Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0396: Déjà-vu


Für Esoteriker ist das Déjà-vu-Erlebnis der Beweis, dass wir alle prophetische Gaben besitzen. Oder dass Zeit nur eine Illusion ist. Für Hirnforscher ist es nur eine Fehlschaltung im Gehirn. Und das Gefühl ist einfach ein Nebenprodukt davon. Für Harald Hengstler aber wird das zur richtigen Bedrohung. Ein Hörspiel.

Download der Episode hier.
Musik: „The Feel“ von Backnbloom / CC BY-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Harald Hengstler ist ein ganz normaler Beamter. Jeden Tag fährt er in sein Büro, bearbeitet Akten, fährt nach Hause, kuckt ein bisschen fern und ist zwei Scheiben Hausbrot mit Aufschnitt und Gewürzgurken zum Abendessen. Dazu zwei Flaschen Pils.

Seine Frau, Maria Hengstler, führt ein normales Hausfrauenleben. Auch wenn es nicht mehr so viel zu tun gibt, seitdem die Kinder aus dem Haus sind. Aber irgendwer muss ja putzen, oder?
Und das Hausbrot und den Aufschnitt besorgen.

Wie jeden Abend sitzt sie auf der Couch und liest ein Buch. Und wie jeden Abend kommt ihr Mann nach Hause. Mit dem Aktenkoffer in der Hand. Doch heute schaut er etwas ängstlicher als sonst.

M: Hallo, Schatz, guten Abend! Schön, dass Du Feierabend hast!
H: (ängstlich) Äh, hallo?
M: Und wie war Dein Tag heute so…

Harald schaut konsterniert. Stellt seinen Aktenkoffer ab und lässt sich auf’s Sofa fallen.

M: Ist alles in Ordnung, meine Schatz?
H: Ja. Nein. Vielleicht.
M: Also was jetzt? Ja oder nein oder vielleicht vielleicht?
H: Ich, ich weiß es nicht…
M: Hm. Wen könnten wir denn sonst fragen, außer Dir?
H: Hm?
M: Was ist denn los, Harald? Du machst mir Sorgen.
H: Das war heute der seltsamste Tag meines Lebens!
M: Erzähl’ mir das genauer!
H: Ich weiß nicht, ob ich Dir das erzählen soll. Du denkst dann wahrscheinlich, ich bin gaga.
M: Noch mehr als sonst?
H: Na, vielen Dank für das Kompliment! Warum erzähle ich Dir sowas auch!
M: Weil ich mir Sorgen um Dich mache?
H: Ach so. O.k. Ich habe heute einfach dieses total komische Gefühl…
M: Welches komische Gefühl?
H: Mir geht es schon den ganzen Tag so, als hätte ich alles, aber wirklich alles schon einmal genauso gemacht und getan!
M: Deja-vu?
H: Wie bitte?
M: Meinst Du Deja-vu?
H: Nein. Es ist viel mehr als das.
M: Das versteh ich nicht ganz…
H: Mir geht es schon den ganzen Tag so, als hätte ich alles, aber wirklich alles schon einmal genauso gemacht und getan!
M: Deja-vu?
H: Wie bitte?
M: Meinst Du Deja-vu?
H: Nein. Es ist viel mehr als das.
M: Das versteh ich nicht ganz…
H: DA! DA! Es ist schon wieder passiert!
M: Was ist schon wieder passiert?
H: Na, das Gefühl, als wäre das gerade schon einmal genauso passiert!
M: Deja-vu?
H: Wie bitte?
M: Meinst Du Deja-vu?

Es wird sehr still im Wohnzimmer der Hengstlers. Harald schaut seine Frau mit großen Augen an. Schweißperlen rinnen über seine Stirn. Man kann das hören.

