Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0403: Demografischer Wandel


Ach, ich hab’s ja so gut. In 16 Jahren gehe ich in Rente und dann müssen die Studenten von heute meine Rente zahlen. Es sei denn, der demografische Wandel führt zu den katastrophalen Auswirkungen, die alle prophezeien. Aber so wird es nicht kommen, weil die Überalterung unserer Gesellschaft kein Problem ist. Sondern nur ein manipulativer Trick mit Statistik.

Download der Episode hier.
Closer: „Statler & Waldorf“ von ,
Musik: „Old (2008)“ von CROSSCUT SAW / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Einst interessierte sich die Politik ja eigentlich einen Dreck für Demografie. Vier Jahre Legislaturperiode, das war so der geistige Horizont. Klar hätte man sehen können, dass es Mitte der Achtziger geburtenstarke Jahrgänge gab. Und gleichzeitig eine ganze Lehrergeneration in Ruhestand ging. Stattdessen war man sechs Jahre später plötzlich völlig überrascht, dass man Klassen mit über 40 Kindern hatte und keine Ausbildungsplätze. So war das früher.

Aber jetzt ist der demografische Wandel seit ca. 2000 in aller Munde. Jeder singt das gleiche Lied: Deutschland wird immer älter. Wir haben zu wenig Nachwuchs. Keine Kinder. Die dann in die Rentenkasse einzahlen könnten, wenn die wirklich geburtenstarken Jahrgänge 1963, 1964 und 1965 in Rente gehen. Dann kollabiert unser Sozialsystem, da sind sich alle einig.

Das hat uns damals die SPD-Regierung beigebracht. Die Agenda 2010 war notwendig geworden, weil die Politik die Überalterung der Gesellschaft verschlafen hat. Jetzt muss umgebaut werden, jetzt muss das Sozialsystem „umgebaut“ werden! Weg mit Arbeitslosengeld. Und weg mit der Rentenversicherung, stattdessen rürupt und riestert ihr ab jetzt! Wegen des demografischen Wandels.

Und alle haben mit gepanikt. Jede Zeitung hat dazu Artikel gebracht und Frank Schirrmacher hat sich gleich einen Bestseller daraus gebastelt. Den „Methusalem-Komplott“. Jetzt hat jeder diese Lektion gelernt und jeder glaubt fest daran, dass alte Menschen eine Belastung für die Gesellschaft sind. Ein Problem. Ein demografisches Problem.

Da darf sogar die dpa so Dinge in die Welt pusten wie die Meldung „Kein Staat in Europa hat weniger Nachwuchs wie die Deutschen.“ Eine Behauptung, die zu widerlegen ungefähr 2 Minuten Google braucht. Von den 25 europäischen Staaten sind wir auf Platz 15. Diese Falschmeldung geistert aber immer noch durch das Internet. Und da freut sich die rechte Bagagge so richtig dran.

Die statistische Grundlage für diese Überalterungstheorie ist die sogenannte „10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung“ des statistischen Bundesamtes. Die reicht bis in das Jahr 2050. Der verdanken wir die ganze Panik und das Abreißen unserer sozialen Systeme. Scheibchen für Scheibchen für Scheibchen.

Dabei ist es ein haarsträubender Irrsinn, Statistiken 50 Jahre in die Zukunft zu projizieren. Das hat noch nie geklappt. Und kann auch nicht klappen. Stellt euch vor, jemand hätte das 1900 gemacht. Der hätte für seine Prognose gleich zwei Riesenkatastrophen in Europa einbeziehen müssen, nämlich zwei Weltkriege. Aber auch, wenn man das 1950 gemacht hätte, wäre das genauso in die Hosen gegangen. Wirtschaftswunder, Gastarbeiter, Kalter Krieg, die Anti-Baby-Pille, die Wiedervereinigung – das hätte man alles berechnen müssen.

Eine Prognose, wie Deutschland im Jahre 2050 aussieht, ist nicht Statistik, das ist nur eines: Kristallkugel-Seherei. Das ist für Statistiker eine Schande, wenn ihr mich fragt. Das darf man sich ‘mal anschauen, aber nicht zur Grundlage von Politik machen.

Klar ist es wichtig, auf Demografie zu achten. Der Fachkräftemangel von heute kommt daher, dass wir in den 90ern Hunderttausende von jungen Menschen nicht ausbilden konnten, siehe oben. Weil die geburtenstarken Jahrgänge der Achtziger ja so eine Überraschung waren.

Aber, was alle nicht berücksichtigen, seit hundert Jahren nicht, ist die Tatsache, dass wir immer und immer effizienter arbeiten. Schon im Jahre 1900 unkten Politiker von der „Überalterung des deutschen Volkskörpers“. Und Adenauer drohte wegen der geringen Geburtenrate nach dem Krieg in den Fünfzigern mit dem „Aussterben“ des deutschen Volks. Passt jetzt gut zum Programm der AfD.

