Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0399: Gandhis Briefe an Hitler


Richard Attenboroughs Film hat weltweit ein sehr positives Bild von Mahatma Gandhi zementiert. Auch der Weg des gewaltlosen Widerstands ist für demokratischen Protest etabliert. Aber stimmt das alles so? Ein Blick auf zwei Briefe Gandhis an Hitler. Und auf ein paar Äußerungen aus dieser Zeit.

Download der Episode hier.
Beide Briefe in einem Artikel bei Beachcomb: The Gandhi-Hitler Letters
Closer: „UHF (11/12) Movie CLIP – Gandhi II (1989) HD“ von Movieclips
Musik: „What Gandhi Said“ von The Dada Weatherman / CC BY-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Ich habe es ja schon ein paar Mal erzählt. Von meiner Jugend in der Friedensbewegung. Etwas, was mittlerweile auch Geschichte ist. Und vielleicht an anderer Stelle eine Sendung wert. Wie das so war, gegen den Nato-Doppelbeschluss zu demonstrieren. Oder sich von Heiner Geissler erklären zu lassen, dass es der Pazifismus der Weimarer Republik war, der am Dritten Reich schuld war.

Eine Ikone und ein Vorbild für uns alle war dabei Mahatma Gandhi. Denn der Widerstand gegen die weitere Hochrüstung im Kalten Krieg, der sollte gewaltlos sein. So wie bei Gandhi eben. Der so die Briten aus Indien vertrieb und die Unabhängigkeit erkämpfte.

Wenn man damals darüber diskutiert hat, kam unweigerlich, früher oder später ein Verweis auf Hitler. Klar, Gewaltlosigkeit sei schön und gut, wirkt auch bei zivilisierten Gegnern. Aber bei Hitler hätte das niemals etwas geholfen.

Das habe ich damals natürlich von der Hand gewiesen. Die sogenannte Reductio ad Hitlerum ist ja meist auch die Stelle in einer Diskussion, wo man die Rationalität verlässt. Eigentlich braucht man dann gar nicht mehr weiterreden.

Aber man lernt ja auch dazu. Und ich bin mir da heute nicht so sicher. Weder bei dem Bild, dass wir von Gandhi haben. Noch darüber, ob das vielleicht doch ein valides Argument war. Das kann man sehr schön bebildern anhand der Briefe, die Gandhi an Hitler geschrieben hat. Denn da gibt es zwei.

Der erste ist aus dem Jahr 1939, ein paar Wochen vor Kriegsbeginn. Er beginnt mit den Worten: „Lieber Freund!“ Tatsächlich hatte Gandhi Hitler nie kennengelernt. Anders als den Duce, für den er durchaus, anfangs, Respekt aufbrachte. Aber weder Mussolini noch Hitler hatten bislang ihr wahres Gesicht gezeigt. Noch waren die größten Verbrechen nicht verübt.

Er fährt fort: „Bekannte haben mich gedrängt, Sie im Namen der Menschlichkeit anzuschreiben. Lange bin ich dieser Bitte nicht nachgekommen, weil ich glaubte, ein Brief von mir könnte als anmaßend empfunden werden.“

„Offenbar sind Sie unter allen Menschen allein in der Lage, einen Krieg zu verhindern, der die Menschheit in den Zustand der Barbarei zurückwerfen würde. Müssen Sie unbedingt diesen Preis für Ihr Ziel bezahlen, und wenn es Ihnen noch so erstrebenswert erscheint? Wollen Sie nicht auf einen Menschen hören, der nicht ohne beachtlichen Erfolg die Methode des Krieges immer abgelehnt hat? Sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben, bitte ich Sie um Verzeihung für dieses Schreiben.“

Um dieses Schreiben in einen Kontext zu stellen, muss man einige Fakten dazu erzählen. Gandhi befand sich in seinem Kampf gegen die britische Herrschaft über Indien. Er war wohl hin- und hergerissen. Wenn die Briten sich mit den Nazis beschäftigen, dürfte das die Situation in Indien entschärfen.

Hitler selber hielt die Inder, allesamt, für Untermenschen und hatte der britischen Delegation 1938 in München noch Unterstürzung angeboten in der Unterdrückung des Aufstands. Man müsse erst Gandhi töten, dann die gesamte Führungsriege. Und dann täglich 200 Aufständische, dann würde sich das schon erledigen mit diesem Widerstand.

Im Juli 1940 schreibt Gandhi einen offenen Brief an alle Briten. Der Krieg tobt schon. Und es schaut nicht besonders gut aus für die Briten.