M: (besorgt) Schatz, was ist denn los?
H: Ich… ich… ich glaube, ich werde verrückt. Wahnsinnig…
M: Noch mehr als sonst?
H: Na, vielen Dank für das Kompliment! Warum erzähle ich Dir sowas auch!
M: Weil ich mir Sorgen um Dich mache?
H: Da! Schon wieder! Es ist schon wieder passiert!
M: Was ist schon wieder passiert?
H: Na, das Gefühl, als wäre das gerade schon einmal genauso passiert!
M: Deja-vu?
H: Wie bitte?
M: Meinst Du Deja-vu?
H: Hör auf! Sag’ nie mehr Deja-vu!
M: Ach, Harald. Wahrscheinlich bist Du ein bisschen überarbeitet. Und Dein Gehirn spielt Dir einen kleinen Streich. Du arbeitest halt zuviel.
H: Na, heute schon, das kann ich Dir sagen!
M: Wieso gerade heute?
H: (aufgeregt) Ich bin dreimal zur Arbeit gefahren, habe viermal einen Parkplatz gesucht und gefunden. Dann musste ich mir den Chauvi-Witz vom blöden Skribolai ca. 12 Mal anhören! 12 Mal! Ich habe die selben Akten neunmal durchgearbeitet, hatte vier Mittagessen in der Kantine und stand dreimal eine halbe Stunde im Stau, weil die Ampel am Treuchtlinger Platz kaputt ist! Und dabei lief immer der gleiche Song von Modern Talking im Radio! Willst Du noch mehr hören?
M: Vielleicht solltest Du doch zu einem Arzt gehen…
H: Aber ich war doch beim Arzt! Vier Mal! Und der konnte sich nicht einmal daran erinnern!
M: Ach, Harald. Wahrscheinlich bist Du ein bisschen überarbeitet. Und Dein Gehirn spielt Dir einen kleinen Streich. Du arbeitest halt zuviel.
H: Da, schon wieder! Genau das hast Du gerade schon gesagt!
M: Hab’ ich nicht!
H: Hast Du doch! Vielleicht bin ja nicht ich wahnsinnig, sondern Du?
M: Noch mehr als sonst?
H: Das hast Du auch schon dreimal gesagt!
M: Ach, Harald…
H: Ich lüge Dich nicht an! Alles wiederholt sich! Es ist genau, wie ich Dir sage!
M: Was ist genau wie Du mir’s sagst?
H: Mir geht es schon den ganzen Tag so, als hätte ich alles, aber wirklich alles schon einmal genauso gemacht und getan!
M: Deja-vu?
H: Wie bitte?
M: Meinst Du Deja-vu?
H: Nein. Es ist viel mehr als das.
M: Das versteh ich nicht ganz. Warte ‘mal, Harald. Gleich kommt die Tagesschau, dann mach’ ich Dir zwei Scheiben Hausbrot mit Aufschnitt. Und mit den Gewürzgürkchen, die Du so liebst.
H: Nein, Schatz. Heute nicht. Ich kann nicht. Ich bin zu… durcheinander.
M: Was willst Du denn dann?
H: Ich glaub’, es ist am besten, ich leg’ mich einfach still ins Bett. Lass’ das Licht aus. Und warte, dass dieses Gefühl vorbeigeht…
M: Welches Gefühl?
H: Na, das Gefühl, als wäre das gerade schon einmal genauso passiert!
M: Deja-vu?
H: Wie bitte?
M: Meinst Du Deja-vu?

Harald beginnt leise in sich hinein zu schluchzen. Er nimmt seinen Aktenkoffer und schleicht gebückt aus dem Wohnzimmer. Maria schaut ihm hinterher. Und zuckt die Schultern…

Maria: Von allen Männern auf der Welt habe ich mir genau diesen ausgesucht. Es ist ja nicht so, dass ich keine Wahl gehabt hätte…

Sie nimmt sich wieder ihr Buch und vertieft sich in die Lektüre. Die Tür geht auf. Harald kommt mit seinem Aktenkoffer herein.

M: Hallo, Schatz, guten Abend! Schön, dass Du Feierabend hast!
H: (ängstlich) Äh, hallo?
M: Und wie war Dein Tag heute so…


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 March 4, 2016  10m