Dieser Prozess, dass die Gesellschaft im Durchschnitt immer älter wird, den gibt es in allen Industriestaaten seit über 100 Jahren. Und das ist eine gute Sache, keine schlechte. Denn das liegt daran, dass wir länger leben und nicht mehr aus Angst so viele Kinder gebären. Sortiert man die Länder der Erde nach dem Durchschnittsalter, sieht man eines deutlich: Je jünger ein Land im Durchschnitt, desto ärmer. Desto mehr Kriege und Konflikte. Je älter der Durchschnittsbürger ist, desto wohlhabender ist das Land.

1900 also war die Überalterung schon ein Problem. Angeblich. Was ist seitdem passiert? Wir haben soziale Systeme aufgebaut, arbeiten immer weniger und wurden dabei immer wohlhabender und gebildeter. Noch 1960 gab’ die Rente mit 70. Bei 60 Stunden durchschnittlicher Wochenarbeitszeit. Es ist in einer Tour besser geworden. Während wir in einer Tour durchschnittlich älter wurden.

Das liegt daran, weil wir seit 1900 ununterbrochen die Produktivität gesteigert haben. Seit 2000 jedes Jahr um mehr als 1% pro Arbeitstunde. Und das macht über die Jahre viel aus. Die Produktivität fängt die Kosten der Überalterung kinderleicht auf.

Warum aber das Gelüge? Das liegt daran, dass die sozialen Systeme wirklich bedroht sind. Aber nicht, weil wir älter werden. Das ist ja schon im Kern Unsinn. Kinder und Jugendliche kosten den Staat ein Vielfaches von Rentnern. Ein Hochschulabschluss kostet uns alle, als Staat, ca. 250.000 € Die Durchschnittsrente liegt gerade bei 1167 € – könnt ihr euch ja selber ausrechnen.

Die sozialen System sind bedroht durch die Politik – egal welcher Couleur. Und durch die Arbeitgeber. Und durch die Versicherungen. Die Politik hat die Rentenkassen sehr schnell zu plündern begonnen. Statt die Rentenzahlungen zu sammeln und anzulegen – Solidaritätsprinzip – ist das Geld schon längst ausgegeben. Und nicht nur für dieses Jahr, sondern auch für zukünftige.

Die sozialen System sind bedroht durch die Arbeitslosenzahlen. Die in Wirklichkeit mieser aussehen, als das schön gerechnete Statistiken glauben machen. Angeblich haben wir nur 2.7 Mio Arbeitslose. Aber wir haben über 5 Mio Menschen, die Arbeit suchen. Und keine kriegen.

Diese Menschen durch eine wirklich marktgerechte Weiter- oder Fortbildung wieder zu einem Einkommen zu bringen wäre das kostengünstigste Konjunkturprogramm überhaupt. Denn die würden echt gerne konsumieren. Das zahlt sich doppelt aus.

Die sozialen Systeme sind bedroht durch die Arbeitgeber. Denn vom ganzen Wachstum der letzten Jahre landet nichts mehr bei den Arbeitnehmern. Und die Gewerkschaften nehmen das hin, weil sie auch an das Märchen vom demografischen Wandel glauben. Die haben Hartz IV glatt mit durchgewinkt. Aus lauter Angst. Ach, und noch ‘was: Arbeitslosigkeit ist den Arbeitgebern wurst. Im Gegenteil: Vollbeschäftigung wäre denen ein Horror.

Die sozialen Systeme sind bedroht durch die Versicherungen. Die sind schon lange sauer, dass die 25 Milliarden Euro Rentengelder Jahr für Jahr an ihnen vorbeigehen. Aber dank der Agenda 2010 ist das ja nun nicht mehr so! Hurra! Wir dürfen freiwillig Riestern und Rürupen. D.h. das Geld endlich den privaten Versicherern geben. Und die freuen sich auch. Denn nachdem das erst so kurz läuft, können sie die Kohle einsammeln. Ohne Gegenleistung.

Wenn es dazu kommt, dass die privaten Versicherer Riesterrenten auszahlen müssen, dann werden sie entweder kollabieren. Oder aber es kommt ein neues Gesetz. Denn natürlich heben die Versicherer die Kohle auch nicht auf. Sondern zocken mit eurem Riestergeld an der Börse.

In Wirklichkeit ist der demografische Wandel ein unethisch konstruiertes Schreckgespenst. Eine Schimäre der Statistik. Die nur dem Zweck dient, dass die neoliberalen Kräfte unseren Sozialstaat aushöhlen können. Und eigentlich auch die Demokratie. Denn durch die jahrelange Umverteilung von unten nach oben ist der politische Handlungsraum echt eng geworden.

Statt eine solidarische Gemeinschaft von Menschen zwischen Geburt und Tod zu sein – wie Sozialstaat ja gedacht ist – werden wir gegeneinander in Stellung gebracht. Das ist in hohem Maße unmoralisch.

Habt keine Angst vor der Überalterung. Es gibt keinen Methusalem-Komplott. Nur einen neoliberalen. Und der muss aufhören. Denn der ist die eigentliche Katastrophe.


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 March 15, 2016  13m