„Ladet einfach Herrn Hitler und Signor Mussolini ein, sich von euren Ländern zu nehmen, was sie wollen. Lasst Ihnen eure wunderschöne Insel mit den wunderschönen Gebäuden. Gebt ihnen als das, aber weder eure Seelen, noch euren Geist. Wenn diese Gentlemen eure Häuser besetzen wollen, dann verlasst sie. Wenn sie euch keine freie Fluchtweg lassen, dann erlaubt euch – Männer, Frauen und Kinder – geschlachtet zu werden. Aber ohne ihnen Gefolgschaft zu leisten.“

Am 23. Dezember desselben Jahres schreibt er noch einmal Hitler. Der praktisch Alleinherrscher in Kontinentaleuropa ist. Frankreich ist geschlagen, mit Russland hat man einen Nicht-Angriffspakt und Amerika ist noch nicht in den Krieg eingetreten. Schaut richtig schlecht aus für die Briten.

Er beginnt wieder mit „Lieber Freund“ und erklärt das auch. Er habe keine Feinde. Weiters: „Wir zweifeln nicht an Ihrer Tapferkeit, Ihrer Hingabe an Ihr Vaterland, noch glauben wir, dass Sie das Monster sind, als das ihre Gegner sie beschreiben.“ Wenn überhaupt, so meint Gandhi, dann unterscheiden sich die Methoden der Briten und der Deutschen nur graduell. Sein Gegner, das Britische Imperium hätte auch mit Gewalt ein Fünftel der Welt unter seine Stiefel gebracht.

Wieder empfiehlt er dem GröFaz die Gewaltlosigkeit als Methode. Im Krieg, so meint Gandhi, wird auf Dauer der besser Organisierte gewinnen, der mit den besseren Ressourcen. Aber niemand wird dadurch von der Position des anderen überzeugt. Bei einem gewaltlosen Weg aber gäbe es kein Verlieren. Briten und Deutsche sollten doch ein internationales, neutrales Schiedsgericht einsetzen und sich dessen Urteil unterwerfen.

So sein Vorschlag. Mag man jetzt für naiv halten.

Vielleicht war Gandhi durchaus klar, dass das niemals Gehör finden würde. Vielleicht war ihm auch klar, dass dieser Brief – wie der davor – niemals Hitler erreichen würde, weil ihn die Briten abfangen. Das ist meine Theorie.

Doch noch schlimmer wird es 1946, wenn Gandhi in einem Interview zur Shoah erklärt: „Hitler tötete fünf Millionen Juden. Es ist das größte Verbrechen unserer Zeit. Die Juden hätten sich dem Messer des Schlächters ausliefern sollen. Sie hätten sich von Klippen ins Meer werfen sollen. Dies hätte die Welt und das deutsche Volk aufgerüttelt.“ Für Hitler beten, das hätten sie sollen, meint er. Ein kollektiver Selbstmord, das wäre heldenhaft gewesen.
Zu lesen in George Orwells Buch: Reflections on Gandhi.

Waren die Briefe an Hitler auch vielleicht in Wirklichkeit an die britische Regierung gerichtet, so zeigt sich hier, 1946, doch eine gewaltige Überschätzung seiner Methode des gewaltlosen Widerstands. Insofern muss ich meinen Diskussionsgegnern aus den friedensbewegten Zeiten im Nachhinein doch ein bisschen Satisfaktion lassen.

1947 gewinnt Indien die Unabhängigkeit. Das verdankt es sicher auch Mahatma Gandhi und seinem friedlichen Weg der Revolte. Aber indirekt eben auch seinem „lieben Freund“ Adolf Hitler. Denn der Krieg hatte das Britische Imperium so geschwächt, dass Kolonien nicht mehr zu halten waren. Europa lag in Trümmern und England hatte so massive Schulden, dass es 1946 beinahe in den Staatsbankrott geglitten wäre. 1945 lebten noch 700 Millionen Menschen außerhalb Großbritanniens unter britischer Herrschaft, 1965 nur noch fünf. Drei davon in Hongkong.

Die Wissenschaftlichkeit von kontrafaktischen Ansätzen kann man diskutieren. Aber stellt euch vor: Hitler hätte die Briefe erhalten und auf Gandhi gehört – und das ist natürlich völliger Unsinn – dann hätte Indien seine Unabhängigkeit wahrscheinlich nicht bekommen.

Puh, nach Nazikram hab’ ich immer das Bedürfnis, mich zu duschen…


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 March 9, 2016  13m