Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0372: Kalorie kaputt?


Am schönsten an dieser Sendung finde ich, dass ich immer etwas Neues lerne! Noch vor zwei Wochen hätte ich das Kalorienzählen gegen jedermann als die einzige Methode verteidigt, die auf sicheren wissenschaftlichen Beinen steht. Aber dann habe ich mir das für die heutige Sendung noch einmal genauer angeschaut. Ist auch alles nicht so richtig eindeutig…

Download der Episode hier.
Opener: „I’m Hungry – Learn English for Kids Song by Little Fox“ von LittleFoxKids
Closer: „I’m never eating chili again.“ von fastgalants
Musik: „Wire And Flashing Lights“ von Professor Kliq / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Ihr habt es sicher auch schon unzählige Male gehört: Wir werden alle immer dicker. Für 2015 heißt es, dass 67% aller Männer übergewichtig sind und 53% aller Frauen. 23% aller Männer leiden an Adipositas, früher Fettsucht genannt und 24% aller Frauen auch.

Könnte man jetzt diskutieren, denn diese Zahlen beziehen sich auf den Body-Mass-Index. Also auf das Verhältnis von Körpermasse zu Größe. Kraftsportler können also ein Körperfettgehalt von 5% haben und trotzdem statistisch fettsüchtig sein. Aber egal.

Wir wollen ja alle auch nicht fett sein. Die ganze Gesellschaft will nicht fett sein. Denn das kostet uns alle Geld. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt für Deutschland im Jahre 2020 Kosten in Höhe von 25,7 Milliarden € im Jahr alleine für die Behandlung der Folgen der Adipositas.

Auch das kann man wieder diskutieren, denn an irgendetwas erkranken nicht übergewichtige Menschen auch und das müsste man ordentlicherweise hier abziehen. Aber auch darum soll es nicht gehen.

Denn eigentlich geht es darum, dass wir das alle wohl nicht so hinkriegen mit dem Abnehmen. Die sogenannte Essen-Bochum-Obesity-Study, kurz EBOTS, hat ermittelt, dass Diäten nicht gut funktionieren. Nur 20-30 % aller Menschen schaffen es, ihr Körpergewicht in einem Jahr um 5% oder mehr zu vermindern. Alle anderen bekommen den Jojo-Effekt zu spüren.

Denn die schnellen Reduktionsdiäten sind einfach eine kontrollierte Mangelernährung. Und da stellt sich der Körper drauf ein. Indem er z.B. den Metabolismus herunterfährt. Um z.B. die paar Kalorichen, die er bekommt besser aufzunehmen. Isst man danach wieder normal, behält er diesen Trick bei, bis die ganzen Fettzellchen wieder so pummelig sind wie früher.

Dabei müsste es, wissenschaftlich gesehen, ja so einfach sein, oder? Wenn wir mehr Energie verbrauchen als wir zu uns nehmen, dann nehmen wir ab. Und umgekehrt. Easypeasy.

Also nur die Kalorien gezählt, am Tagesbedarf abgeglichen. Und wenn wir dann 200-300 kCal weniger essen als wir verbrauchen, dann nehmen wir ab. In drei Wochen müsste das auf diese Art ein Kilo sein.

Aber immer wieder hört man von Menschen, die sagen, sie würden es genau so machen wie beschrieben. Sie verwenden Tabellen, Bücher, Webseiten oder Apps, protokollieren genau, was sie essen. Und obwohl sie die empfohlenen 300 Kcal einsparen: Es passiert nichts!

Da dachte ich mir früher immer: Die schummeln halt. Oder rechnen schlecht. Oder verbrauche halt noch weniger als der Durschschnittsdeutsche. Könnte ja auch alles sein. Aber geglaubt hab’ ich’s eigentlich nicht. Aber dann habe ich mir das ‘mal genauer angeschaut. Und ich glaube jetzt, die Kalorie ist ziemlich kaputt.

Kalorien misst man – in der Ernährungsforschunng – mit einem Bombenkalorimeter. Das heisst in einem grossen Stahlcontainer voller Wasser. In den gibt man die Bombe. In dieser Stahlkugel herrscht eine reine Sauerstoffatmosphäre und ein Druck von 20-30 bar. Ein Lichtbogen entzündet dann den zu untersuchenden Stoff, der unter diesen Bedingungen komplett abbrennt. An der Erwärmung des Wassers um die Bombe herum kann man die Kalorienzahl ermitteln. Also den genauen Brennwert jedes Stoffes, den man sich ausdenken kann.

Aber weil wir nicht alles verarbeiten können, kam Wilbur Olin Atwater und vermaß über 4000 Lebensmittel im Kalorimeter. Dann hat er Testpersonen nur mit diesem Lebensmittel gefüttert, ihren Kot gesammelt. Dessen Brennwert ermittelt und von dem des Lebensmittels abgezogen.

