Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0374: Die Tanzwut


Kennt ihr das auch, dass man einfach nicht mehr mit dem Tanzen aufhören kann? Nicht? Ich auch nicht. Wenn einem die Puste ausgeht, dann hört man auf. Aber bei dem seltsamen, mittelalterlichen Phänomen der Tanzwut war das anders. Da haben sich Menschen buchstäblich zu Tode getanzt. Wie Frau Troffea.

Download der Episode hier.
Opener: „Fritz Wunderlich & Herta Talmar “Tanzen möcht`ich”“ von Addiobelpassato
Closer: „Ich will nicht tanzen“ von Andreas Berger
Musik: „Tarantella del Gargano – Stupenda versione“ von ronqunardi

+Skript zur Sendung
Heute geht es in das ausgehende Mittelalter. In eine Stadt, die damals ihrer Zeit weit voraus war. Nämlich nach Straßburg im Jahre 1518. Eine wohlhabende, freie Reichsstadt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Jahrhunderte hatten sich zwei Familien hier die Köppe eingeschlagen, namentlich die Müllenheims und die Zorns. Und das ist buchstäblich zu verstehen.

Die Dauerfehde tobte so schwer, dass das Straßburger Rathaus auch heute noch zwei Eingänge hat, für jede der Familien eins. Doch mittlerweile hatte man sich dieses Stadtadels entledigt. Straßburg war sozusagen eine Republik. Zwei Drittel des Stadtrats waren mit Vertretern der Zünfte zu besetzen.

Aber die letzten Jahre waren schwierig gewesen. Die Winter waren außergewöhnlich hart. Und die Sommer außergewöhnlich heiß. Die einfacheren Leute darbten. Man war dazu übergegangen, das Menü mit Hund und Katze aufzubessern. Also, nicht als Gäste, sondern als Teil des Menüs.

An so einem heißen Sommertag im Juli 1518 verlässt Frau Troffea ihre einfache Behausung und macht sich auf den Weg. Irgendwo durch die engen Gassen der mittelalterlichen Stadt mit ihren Ställen, Gasthäusern, Handwerksbetrieben und alten Häusern und einfachen Hütten.

Und Frau Troffea beginnt zu tanzen. Einfach so. Frau Troffea tanzt.

Es spielte keine Musik. Und sie lacht nicht, als sie wie wild ihre Röcke schwang und die Beine in die Luft wirft. Wie eine Verrückte tanzt sie den ganzen Tag durch, sehr zum Ärgernis ihres Mannes. Tanzt, tanzt, tanzt – bis sie erschöpft zusammenbricht. Schweißüberströmt. Mit Muskeln, die nicht aufhören wollen zu krampfen.

Nach ein paar Stunden dieser unerholsamen Ohnmacht, erhebt sich Frau Troffea wieder. Und beginnt wieder zu tanzen. Den ganzen Tag. Natürlich reden die Leute auf sie ein, natürlich versucht man sie festzuhalten. Manche schimpfen, anderen wird himmelangst, wenn sie ihre Nachbarin so sehen.

Doch Frau Troffea hört nicht auf zu tanzen. Hört einfach nicht auf.

Und bald ist sie nicht die einzige Tänzerin. Schon nach einigen Tagen wird sie von dreißig weiteren Tanzwütigen begleitet, die tagaus und tagein durch die Straßen zucken. Und die Seuche steckt immer mehr Menschen an

Bald, Anfang August handelt es sich um 400 Menschen, die allermeisten davon Frauen.

Viele davon tanzen bis zum Umfallen. Und viele von denen die umfallen, stehen nie mehr auf. In Straßburg tanzt man sich zu Tode. Der Stadtrat ist beunruhigt und Spezialisten werden befragt. Die Ärzte Straßburgs kommen zu dem Urteil, dass man astrologische und übernatürliche Ursachen ausschließen könnte. Es müsse eine natürliche Krankheit sein, bedingt durch heißes Blut.

Es wird beschlossen, Bühnen zu errichten und Musiker zu bezahlen, damit sich die Tanzwütigen austoben konnten, bis die Plage endlich wieder vorbei sein würde.

Ob dieses Rezept damals wirkte, das bleibt unklar.
Eines Tages jedoch war das Tanzen vorbei.
Und auch mit vielen Tänzern, die sich in den Tod erschöpft haben.

