Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0389: Der langweiligste Tag


Am 11. April 1954 war ich noch nicht einmal entfernt in Planung. Aber ich kann mich an Tage der Kindheit erinnern, die extrem langweilig waren. Alle Spielkameraden im Urlaub, kein Internet erfunden, kein Fernseher im Haus und endlose Sommerferien. Aber dieser Palmsonntag im Jahre 1954 war scheinbar noch ereignisloser.

Download der Episode hier.
Opener: „I’m So Freakin’ Bored“ von lifepoint1
Closer: „The Yawning Man. Full Version. HD. Tom Thumb.“ von TheMan4allseasons
Musik: „Bored“ von Lights From Space / CC BY-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Heute geht es um Langeweile. Darum wird das auch eine langweilige Sendung. Denn es gibt halt auch langweilige Tage. Und der langweiligste aller Tage war der 11. April 1954.

Das steht in der Wikipedia. Ich war am Recherchieren und da steht doch glatt beim 11. April 1954: „Dieser Tag gilt als der langweiligste Tag aller Zeiten.“ Ich so: Woooot?

Das erinnerte mich an eine Geschichte, die ich irgendwo im Kleinhirn verstauben ließ. Es muss einen Tag gegeben haben, wo der Nachrichtensprecher bei BBC einfach verkündete: „Heute gibt es keine Nachrichten.“

Wirklich. Es war der 18. April 1930, der Nachrichtenjingle lief, dann begann die Nachrichtensendung. Es war 18:30 Uhr und das war eigentlich die wichtigste der Sendungen und der Announcer verkündete nur: „Good evening. Today is Good Friday. There is no news.“ Stattdessen spielte jemand fünf Minuten Piano.

Ach, das waren Zeiten, oder? Heute, wo einem Newsticker alle paar Minuten die nächsten Horrormeldungen aus den entlegensten Regionen der Welt auf das Smartphone spülen, kommt einem das paradisisch vor. Oder?

Aber der 18. April 1930 war NICHT der langweiligste Tag. Denn da sind schon ein paar Dinge passiert. Zum einen starb an diesem Tag Joaquim Arcoverde de Albuquerque Cavalcanti, der allererste Kardinal der katholischen Kirche der in Lateinamerika geboren wurde. Und zum anderen wurde Clive Revill geboren. In Neuseeland. Der für einige Vorführungen ein beachteter Shakespeare-Darsteller auf Londoner Bühnen werden sollte.

Das verkündete zumindest William Tunstall-Pedoe von der University of Cambridge vor ein paar Jahren. Der hatte eine neue Suchmaschine gebaut und mit mittlerweile Hunderten von Millionen Daten gefüttert. Die nennt sich Evi – E.V.I. – und die gibt’s mittlerweile auch als App für Smartphones. Der kann man Fragen stellen und die antwortet dann. „Oh, danke, Explikator, das Du Suchmaschinen erklärt hast!“

Und auf die Frage, was der langweiligste Tag der Geschichtsschreibung war, antwortet EVI: The beginning of time to indefinitely after’s most boring day is Sunday April 11th 1954.

1954? Kann das sein? In diesem Jahr sind doch wichtige Menschen geboren worden! Angela Merkel zum Beispiel. Oder Denzel Washington, Annie Lennox, Jean-Claude Juncker, Condoleeza Rice, David Lee Roth, James Cameron, Francois Hollande, Hugo Chavez, Jürgen Trittin, Neil Tennant, Kathleen Turner, Dennis Quaid, Jackie Chan, Jutta Speidel, Toni Schumacher, Recep Tayyip Erdogan, John Travolta, Matt Groening, Oprah Winfrey, Thomas de Maiziere, Katharina Thalbach. Und auch – ich hab’ nie gesagt, dass es der beste Jahrgang ist – Dieter Bohlen.

