Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0361: Fünf Minuten


Wie jeder angehende Hypochonder von Doktor Internet weiß: Egal, wo die Beschwerden sitzen und welche Beschwerden es auch sind. Es ist immer Krebs. Und nie Lupus. Muss heute auch Max Oberberger lernen…

Download der Episode hier.
Opener: „You’re Goona Die Clown“ von l008comm
Closer: „The Good, The Bad & The Ugly Were you gonna die alone?“ von deepfield23
Musik: „Life Should Be So Wonderful“ von Noam Bonatti / CC BY-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Frau Doktor Pamuk arbeitet seit vier Jahren in der kleinen Allgemein-Arzt-Praxis, in der das heutige Hörspiel spielt. Wir sehen sie am Schreibtisch sitzen und auf den nächsten Patienten warten.
Die Sprechstundenhilfe öffnet die Tür und kündigt den Besuch von Herrn Max Oberberger an. Genau genommen sagt sie etwas wie; „Der Oberberger schon wieder.“

Max Oberberger ist ein klassischer Hypochonder und ca. einmal die Woche bei Frau Doktor Pamuk zu Gast. Vielleicht deswegen verdreht die junge Ärztin die Augen, als sie die Ankündigung hört.

P: Na gut, schick’ ihn ‘rein, Petra…

M: Hallo, Frau Doktor!
P: Guten Tag, Herr Oberberger. Einen Moment Geduld bitte, es dauert ein bisschen, bis der Rechner ihre Karteikarte geladen hat. Sind wahrscheinlich schon ein paar Gigabyte mittlerweile…
M: Kein Problem, Frau Doktor. Ich hab’ ja Zeit. Hab’ ja eh’ schon zwei Stunden im Wartezimmer gesessen, da kommt’s auf ein paar Minuten nicht an.
P: Ja, es gab einige dringende Fälle heute.
M: Frau Doktor, ich hab’ mir da ‘was überlegt.
P: Haben Sie endlich beschlossen, doch einmal einen Psychiater aufzusuchen.
M: Nein, das meine ich nicht. Was ich meine ist, na ja, nachdem wir uns ja so regelmäßig sehen… Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich Max zu nennen.
P: Wie bitte?
M: Ja, weil wir uns so gut kennen…
P: Von mir aus, Herr Oberberger.
M: Max! Und wie soll ich Sie ansprechen.
P: Frau Doktor Pamuk wäre in Ordnung.
M: Ah. O.k. Gut…

(Pause)

P: So, da wäre die Akte. Was haben wir denn heute, Herr Oberberger?
M: Max! Ich bin heute beim Duschen ausgerutscht und hingefallen. Als ich mich nach der Seife gebückt habe. Gott sei Dank bin ich nicht im Gefängnis, denn das mit der Seife passiert mir regelmäßig…

(Pause)

P: Und jetzt soll ich Ihnen eine Duschlotion verschreiben, oder was?
M: Nein, nein, nein. Aber: Gute Idee. Das muß ich mir gleich aufschreiben…
P: Können Sie sich das bitte später aufschreiben, Herr Oberberger?
M: Max! Ja, klar, klar. Kein Problem.

P: Wie geht’s dem Ihrem Hautausschlag. Wegen dem Sie ja am Donnerstag da waren?
M: Dem geht’s gut, Frau Doktor. Oder eigentlich geht’s ihm schlecht, aber mir geht’s gut. Die Tabletten, die Sie mir verschrieben haben, haben sofort geholfen. Wie hiessen die noch einmal?
P: Placebo forte. Die ich Ihnen immer verschreibe…
M: Ja, genau. Vielen Dank!
P: Und was gibt’s heute für Beschwerden?
M: Keine, Ihre Behandlung wirkt immer Wunder bei mir, Frau Doktor!
P: Ich meine, haben Sie irgendwelche Symptome, Herr Oberberger?
M: Max. Na ja, seit dem ich da also ausgerutscht bin, in der Dusche, wegen der Seife halt – seitdem habe ich heftige Kopfschmerzen.
P: So so so. Na ja, da müssen wir wohl ein Röntgenbild machen lassen. Zur Sicherheit. Ich gebe Ihnen diese Überweisung mit und Sie gehen dann runter in die Radiologie – den Weg kennen Sie ja – und kommen mit dem Bild wieder zu mir, ok. Sie sind mein letzter Patient, also kommen Sie auch gleich an die Reihe.
M: Gut, vielen Dank! Bis gleich dann, Frau Doktor Pamuk.

Sagt’s und geht. Und kommt nach einer halben Stunde mit einem großen Kuvert wieder. Frau Doktor Pamuk schaltet die Leuchttafel ein und klemmt das Röntgenbild fest.