Fertig waren die Atwater-Tabellen. Die auch heute, 120 Jahre später, in den meisten Apps und Tabellen als Grundlage verwendet werden. Klingt gut wissenschaftlich und solide. Und täuscht darüber hinweg, dass das tatsächlich oft so nicht stimmt. Denn wir haben da fünf Probleme, die zu erheblichen Abweichungen führen können.

Erstens: Die Angaben auf den Packungen.
Nahrungsmittelhhersteller dürfen die Kalorienangaben auf den Packungen selber ermitteln. Und das führt dazu, dass die – trotz Kontrollen – oft nicht stimmen. Letztes Jahr hat ein Forscherteam von der Tufts University 39 gängige TK-Gerichte untersucht. Die im Durchschnitt alle zwischen 8 und 18% mehr Kalorien hatten als angegeben. Und das macht einen gewaltigen Unterschied. Wer jeden Tag einen Überschuß von 100 kCal hat, nimmt im Jahr auch vier, fünf Kilos zu.

Zweitens: Essen gehen
Auch für die Standardgerichte, die man in Restaurants so bekommt, gibt es Kalorientabellen. Aber sobald man sein Gericht bestellt hat, ist man da in Gottes Hand. Oder in der Hand des Kochs. Einen Löffel Sauce mehr und ein paar Croutons zusätzlich machen aus der großen Schüssel griechischen Salats ein Gericht von 800 Kcal. Statt, wie in der Tabelle angegeben 500. Wer also oft essen geht oder gehen muss, kann das Zählen wahrscheinlich lassen.

Drittens: Die Zubereitung
Kalorien sind in den Zellen versteckt. Wenn wir an die Kalorien in unserem Essen dranwollen, dann müssen wir erst einmal die Zellwände des Dinners knacken. Bei rohen Nüssen sind wir da einfach nicht gut genug, da scheiden wir 20% des Brennwerts wieder aus, bevor wir mit Zellwandknacken fertig sind. Klingt wie eine gute Nachricht, isses aber nicht. Denn wir essen das meiste ja gekocht. Kochen ist in diesem Fall eine Art Vorverdauung. Die Zellwände werden beim Braten, Grillen, Sautieren oder eben Kochen schon einmal für uns aufgebrochen. Und wir kommen besser an die Kalorien. Weil man das blutige Steak nicht so gut verdauen kann wie das durchgebratene, hat das gleiche Stück Fleisch dann schon einmal 100 oder 200 kCal mehr.

Viertens: Der Metabolismus
Ja, es gibt gute und schlechte Verwerter, daran gibt es keinen Zweifel mehr. Viele Faktoren beeinflussen, wie gut wir Kalorien aus unserer Pizza saugen. Die wichtigsten sind Körperfettanteil, die Größe der Leber und wieviel Cortisol wir gerade im Körper haben. Ein Stress-Hormon, dass mitentscheidet, wie dringend das Essen für uns gerade ist. Das kann bei zwei Personen des gleichen Geschlechts, Gewichts und Alters zu einem Unterschied von 600 kCal im Tagesbedarf führen.

Fünftens: Die Mikroben
Die meiste Arbeit bei der Kaloriengewinnnung erledigen ja Untermieter. Mikroben, die im Darm Nahrung aufschließen und für uns erst zugänglich machen. Und wie diese und ihre fragile Balance in unserem Darm beeinflusst wird, kann ganz entscheidend sein. Aber da wissen wir nicht viel darüber, auch wenn in den letzten Jahren da vermehrt geforscht wird. Im November z.B. hat ein Studie nachgewiesen, wie Risperidon – ein Mittel zur Behandlung von Psychosen – die Darmflora so verändert, dass Behandelte deswegen 10% in einem Jahr zunehmen, trotz gleicher Ernährung und obwohl sie vorher stabil ein Körpergewicht halten konnten.

So. Ernüchternd, oder? Wenn man alle diese Unwägbarkeiten berücksichtigt, dann kommt man leicht auf eine Schwankung von 200 – 300 kCal am Tag. Was die normale Diätempfehlung ist. Allen Personen, denen ich heimlich schummeln unterstellt habe: Tut mir leid! Ihr hattet recht und ich nicht.

Ist das Kalorienzählen also obsolet. Wahrscheinlich nicht. Scheint mir immer noch das Beste zu sein. Aber noch sicherer fährt man wahrscheinlich, wenn man sich einfach mehr bewegt. Und schaut, dass das Essen nicht alles zu processed ist. Durchgekocht, aufgewärmt und matschig, batzig vorverdaut.

Puh, das war lange, sorry.
Jetzt hab’ ich erst einmal Hunger!


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 February 1, 2016  14m