch gerne: „Ich bin einsam und verzweifelt“, oder? Nun, ich glaube, das ist genau unser Problem.

Aber weiter mit der Achterbahnfahrt: Ihr werdet es nicht glauben, diese Nachricht erhielt innerhalb weniger Stunden über 1000 positive Bewertungen und an diesem Tag kamen 13 echte Menschen aus Fleisch und Blut, um meine Freunde zu werden!

Ich habe das überhaupt nicht für möglich gehalten und musste dauernd mit meinen Tränen kämpfen. Wir gingen dann alle miteinander noch etwas essen. Es stellte sich heraus, dass es den meisten oft im Leben auch so erging wie mir. Das manchmal die Einsamkeit unerträglich wird.

Diese Mitteilung und die Fotos von diesem ersten kleinen Wunder verbreiteten sich in meiner Heimatstadt wie ein Lauffeuer. Am nächsten Morgen bekam ich an aller Früh einen Anruf vom größten, lokalen Radiosender; danach meldete sich das Fernsehen und viele verschiedene Zeitungen. Auf einmal wollten alle mit mir reden.

Aber ich sagte natürlich erst einmal alles ab. Das, was ich euch ganz am Anfang der Sendung erzählt habe, das konnte ich damals noch nicht so offen aussprechen. Scham, Einsamkeit, Depression, Psychiatrie, schlimme Kindheit: Das sind die Sachen, die einem den Beruf und das Leben ganz schön verbauen können.

Die Absagerei schien aber auch nicht das Richtige zu sein, als ich so darüber nachdachte. Jemand von der Zeitung hatte erwähnt, dass viele Dänen über Einsamkeit klagen. Und ich googelte das: Über 200.000 Dänen klagen darüber, langfristig einsam zu sein. Ohne Beziehungen, die irgendeine wesentliche Tiefe hätten. 200.000 von 5 Millionen haben niemanden, mit dem sie über Freud und Leid reden können.

Und mit der plötzlichen Popularität, die ich hatte, könnte ich vielleicht etwas ändern. Ich gründete eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Lächle, Dänemark“. Eine Ecke von Facebook, wo man Unterstützung bekam, wenn man sagte, dass man einsam ist. Und wo man andere Menschen kennenlernen konnte, denen es auch so geht.

Eine Gruppe, wo wir gemeinsam etwas dagegen machten, dass Einsamkeit kein Tabu bleibt. Wo es Applaus dafür gibt, wenn sich jemand traut, zu schreiben, wie es ihm oder ihr geht.

Jede Woche lud ich die neuen Mitglieder zu mir nach Hause ein. Egal, ob wir ‚was kochten oder etwas spielten oder einfach spontan eine Party feierten. Ich lud neue Mitglieder ein, auch wenn ich sie nicht kannte.

Es dauerte vier Monate, bis die Gruppe über 10.000 Mitglieder hatte. Und alles, was dort geschah, war mir wertvoll und wichtig. Ich nahm das so ernst, dass ich meine Ausbildung zum Web Developer abbrach, um mich dieser Aufgabe Vollzeit zu widmen.

Facebook alleine reicht mir nicht. Wir mussten auch Menschen außerhalb des Internets erreichen. Menschen, die zu alt oder zu jung für Facebook waren, oder es einfach nicht kannten oder mochten. Darum startete ich im April den „Marsch gegen die Einsamkeit“.

Ich wollte von Kopenhagen nach Aarhus zu Fuß gehen. Und ich hatte mir Regeln gegeben: Ich würde nur etwas essen, wenn ich eingeladen wurde. Und nur dort übernachten, wohin ich eingeladen wurde. Und noch mehr: Wenn ich alleine war, ohne Begleitung, dann würde ich einfach stehen bleiben.

Diese Regeln sollten eine Demonstration sein. Eine Demo dafür, wie wichtig wir Menschen füreinander sind. Ich war bereit, mich komplett neuen, fremden Menschen auszuliefern. Und ich hatte wirklich eine Heidenangst, dass das nicht klappen würde.

Das ich irgendwo auf halber Strecke alleine im Regen stehen bleiben musste und einfach keiner kommen würde, um mit mir weiterzulaufen. Wow, das wäre eine persönliche Pleite, die sich kaum noch überbieten ließe, oder?

Über 70 Menschen aber begleiteten mich, ernährten mich und brachten mich unter, die ganze Strecke lang musste ich nur zwei Mal kurz stehen bleiben! 300 Kilometer mobile Menschenkette!

