Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0392: Eier mit Zwölf


Wusstet ihr, dass „Männer“ von Herbert Grönemayer aus dem Jahre 1984 stammt? Oh, Mann – so lange ist das her? Die heutige Sendung widmet sich auf jeden Fall auch der Frage: Wann ist ein Mann ein Mann? Und das am Beispiel von drolligen kleinen Mädchen, die sich in der Pubertät auf einmal zu ausgewachsenen Machos wandeln.

Download der Episode hier.
Guter Artikel zum Thema: „The extraordinary case of the Guevedoces“ von BBC News
Closer: „Wann ist ne Frau ne Frau“ von Dennis und Jesko
Musik: „Come On Man“ von Outsider / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Berechtigte Frage, Herbert. Vielen Dank. Und die Frage, wann ist ‘ne Frau eine Frauuu… stellt sich latürnich genauso. Man könnte es sich jetzt leicht machen und sagen: Wenn’s eine Gebärmutter hat, dann ist’s ‘ne Frau. Aber es gibt ja nicht nur Frauen, die keine Gebärmutter mehr haben, sondern auch Menschen ohne Gebärmutter, die sich als Frau verstehen.

Als nächstes könnte man sagen: Wenn’s statt zwei X-Chromosomen ein X- und ein Y-Chromosom hat, isses ein Mann. Das wäre doch eine Methode. Aber auch das stimmt nicht so ganz. Wie die Guevedocs beweisen. Guevedoc ist ein spanisches Wort, das ich wahrscheinlich falsch ausspreche. Und lässt sich übersetzen mit „Eier mit 12“. Eine Degeneration von “huevos a los doce”.

Guevedocs sind eine spezielle Form von Menschen. Die kommen als Mädchen auf die Welt und wenn sie in die Pubertät kommen, dann verwandeln sie sich in normale junge Männer. Und heiraten. Und kriegen Babies. Das passiert besonders häufig in einem kleinen Dorf in der Dominikanischen Republik mit dem schönen Namen Salinas.

Ich erzähle die ganze Geschichte ‘mal so, wie sie immer kolportiert wird. Gerüchte von diesen Guevedocs erreichten Frau Dr Julianne Imperato-McGinley in den frühen Siebzigern. Also verließ sie ihr gemütliches Cornell Medical College in New York, um in diesem kleinen abgelegenen Dorf dieses Phänomen zu ergründen.

Sie untersuchte 39 dieser junge Frauen, äh, Männer, nein: Menschen vor Eintreten der Pubertät. Die hatten Vaginas, aber keine Gebärmutter. Keinen Penis, keinen Hoden, aber ein Y-Chromosom. Die trugen Kleidchen, hatten Mädchennamen und spielten Mädchenspiele – keine Ahnung, was das in der Dominikanischen Republik so bedeutet. Keiner wusste, dass das mal Männer werden – sagt die Forscherin.

Doch in der Pubertät änderte sich das. Die Vagina wuchs zu, der Hoden senkte sich ab – viel weiter als bei Normalo-Jungens – und aus der Klitoris wurde ein ganz normaler Penis. Völlig funktionabel, denn viele Guevedocs bekommen Kinder. Diese Phänomen wurde schon ab und zu beschrieben, aber es ist sehr, sehr selten. Außer eben in Salinas, wo die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby ein Geuvedoc ist, bei 2% liegt.

Imperato-McGinley fand auch heraus, woran das liegt. An der Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter. Die hieß Altagracia Carrasco und bekam Kinder von vier verschiedenen Männern in Salinas. Die trug als erste diese kleine genetische Abweichung. In einer Allele ihres X-Chromosoms fehlt eine einzige, kleine Base. Mehr nicht.

Und weil das Dorf erst in den 50ern an das Straßennetz angeschlossen wurde, gab es in Salinas eben viel Inzest. Wie in anderen abgelegenen Regionen der Erde auch. Wenn aber zwei Eltern diese winzige kleine Abweichung haben, dann wird ihr Baby ein „Eier mit 12“-Baby.

Ein menschlicher Fötus entscheidet sich nämlich recht spät, ober er mal ein Mann oder eine Frau sein wird. In den ersten acht Wochen sind wir alle erst einmal Frauen. Wenn der Fötus ein Y-Chromosom hat, dann werden ab der achten Woche aus den Gonaden eben Hoden und aus der Klitoris ein Penis. Aber eben nur, wenn die Sexualhormone auch ihren Dienst tun.