Das ist keine urban legend. Keine mittelalterliche Gruselgeschichte. Diese Vorfälle haben wir aus vielen, vielen Quellen belegt: Es gibt Gebetswünsche, Notizen der Ärzte, Chroniken über Chroniken und sogar die Beschlüsse des Stadtrats, die uns noch vorliegen. Und dieses seltsame Phänomen für alle Zeiten bezeugen.

Das zudem auch keine Einzelfall war. Wir wissen von mindestens 14 weiteren Ausbrüchen dieser Tanzwut, dieser Tanzepidemie aus dem Mittelalter. Aus den verschiedensten Regionen Europas.

Bald war man sich damals sicher, es sei bedingt durch den Biss der Tarantel. Die apulische Tarantel kam damals in weiten Teilen Europas vor. Unser Ausdruck „wie von der Tarantel gestochen“ stammt von dieser Fehldiagnose.

In Apulien selber hatte man sich zur Behandlung einen eigenen Tanz ausgedacht, die Tarantella. Das Tarantelchen. Musiker besuchten die Betroffenen und spielten die Tarantella als rhythmisches Gegengift, bis der Anfall vorbei ging. Oder auch nicht.

In Deutschland nannte man diese Krankheit den Veitstanz. Denn der heilige Vitus war der Schutzheilige der Tänzer. Und man erhoffte von ihm Besserung, wenn man ihn brav anbetete.

Was aber diese seltsame Epidemie ausgelöst hat, dass weiß in Wirklichkeit heute kein Mensch. Wie auch damals. Auch, dass sie einen schönen lateinischen Namen bekam, Epilepsia saltatoria, macht diese Lücke in unserer Geschichtsschreibung nicht besser.

Eugene Beckmann suchte 1952 zur Erklärung in biologischen Ursachen. Auf feuchtem Roggen bildet sich ein unsichtbarer Pilz. Der Mutterkornpilz. Und der produziert giftige Alkaloide. So ähnliche Wirkstoffe wie LSD. Das könnte ein Grund sein. Aber der Ergotismus, so nennt man diese Vergiftung, der führt zu Krämpfen und auch zu Halluzinationen, aber tagelang durchtanzen?
Eher nicht.

Der Soziologe Robert Bartholomew vertritt die Meinung, dass die Tänzer zu einer geheimen häretischen Sekte gehörten. Und dieser Tanz, ähnlich wie bei den Bacchanalen, zum Ritus gehörte. Doch die Quellen sind sehr deutlich: Die Tänzer wollten nicht tanzen! Im Gegenteil, sie hatten alle miteinander Angst und waren verzweifelt.

Der Historiker John Waller vermutet eine Massenpsychose. Eine Massenhysterie, wie man früher sagte. Durch die Hitze im Sommer und die Kälte im Winter bedingt. Eine Stressreaktion. Die eben zuerst bei Frau Troffea begann. Aber warum kommt die Choreomania – ein anderer Ausdruck für das gleiche Phänomen – dann an so vielen verschiedenen Plätzen mit so unterschiedlichen Rahmenbedingungen vor?

Der Historiker Gregor Rohmann hat 2012 eine weitere Erklärung vorgelegt. Die Veitstänzer agieren ihr Gefühl der Gottverlassenheit aus. Da hatten sie so viel gebetet. An den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist. Und an den heiligen St. Vitus. Und doch wurden sie bestraft.

„Da tanzt sie, die arme Frau Troffea“, mag der Zuseher sich gedacht haben. „Oh, heiliger St. Vitus, bitte schlag’ mich nicht mit dem Veitstanz, ich bitte Dich!“
Und mit der Vorstellung, auch mit dieser Krankheit geschlagen zu sein lösen sie die gleiche Besessenheit bei sich selber aus.

Denn der Tanz war im Mittelalter ja nicht unbedingt gut angesehen. Eine Manie war das, so führende Theologen, eine Versuchung des Teufels. Vielleicht war die Tanzwut also eine Reaktion auf religiösen Druck. Eine psychotische Form des Gebets.

Wie diese Epidemie über Europa gekommen war, so verschwand sie auch. Kein Erklärungsversuch war oder ist besonders überzeugend. Aber wir modernde Menschen müssen uns wahrscheinlich keine Sorgen machen, dass der Veitstanz uns überkommt.

Seit dem Film „Saturday Night Life“, wo die Bee Gees mit ihren Falsettstimmen Discomelodien gesanglich virtuos begleiteten, ist kein Fall von Epilepsia saltatoria mehr in Europa vorgekommen.

Coincidence? I think not!

 


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 February 3, 2016  13m