Natürlich sterben auch Menschen. Darunter Wilhelm Furtwängler, Enrico Fermi, Henri Matisse, Auguste Lumiere, Gottlieb Quandt und Hot Lips Page. Und Billy Murray. Nein, nicht der zu Unrecht vergöttlichte Bill Murray – Billy Murray.

Und es ist auch viel passiert: Die Viet-Minh schmeißen die Franzosen aus Indochina, das Vorspiel zum Vietnamkrieg. Eisenhower unterschreibt den Communist Control Act, worauf sich McCarthy auf seine Menschenjagd in der amerikanischen Intelligentia machen kann. Die Bundeswehr entsteht, die BRD wird Teil der NATO. Der Algerienkrieg bricht aus – die wichtigste französische Kolonie will die Unabhängigkeit. Burger King wird gegründet und zum ersten Mal bekommen deutsche Arbeitnehmer ein Weihnachtsgeld. Bei Moskau wird das erste Atomkraftwerk der Welt ans Netz gesteckt. Dafür wird im Westen das CERN gegründet. Texas Instruments bringt das erste Transistor-Radio auf den Markt, das Röhren-Radio beginnt auszusterben. Mit NTSC beginnt in den USA das Farbfernsehen, dafür wird in Deutschland die erste Filterkaffeemaschine patentiert.

Elvis nimmt seine erste Single auf, „Der Herr der Ringe“ wird veröffentlicht. Und die Chordettes verkaufen am meisten Platten. Mit dem Klassiker „Mr. Sandman“.

Im letzten Qualifikationsspiel der deutschen Fußballmannschaft gewinnt diese. Und zwar gegen das Saarland. Ihr habt richtig gehört. Die hatten sich noch nicht entschieden, ob sie nicht vielleicht doch Franzosen werden wollen.

Und, na ja, 54, 74, 90, 2014 – das Wunder von Bern geschieht. Deutschland wir Fußballweltmeister.

In Japan sinkt das Fährschiff Toya Maru und nimmt 1172 mit in den Tod. Und in Hamburg tobt eine Reihe von Sturmfluten, was auch 70 Menschen das Leben kostet.

Das ist doch ein aufregendes Jahr!

Tja, aber eben nicht am 11. April. Die Recherche auf der Website „aonthisday“ ergibt einen einzigen Treffer: „Marlene Bauer gewinnt LPGA New Orleans Golf Open“ Booring!

Die Titelseite der Daily Mail berichtet, dass eine silberne Tasse im Wert von 50 Pfund gestohlen wurde. Die Titelseite. Booring!

The Library of Congress erwähnt den Tag nicht einmal. Booring!

In Belgien waren an diesem Tag zum vierten Mal nach dem Krieg Wahlen. Booring!

Jack Shufflebotham, stirbt im Alter von 69 Jahren. Er hatte ein paar Spiele für den Fussballklub Oldham Athletic and Notts County gespielt. Lange vor dem Krieg. Booring!

Und Abdullah Atallar wird geboren. Ein Professor an der Universität von Bilkent in der Türkei. Ein Elektro-Ingenieur. Booring!

Sonst: Nichts. Nüscht. Leere! Schaut ganz so aus, als hätte Mr. William Tunstall-Pedoe recht.

Das ist dieser Programmierer aus Cambridge. Und der sagt im Interview (stellt euch einen English accent vor. Posh.): „Niemand Wichtiges starb an diesem Tag, keine bemerkenswerten Ereignisse begaben sich. Und obwohl an jedem Durchschnittstag im 20ten Jahrhundert einige erwähnenswerte Menschen geboren werden, war es an diesem Tag – aus irgendeinem Grund – nur Abdullah Atalar.

Das Ironische ist natürlich, das – nach dieser Berechnung – der 11. April 1954 sehr interessant ist. Weil er halt so langweilig war. Außer vielleicht, wenn Sie Abdullah Atalar heißen.“

Ach. Wie schön. Ich wünsche mir, dass wir diesen Rekord bald schlagen.


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 February 24, 2016  12m