Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0378: Positives Denken


„Wenn’s mir so richtig schlecht geht, dann visualisiere ich vor meinem inneren Auge meinen zukünftigen Reichtum und wie alle Menschen begeistert den Explikator hören! Und dann bin ich gleich voll gut drauf…“ Stimmt natürlich nicht! Quatsch! Positives Denken ist der neue Aberglaube!

Download der Episode hier.
Die Studie aus PSS: „Pleasure Now, Pain Later“
Opener: „Körperzellen Rock (Jede Zelle…) Metal Cover“ von Blake Inc.
Musik: „Gray Flowers“ von The Gray Havens / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Es muss irgendwann in den Achtzigern gewesen sein. In Köln. Auf einer Messe. Da hörte ich diese blöde Glas-Parabel zum ersten Mal. „Weißt Du, es gibt Optimisten und Pessimisten. Pessimisten würden sagen, das Glas sei halb leer. Optimisten sagen, es ist halb voll.“

Liebe Hörenden aus Köln, es tut mir schon vorher leid. Für mich war mein Glas Kölsch halb leer. Und das war gut so. Ich bin ja Optimist. Und habe mir dann ein anderes Bier bestellt.

Das ist aber nur die ausgelutschteste Metapher einer Denkschule, die sich „positives Denken“ nennt. Die Annahme ist, dass es an uns selber liegt, wie wir denken. Das wir, indem wir nicht negativ denken, sondern positiv, unsere Grundstimmung verändern. Den Dingen positiver entgegen sehen und – zack – schon entwickeln sich die Dinge dann auch zum Besseren.

Das liegt ja auch auf der Hand. Jeder von uns kennt es, dass man sich vor kritischen Situationen krank grübeln kann mit Sorgen. Und sich die schlimmsten Dinge ausmalt. Und oft erfährt man dann, dass es gar nicht so schlimm kommt. Das es gar nicht wehtut. Das die Sorgen umsonst waren. Die ganze Angst, das Grübeln und der Kummer: Für’n Arsch!

Ist das vielleicht auf das ganze Leben anwendbar? Sollten wir uns einfach weniger Sorgen machen und mehr leben? So wie der Klassiker des positiven Denkens heißt: „Sorge Dich nicht – lebe!“ von Dale Carnegie. Aus dem Jahre 1948. Fünf Millionen Mal verkauft. Und läuft auch immer noch prima.

Und dieses Buch ist nur das Erste aus dieser Gattung über das sogenannte positive Denken. Und davon gibt es Hunderte und Tausende. Eigentlich ist das Ganze eine eigene Industrie, die sich nur mit dieser Idee über Wasser hält. Alleine in Amerika schätzt man den Umsatz mit Lebensratgebern auf mehr als 8 Milliarden Dollar im Jahr.

Hunderte von Coaches, Lebensberatern und Seminarleitern ziehen mit Vorträgen durch die Lande und predigen in immer neuen Formen die Macht des positiven Denkens.

Laut dem Süddeutschen Magazin glauben 65% der Deutschen an positives Denken. Kann man sich schon vorstellen, wenn man sich all die Sinnspruchkalender, die Motivationsbücher, die Anhängerchen, die Selbsthypnose CDs, die Seminare auf DVD oder nur die ganzen selbst ernannten Lebensratgeber auf YouTube anschaut.

Es ist so einfach: Wir müssen nur anders denken, dann kommt das Gute zu uns! Positives Denken hilft, laut Dr. Rolf Merkle – immerhin Diplom-Psychologe – in allen Belangen. Es ist gut für das seelische Wohlbefinden, für die körperliche Gesundheit, für den Erfolg im Beruf, für die Karriere, für die Partnerschaft und allgemein für die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten.

Es liegt alles an uns! Unsere Gedanken formen unsere Welt, wie es auch im Buch „The Secret“ von Rhonda Byrne heißt. Und um dieses Buch ist eine richtige Sekte entstanden. Denn dieses Mal wird das Visualisieren auch noch mit der Quantentheorie begründet und kommt pseudo-wissenschaftlich daher.

Das Alles ist natürlich kompletter Bullshit. BULLSHIT. Oberster Güte. Und es ist nicht nur nicht wahr, sondern auch noch gefährlich. Für jeden, der daran glaubt. Für jeden, mit dem er zusammenlebt. Und für uns alle als Gesellschaft.

Erstens: Die Vorstellung, wir könnten nachhaltig unsere Gedanken manipulieren, ist falsch. Nehmen wir doch ‘mal den Satz: „Ich manipuliere meine Gedanken.“ Wer ist bitte dieses ICH in diesem Satz? Welche Instanz? Klar, wir können uns selber hypnotisieren. Uns Dinge einreden. Das nennt man Auto-Suggestion. Tatsache bleibt aber, dass das nicht unsere ursprünglichen Gedanken sind. Und das wissen wir weiterhin. Wir lügen uns also krampfhaft etwas vor. Und das werden wir nie vergessen. Das bleibt immer irgendwo als Wissen übrig. Positives Denken ist nicht anderes als angestrengtes Verdrängen.

