Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0387: Die Insulin-Story


Ich habe einmal erlebt, wie ein Mensch einen hypoglykämischen Schock bekam. Ein Nachbar, der bei der Gartenarbeit einfach umfiel. Seine Frau kam zur Hilfe und steckte ihm Traubenzucker in die Backe. Was half. Er war Diabetiker. Das ist eine schwere Erkrankung, die wir erst seit hundert Jahren behandeln können. Und viele Forscher aus vielen Ländern waren beteiligt.

Download der Episode hier.
Beitragsbild: Von Das Original wurde von Takometer in der Wikipedia auf Englisch hochgeladen – Übertragen aus en.wikipedia nach Commons., CC BY 2.5,
Musik: „Dog“ von Mistackes / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Die International Diabetes Federation hat die Diabetes zur größten Epidemie des 21sten Jahrhunderts ausgerufen. Und da könnte auch ‘was dransein, wenn man sich die Zahlen ‘mal anschaut. Waren 1980 noch 150 Millionen Menschen zuckerkrank, so sind es heute 400 Millionen, also über 8% der Weltbevölkerung.

Diabetes ist für 25% der Ausgaben im deutschen Gesundheitswesen verantwortlich. Mit deutlich steigender Tendenz. 2005 waren es 25 Milliarden Euro, 2010 schon 40, die zur Behandlung dieser Krankheit ausgegeben worden.

Nach der heutigen Nomenklatur unterscheidet man hauptsächlich zwei Formen der Diabetes. Typ 1, der angeboren ist, und Typ 2, der erworben wird. Darum nannte man das früher auch juvenile Diabetes und Altersdiabetes. Das ist aber etwas ungenau.

Zum Vergleich: Am Typ 2 leiden in Deutschland an die 5 Millionen Menschen, am Typ 1 300.000.

Bekannt ist die sogenannte Zuckerkrankheit seit mindestens 3500 Jahren und die Untersuchung verlief einfach. War der Urin des Kranken zuckersüß, dann hatte er Diabetes. Weswegen die Krankheit auch den Beinamen „mellitus“ führt. Das ist Latein und heißt „honigsüß“.

Das liegt daran, dass bei Diabetes das eigene Immunsystem einen Fehler macht. Und die Betazellen in den Langerhansschen Inseln, einer Region der Bauchspeicheldrüse kaputt macht. Dann können diese Inseln kein Insulin mehr produzieren – ja, daher der Name. Das ist aber ein wichtiger Botenstoff.

Der Körper zerlegt die Kohlenhydrate in Glukose und verteilt die gleichmäßig. Zur Energiegewinnung. Ohne Insulin aber gelangt dieser Zucker nicht in die Zelle und kann nicht verbrannt werden. Oder in der Leber als Glykogen gespeichert werden. Und darum schmeckt der Urin süß – weil der Körper ihn nicht brauchen kann, scheidet er den Zucker aus.

Noch vor hundert Jahren war die Diagnose Diabetes ein Todesurteil. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen verhungerten buchstäblich. Nur mit einer eisernen Diät ohne Kohlenhydrate, nur Fett und Eiweiß konnte die Lebenserwartung nach der Diagnose auf knapp ein Jahr gehoben werden.

Heute kann man ein einigermaßen normales Leben führen, wenn man Diabetes hat. Und das liegt daran, dass wir Insulin mittlerweile synthetisieren können. Aber bis dahin war es ein weiter Weg, der auch schön zeigt, wie Forscher aus der ganzen Welt zusammen gearbeitet haben.

Die Geschichte beginnt schon 1896, als einem deutschen Medizinstudenten diese komischen Zellhaufen auf der Bauchspeicheldrüse überhaupt auffielen. Und weil er Student Paul Langerhans hieß, heißen diese Zellen Langerhanssche Zellen. Oder in Englisch: Islets of Langerhans. Klingt romantisch, oder?

1889 geht die Geschichte mit zwei weiteren deutschen Forschern weiter, die Hunden die Pankreas entfernten, einfach um zu sehen, was dieses Organ so macht. Die beiden hießen Oscar Minkowski und Joseph von Mering. Und weil der Hunde-Urin danach dazu neigte, dass die Fliegen von ihm magisch angezogen wurden, erkannten sie den Zusammenhang mit der Diabetes.

Aber erst Eugene Lindsay Opie von der Johns Hopkins University in Baltimore erkannte dann – bei ganz ähnlichen Experimenten, dass es eben spezifisch diese Langerhansschen Zellen sind, die verantwortlich sind. Zerstört man beim Hund diese Zellen, hat er süßen Urin, also Diabetes.

Das war 1901 und weiter geht die Geschichte 1916 in Rumänien. Nicolae Paulescu machte auch erst einmal Hunde zuckerkrank, aber behandelte sie mit einem Extrakt – pikanterweise aus der Bauchspeicheldrüse der künstlich kranken Hunde gewonnen – und – zack! – waren die Symptome der Diabetes wech!