Oder genauer: Wenn der Körper über das Enzym 5-alpha-reductase verfügt. Das verwandelt das schläfrige Testosteron in das Super-Duper-Macho-Dihydro-Testosteron. Das dann die anfälligen Umbaumaßnahmen anordnet. Und eben dieses Enzym bilden die Guevedoc-Babies nicht aus.

Und kommen als Mädchen auf die Welt. In der Pubertät, wenn der Körper diese Hormone wieder ausschüttet, wird dann die bislang verpennte Umwandlung abgeschlossen.

Imperato-McGinley schloss ihre Arbeit 1974 ab. „The Batista Family Study“. Bekannt wurde das Phänomen dann 1979 durch eine Dokkumentation der BBC. „The Fight to be Male.“

Beide Veröffentlichungen kommen dabei zu dem Schluss, dass das soziale Umfeld überhaupt keinen Einfluss darauf hat, ob man ein Mann ist oder eine Frau. Es sind alleine die Gene. Im Gegenteil: Die Guevedocs neigen sogar dazu, besonders männliche Männer zu werden. Auch wenn sie die ersten Jahre mit Puppen gespielt haben. Hah, in your face, Feministen!

Und in dieser Form wird die Geschichte immer noch in der Gender-Diskussion verwendet. Sie war schon in den 70ern immer ein Argument gegen die Emanzipations-Bewegung. Denn die behauptete, Männer- und Frauenbilder entstehen alleine durch unser soziales Umfeld. Werden geprägt, nicht vererbt. Wie z.B. im Buch „Der kleine Unterschied“ von Alice Schwarzer.

So, vorgespult zur nächsten BBC-Dokumentation, die sich diesem Thema widmete. „Countdown to Life: The Extraordinary Making of You“ Die lief im September letzten Jahres. Die Folge hieß: „Against the Odds“

Und die fand den Sachverhalt ganz anders vor als von Imperato-McGinley beschrieben. Einige der Guevedocs-Mädchen verabscheuen Mädchenspielzeug, andere nicht. Aus einigen Carlas werden Macho-Carlos, aus anderen nicht. Einige behalten ihren Mädchennamen. Also den buchstäblichen Namen als Mädchen. Davon lassen sich auch wiederum einige sogar operieren, bloß um ein Mädchen zu bleiben.

Und es ist auch nicht so, dass niemand in Salinas ein Problem damit hat. Die Geschlechtsorgane sind eben auch vor der Pubertät schon ein bisschen anders, man erkennt ein „Eier mit 12“-Baby eben schon. Hence the name Guevedoc.

Und natürlich kriegen die zeitlebens einen mehr auf die Mütze. Denn sie weichen von der Norm ab. Vielleicht sind sie sogar verzaubert? Diejenigen, die zu ganz normalen Männern werden wollen, müssen sich aufgrund dieses Drucks eben auch besonders anstrengen, als Mann akzeptiert zu werden. Ihre Männlichkeit doppelt und dreifach nachweisen. Und deswegen werden manche eben zu den Super-Latino-Machos, die Imperato-McGinley beobachtet hat.

So ist Forschung eben oft auch. Die reinen Fakten alleine reichen nicht aus, wir müssen die Ergebnisse eben auch bewerten. Und dabei kommen unsere Vorstellungen und Ideen zum Tragen. Und können zu ganz verschiedenen Ergebnissen führen.

Übrigens: Die Untersuchungen an den Guevedocs haben auch ein sehr konkretes Ergebnis erbracht. Imperato-McGinley beobachtete, dass bei den betroffenen Männern auch nach der Umwandlung die Prostata erstaunlich klein blieb.

Das fiel jemanden mit Namen Roy Vagelos auf, Forschungsleiter beim Pharmakonzern Merck. Das führte zur Entwicklung eines Medikaments mit Namen Finasterid, das sich verkauft wie warme Semmeln. (Komische Redensart? Wo kam man denn warme Semmeln kaufen?)

Denn Finasterid blockiert eben dieses Enzym mit Namen 5-alpha-reductase, so dass sich die Prostata ab der Medikamentengabe nicht weiter vergrößert – und einer Riesenprostata ist ein Riesenproblem bei alten Männern.

Fazit: Wann ist ein Mann also jetzt ein Mann? Und eine Frau eine Frau?
Äh, keine Ahnung. Immer noch keine Ahnung.
Im Gegenteil, eigentlich bin ich jetzt noch verwirrter…


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 February 29, 2016  13m