Aber ich hatte ja gesagt, das hier ist eine Achterbahnfahrt, erinnert ihr euch? Das hier ist nicht etwas, was irgendwann in einem Motivations-Video auf YouTube endet. Mit happy Musik im Hintergrund. Das hier ist mein Leben.

Dieser erste Erfolg mit dem ersten Marsch machte mich ein bisschen zu größenwahnsinnig. Ich verkündete im dänischen Fernsehen, dass ich im Dezember sozusagen einen weltweiten Marsch gegen die Einsamkeit machen würde. Von Dänemark nach China. 20.000 Kilometer!

Dafür würde ich die Administration der Gruppe aufgeben müssen – das konnte ich von unterwegs nicht stemmen. Aber es fand sich einfach kein Nachfolger. Diejenigen, die das machen wollten, waren dazu nicht wirklich in der Lage – war ja schließlich ein unbezahlter Vollzeitjob. Und diejenigen, die dazu in der Lage waren, wollten nicht.

Diese Sorgen kosteten mich den Nachtschlaf und ich teilte sie eines Abends auf Imgur. Ich hoffte auf Tipps oder Anregungen, aber zu meinem Schreck ging auch dieses Ventilieren viral! Auf einmal kamen die Anfragen von der BBC und vom Daily Mirror, vom Business Insider und von allen möglichen internationalen Sendern.

Das wurde natürlich zu viel und ich erlitt einen kompletten Nervenzusammenbruch. Ich übergab „Lächle, Dänemark“ an jemanden, den ich kaum kannte und zog mich fünf Monate zurück in meine selbst gewählte Einsamkeit. Ich, der Marschierer gegen die Einsamkeit, isolierte sich freiwillig! Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben!

Das klingt jetzt völlig logisch, oder? Ein Mensch mit sozialen Phobien, Ängsten und Depression landet im Brennpunkt der Scheinwerfer und braucht halt einfach wieder eine kleine Auszeit. Eine Pause. Kann man verstehen.

Alle da draußen mit den gleichen Problemen wissen natürlich, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Sondern eine Rechtfertigung, die sich meine Depression ausgedacht hat, um mich wieder in den Griff zu bekommen.

Klar, ich habe diese fünf Monate durchaus benutzt, um die letzten zwei Jahre Revue passieren zu lassen. Und zu lernen, wo ich Fehler gemacht habe. Wo ich mir zu viel vorgenommen hatte. Wo ich den falschen Leuten auf den Leim gegangen bin. Wo die Medien mich ausgenutzt haben.

Aber in Wirklichkeit brauchte ich wieder Hilfe. Und die suchte ich dann auch. Momentan bin ich wieder in Behandlung und bekomme Medikamente gegen meine Depression.

Ich habe gelernt, dass man nicht von heute auf morgen von jemandem, der Hilfe braucht zu jemand werden kann, der Hilfe leistet. Man muss zuerst auf sich selber aufpassen. Ihr wisst schon, wie im Flugzeug. Erst anderen mit der Sauerstoffmaske helfen, wenn man die eigene anhat.

„Lächle, Dänemark“ oder „Smilet Danmark“, wie es auf Dänisch heißt, gibt es nicht mehr. Und ich werde auch keine neue Gruppe anfangen. Die Verantwortung für 10.000 einsame Menschen ist zu viel für einen einsamen Menschen.

Aber ich werde im April wieder marschieren gegen die Einsamkeit. Mit denselben Regeln. Dieses Mal wird es von Kopenhagen nach Aalborg gehen. Das sind 200 Kilometer mehr als bei meinem ersten Marsch.

Ich glaube, das kann ich schaffen. Das wird die längste Strecke, die ich jemals gelaufen bin. Und ich werde genau darauf achten, wie gut mein Körper und meine Seele mitkommen auf diesen Marsch.

Und dann, wer weiß, vielleicht kann ich ja meinen Traum doch noch wahr werden lassen? Vielleicht gehe ich es doch noch einmal an und breche auf nach China. Das wäre toll. Aber eines nach dem anderen.

Vielleicht wird ja auch zuerst mein anderer Traum wahr und ich beende einmal eine Berufsausbildung. Das wäre auch toll.

Soviel zu meiner Achterbahnfahrt. Wenn ihr Fragen habt oder Kontakt aufnehmen wollt, auf der Homepage ist der Link zu meinem Profil auf Facebook!

Das war’s!


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 February 3, 2019  26m