Zweitens: Unsere Gedanken sind nur Symptome unserer Gefühlslage. Was wir in unserem Hirn als Gedanken formulieren, dass hat unser Unbewusstes schon lange vorbereitet. Wenn wir uns wegen etwas Sorgen machen, dann hat das eine Begründung in unserem Seelenleben. Negative Gedanken sind keine Viren oder Keime, die von außen auf unser Gehirn wirken. Die sind ein Teil von uns und unserer Identität. Und: Es gibt einen guten Grund, dass sie da sind. Die müssen da sein!

Drittens: Mittlerweile ist das positive Denken so verbreitet, dass wir in der Gesellschaft immer weniger Platz haben für Trauer und Leiden. Es ist einfach zum Kotzen, wenn jemand, der an einer tödlichen Krebskrankheit leidet, von Ärzten und Pflegepersonal nur hört, er oder sie müsse optimistisch sein. Selbst erlebt. Und das ist keine Ausnahme mehr, sondern eher die Regel, wenn manin die Selbsthilfe-Foren kuckt. Aber es ist ja auch prima: Das positive Denken erspart uns, die wir nicht gerade am Verrecken sind, sich mit dem Leiden zu beschäftigen.
Ist ja auch peinlich, wenn die immer so rumheulen, die Sterbenden…

Viertens: Alles, was uns passiert, liegt an uns. Positives Denken bedeutet im Umkehrschluss: Wenn Du keinen Erfolg im Beruf hast, dann hast Du das nicht richtig visualisiert. Wenn Du traurig bist, dann hast Du Dir wohl zu viele Sorgen gemacht. Verantwortlich für alles bist immer Du. Denn Du könntest ja anders denken. Denke anders! Welch’ ein dämlicher Double-Bind! Und wie einsam uns alle das macht!

Fünftens: Das positive Denken nützt auch prima dem Turbo-Kapitalismus. Nicht umsonst sind in Amerika die Firmen wichtige Abnehmer dieser Art von Lektüre. Weil wir selber an allem schuld sind, kaufen wir uns ein Ratgeber-Buch, wenn wie wegrationalisiert wurden. Statt uns in einer Gewerkschaft zusammen zu tun.

Die Wahrheit ist aber: Manchmal haben die anderen Schuld. Z.B. die gierigen Banker am Crash von 2008. Eine Bande von durchaus benennbaren Individuen, die Millionen Menschen den Job und das Haus genommen haben. Und die Opfer sitzen dann in Zelten und visualisieren brav ihren beruflichen Erfolg. Was für ein Witz! Eine ganze Gesellschaft, die völlig unfähig ist zur Solidarisierung! Wo alle nur immer um den eigenen Nabel kreisen. Und daran ist das positive Denken mit schuld. Schmiermittel für ein reibungsloses Ausgebeutet-Werden.

Sechstens: Auch wenn die kurzfristige Wirkung von Auto-Suggestion nachgewiesen ist, so ist es genauso nachgewiesen, dass positives Denken auf Dauer krank macht. Der psychologische Effekt ist der, dass ein Teil unseres Hirn tatsächlich glaubt, dass alles so superklasse ist wie in unseren Visionen von der glücklichen Zukunft. Deswegen engagieren sich die Positivdenker durchschnittlich auch weniger. Und erreichen so ihre Ziele schlechter als die Grübler und Zweifler.

Eine Langzeit-Studie, veröffentlicht in Psychological Science November 2015, hat den bezeichnenden Titel: „Pleasure Now, Pain Later“. Positives Denken dämpft aufkommende Symptome depressiver Verstimmungen. Kurzfristig. Langfristig passiert das Gegenteil. Sie haben sich das nicht richtig getraut, aber beinahe steht in dieser Studie: Je mehr man das Tolle visualisiert, desto eher entwickelt man auf Dauer eine Depression.

Positives Denken ist also Bullshit. Und gefährlicher Bullshit auch noch.

Gesundes Denken wäre besser. Und gesundes Fühlen auch. Wir können Leid, Unglück, Katastrophen, Krankheit und Tod nicht aussperren. Nicht aus unserem Leben und auch nicht aus dem Leben der anderen. Es ist ok zusammenzubrechen, wenn der Druck zu groß ist. Es ist ok zu weinen, wenn der Schmerz zu groß ist. Und es ist auch ok an manchen Momenten im Leben die Hoffnung zu verlieren.

In dieser Welt voller happy people ist das geradezu revolutionäre Pflicht.
Grau ist das neue Black!


fyyd: Podcast Search Engine
share








 February 9, 2016  13m