Aber der Krieg verhinderte, dass er weiterforschen konnte.
Weswegen andere als die eigentlichen Entdecker des Insulins gelten.

Und zwar der kanadische Forscher Charles Banting und sein Student Charles Best. Die beiden wussten ja nichts von der Arbeit ihres rumänischen Kollegen und wiederholten dessen Arbeit praktisch. Ihr Boss, Professor John Macleod, war sehr angetan von den Behandlungsergebnissen bei den zuckerkranken Hunden. Er prägte den Ausdruck „Insulin“ und versorgte die beiden mit Bauchspeicheldrüsen von Kühen.

Mit Bertram Collip kam noch ein Biochemiker ins Team, der in der Lage ist, das Insulin sauber genug aus dem Organ zu isolieren. Ein amerikanischer Kollege, E. L. Scott, hatte entdeckt, dass das mit Alkohol einigermaßen geht. Collip bekam das so gut hin, dass sich Banting und Best trauten, sich das selber zu injizieren.nSichtlich überlebten sie das, denn bald behandelten sie den ersten Patienten mit ihrem Insulin.

Leonard Thompson sein Name. 14 Jahre alt, zuckerkrank und damit nur noch Monate zu leben.
Also: Insulin gespritzt, intramuskulär und danach die Blutzuckerwerte gemessen. Was war? Nüscht. Leider.

Erst beim zweiten Durchgang, mit einem noch reineren Extrakt kam es zur Besserung. Der junge Mr. Thompson lebte noch 13 Jahre und starb an einer Lungenentzündung. Nicht an Diabetes.

Das war eine medizinische Sensation sondergleichen. Man konnte das Leben von Millionen junger Menschen retten! Die beiden Forscher sicherten sich das Patent, um es dann an ihre Universität zu verkaufen. Für die atemberaubende Summe von einem Dollar.

1922 begann die Firma Eli Lilly schon mit der Produktion von Insulin in großen Mengen.
1923 gab es für McLeod und Banting den Nobelpreis. Aber die fanden es nicht gut, dass Best und Collip nicht erwähnt wurden und teilten das Preisgeld mit den beiden anderen Forschern. Die waren wohl echt o.k.

Wie wir das schon beim jungen Herrn Thompson gesehen haben, war die Reinheit des Extrakts entscheidend wichtig. Und auch die Kühlkette musste beinhart eingehalten werden. Damals bekamen Patienten zweimal am Tag eine Injektion – intramuskulär. Weil im Extrakt noch Peptide wirkten, war Insulin auch nicht lange haltbar. Schmerzen und Abszesse waren die Regel.

Ein dänischer Wissenschaftler, Hans Christian Hagedorn, entdeckt dann 1936, dass die Wirkung des Insulins mit einem Stoffgemisch namens Protamin erheblich verlängert werden kann.

1955 dann wird das Insulin, als allererstes Protein überhaupt, komplett sequenziert. Also sein Aufbau kartographiert. Das gelang Frederic Sanger aus Großbrittanien. Darum kann es 1963 als erstes Eiweiß überhaupt komplett nachgebaut werden.

Seit 1978 – 60 Jahre nach seiner Entdeckung – wird Insulin von speziellen Bakterien produziert, worüber sich die Welttierheit wahrscheinlich sehr gefreut hat. Und seit 1982 ist das nachgebaute Insulin dem menschlichen so gleich, dass es Humaninsulin genannt wird, im Unterschied zu dem aus Tier-Bauchspeicheldrüsen gewonnenen. Es ist verträglicher und führt nicht mehr zu allergischen Reaktionen.

Seit 1996 vermarktet die Firma Eli Lilly das sogenannte Analog-Insulin. Das ist bis auf eine veränderte Amino-Sequenz genau wie das Humaninsulin, was es noch besser verträglich und abbaubar macht.

Seit 2014 haben wir mit Afreeza ein Insulinpräparat, das inhalierbar ist.

Momentane Forschungen sind z.B. bionische Bauchspeicheldrüsen, die im Körper den Blutzuckerspiegel messen und die Insulinfreigabe ohne menschliche Interaktion regeln.

Auch an Schutzmembranen für die Betazellen – also die Zellen, die der Körper des Diabetikers versehentlich vernichtet – sind in Arbeit.

Die Forschung geht immer weiter und vielleicht wird die Diabetes komplett heilbar.
Es ist ja ein Riesenmarkt – weswegen es Firmen sind, die jetzt forschen.

Begonnen aber hat alles mit deutschen, rumänischen, kanadischen, britischen und dänischen Wissenschaftlern in Universitäten. Institutionen, die den Bürgern gehören. Die ihr Wissen weltweit ausgetauscht haben ohne Geld damit verdienen zu wollen.

Ach, bevor wir’s vergessen:
Vielen Dank auch an die unzähligen Hunde: Ihr habt Millionen Leben gerettet!


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 February 22, 2016  14m