P: (pfeift)
M: Was ist, Frau Doktor? Was sehen Sie?
P: Huiuiuiui…
M: Was bedeutet das?
P: Das bedeutet: Dieses Mal wird Ihnen Placebo forte nicht wirklich helfen, Herr Oberberger.
M: Max. Äh, Wieso nicht, Frau Doktor?
P: Weil es dieses Mal ‘was Ernstes ist.
M: Wie ernst?
P: Sehr ernst.
M: Wieso? Was habe ich, Frau Doktor? Ist es doch die Pest, wie ich immer vermutet habe?
P: Nein, es ist nicht die Pest, Herr Oberberger!
M: Max. Puh, na das ist aber eine Erleichterung!
P: Sie haben einen Gehirntumor, Herr Oberberger!
M: Max. Oh. Das ist schlimm, oder? Kann man den operieren?
P: Ihr Gehirntumor ist riesengroß. Ich würde sagen: Ungefähr die Größe von Tywin Lannister.
M: Tywin – was?
P: Ach, kucken Sie nicht „Game of Thrones“?
M: Was? Ich habe einen Tumor wie eine Figur aus einer Fernsehserie?
P: Schon gut, ich erkläre es Ihnen anders: Ihr Tumor ist riesengroß. Terminal. Tödlich. So wie in: ‘Kann man nichts mehr machen’-groß.
M: Wie bitte?
P: Sie sind sehr, sehr krank, Herr Oberberger.
M: Ich hab’s doch immer gewusst! Hah! Da wird meine Frau sich aber ärgern! Die hat mich immer für einen Hypochonder gehalten.
P: Im Ernst?
M: Aber, aber… Dann muss ich sterben?
P: Wir alle müssen sterben, Herr Oberberger. Sie nur ein bisschen balder.
M: Wie bald? Wieviel Zeit bleibt mir noch?
P: Hm. Warten Sie kurz. Also bei der Größe des Tumors… Und bei Ihrer Konstitution. Ich würde sagen: Fünf Minuten – max.

Es wird sehr still in der Praxis. Im Wartezimmer blättert jemand in der „Frau im Spiegel“. Man kann das hören.

M: Sie haben mich Max genannt…
P: Ich meinte „maximal“, Herr Oberberger. Fünf Minuten maximal.
M: Aber fünf Minuten – das ist ja gar nichts! Da kann man ja überhaupt nichts damit anfangen! Kann man das nicht mit Tabletten verlangsamen?
P: Tja, vielleicht. Aber bis Sie zur Apotheke kommen…
M: Oder eine Not-OP. Sie. Hier. Mit dem Skalpell. Schnell!
P: Ich bin Internistin, nicht Hirnchirurgin. Tut mir leid, Herr Oberberger.
M: (ungeduldig) Max! Aber in fünf Minuten! Da kriege ich ja nicht ‘mal mehr einen ordentlichen Haarschnitt! Und da kriege ich nichts mehr von meiner Bucket List erledigt! Wo hab’ ich sie nur gleich…
P: Bucket List?
M: Ja, die Liste der Dinge, die ich noch erledigen will, bevor ich sterbe. Ich meine, das ist so unfair! Ich bin ja noch eine männliche Jungfrau!
P: Laut der Karteikarte sind sie verheiratet. In eine Frau, Herr Oberberger!
M: (aggressiv) Max! Was hat denn meine Frau damit zu tun! Die ist keine Jungfrau mehr, so viel ist sicher! Ah, hier ist meine Liste!
P: Wow, die ist ja locker zwei Meter lang!
M: Also, also… Was kann man in fünf Minuten..
P: Eher zwei, würde ich sagen.
M: Also in zwei Minuten… Nummer eins: Sex haben!

Max Oberberger blickt zu Frau Doktor Pamuk. Die schüttelt stumm den Kopf.

M: Nummer zwei: Bungee-Jumpen. Das ist eh’ eine blöde Idee – das wollte ich ja nur wegen meiner Höhenangst. Das ist ja jetzt wurst. Was noch? Kunstgeschichte studieren. Dazu reicht die Zeit sicher nicht mehr. Sich richtig vollaufen lassen. Oh, Mann – selbst das krieg’ ich nicht mehr hin. Was noch? Nicht sterben. Haha. Sehr witzig – manchmal war ich schon witzig, oder?
P: Das weiß ich nicht, Herr Oberberger…
M: Max! Verdammt noch einmal: Max! Ich verbringe hier die letzten Minuten meines Lebens mit Ihnen! Könnten Sie nicht wenigstens so TUN, als würden Sie mich kennen? Ich meine, ich bin hier wahrscheinlich 200 Mal gewesen – Sie kennen mich und meinen Körper besser als meine Frau! Ist es da zuviel verlangt, mich Max zu nennen? Statt „Herr Oberberger“? Das sind doch nur Buchstaben! Ich meine – ich habe nur noch zwei Minuten!
P: Eher nur noch eine… Max!
M: Na danke! Endlich! Also, was ist noch auf der Liste? Mein Gott, mein Gott, mein Gott: Ah, da hab ich’s: Eine echte Frau küssen! Darf ich Sie küssen, Frau Doktor Pamuk?
P: Das kommt überhaupt nicht in Frage, Herr Oberberger!
M: Max! Verdammt noch einmal: Max! Das ist mein letzter Wunsch! In den letzten Sekunden meines Lebens.
P: Also… Na gut. Wenn es UNBEDINGT sein muss… Max. Aber ohne Zunge!

Frau Doktor Pamuk schließt die Augen. Und spitzt ihre Lippen. Trotzdem wirkt sie leicht angeekelt. Max Oberberger geht langsam auf sie zu. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte… und fällt dann tot um.

P: Hoppla. Puh, na das ist ja gerade noch einmal gut gegangen…


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 January 15, 2016  14m