Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0360: Jules und Jim


Jeder hat so seine Lieblingsfilme, ich auch. Einige werde ich hier in Zukunft am Donnerstag besprechen. Anfangen möchte ich diese Reihe mit „Jules und Jim“ – einem Klassiker aus dem Jahre 1962. Der nicht nur wenig gealtert ist, sondern auch heute noch Kultstatus besitzt.

Download der Episode hier.
Opener: „Jules und Jim – Trailer“ von SC VOD GER
Musik: „Jules et Jim – Le tourbillon (1962)“ von Jean Matic

+Skript zur Sendung
Eigentlich war es eine der Grundideen dieses Podcasts, dass ich auch von meinen Lieblingsfilmen schwärmen kann. Aber irgendwie habe ich das noch nie so richtig gemacht. Also fangen wir eine neue Reihe an: „Explikator’s Digest“. Sozusagen. Und anfangen möchte ich mit „Jules und Jim“.

Klar werde ich dabei Handlung spoilern, aber das macht in diesem Fall nicht so viel aus. Nach dieser Sendung könnt ihr den Film vielleicht sogar mehr genießen als vorher. Wenn ihr ihn noch nicht kanntet.

„Jules und Jim“ ist ein Film aus einer Zeit, als Schwarz-Weiß-Film noch billiger war als Farbfilm. Wie jeder weiß, der analog fotografiert, ist das nun ja nicht mehr so. Also ein Schwarz-Weiß-Film.

Er handelt, entgegen des Titels, eigentlich von Catherine. Gespielt von Jeanne Moreau, in ihrer ersten wichtigen Rolle. Aber Jules – ein junger Mann aus Österreich, gespielt von Oskar Werner – und Jim – ein junger Franzose, gespielt von Henri Serre – kommen natürlich auch vor.

Viele Quellen beschreiben den Film als eine komplizierte Dreiecksgeschichte. Eine Menage a trois. Aber das ist so nicht ganz richtig. Wir stellen uns das dann 2016 falsch vor. Der Film stammt aus anderen Zeiten. Alle Figuren sind heterosexuell. Und gehen mit Schlafanzug ins Bett. Und wenn es zu Sex kommt, dann immer brav ein Mann und eine Frau.

Aber natürlich geht es um die Liebe zwischen diesen drei Personen. Zuerst lernen sie Jules und Jim kennen. Und obwohl sie grundverschieden sind, teilen sie doch auch einige Leidenschaften. Sie sind schwärmerische, junge Intellektuelle. Etwas, das es in dieser Form gar nicht mehr gibt. Sie tauschen Picasso-Drucke, diskutieren über Baudelaire, zitieren Shakespeare und bringen sich gegenseitig ihre Muttersprache bei.

Und sie sind beide auf der Suche nach der Liebe ihres Lebens. Die sie aber nicht finden können. Was auch kein Wunder ist, denn ihre Freundinnen sind eigentlich nur schwer zu ertragen und werden beinahe bösartig in Szene gesetzt. Bis sie sich eines Tages in das Lächeln einer klassischen Statue verlieben. So arg, dass sie sogar extra nach Griechenland fahren, um das Original zu sehen.

Und dann lernen sie Catherine kennen. Die genau dieses Lächeln hat. Und beide verlieben sich in diese junge Frau. Aber – ganz beste Freunde, die sie sind – einigen sich darauf, wer den Vortritt hat. „Dieses Mal nicht, Jim“, sagt Jules.

Und so verbringen die drei eine wunderschöne Zeit. Die Geschichte spielt im Jahr 1912, also vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wir sehen viele Szenen, die von einer gespenstischen Leichtigkeit sind. Gerade Catherine steht da auch für einen neuen Frauentyp. Für einen Sex-Appeal, der nicht durch tiefen Ausschnitt oder kurze Röcke vermittelt wird. Sondern durch eine Mischung aus Intellekt und spielerischem Leichtsinn. Wir als Zuschauer verlieben uns mit den beiden. In alle drei Protagonisten.

Jules heiratet Jim und zieht weg. Der Krieg kommt. Das Trio ist lange getrennt.

Als Jim die beiden nach dem Krieg besucht, ist aber etwas verändert. Jules und Catherine haben eine Tochter, aber ihre Ehe ist zerrüttet, wie man altmodisch sagt. Catherine kann an der Seite von Jules nicht glücklich werden. Zu treu und zu tief ist dieser in sie verliebt. Zu zurückhalten vielleicht.

Sie hat wohl einige Affären, aber Jules läßt das zu. „So ist sie eben“, meint er zu seinem Freund Jim. In einer Szene rattert sie eine lange Liste mit Namen von Rotweinen herunter, wahrscheinlich tröstet sie auch der Alkohol über die eigene innere Leere hinweg.

Jules läßt Catherine mit Kim ziehen, so groß ist seine Zuneigung zu den beiden. Denn die Leichtigkeit läßt sich nicht mehr herstellen. Der Krieg hat auch etwas in dem Trio zerbrochen. Oder in Catherine. Diese Beziehung gestaltet sich anders. Denn Jim ist keineswegs jemand, der Konflikten aus dem Weg geht. Und will auch keine Kinder mehr haben. Das führt zu einem heftigen Streit, in dem Catherine Jim zu töten droht. Die Beziehung zerbricht.

Erst im Jahre 1933 treffen sich die drei zufällig wieder. Und versuchen sich sehr vorsichtig wieder anzunähern. Aber bei einem Ausflug stürzt sich Catherine zu Tode und reißt Jim mit in den Tod. Jules bleibt alleine zurück.

Die federleichte und todtraurige Geschichte einer glücklichen Jugend, die vergangen war. Von Wünschen, Projektionen, Masken und von unerfüllter Liebe. Von Leben, das nicht gelebt werden kann – obwohl alle ihr Bestes geben und wollen. Fast eine griechische Tragödie, aber so menschlich und natürlich erzählt, dass man am Ende keine Bitterkeit empfindet. Nur eine leichte Melancholie und ein kleines Schmunzeln.

Das ist für mich der wichtigste Film von Francois Truffaut und einer der zwei Filme der Nouvelle Vague, die man gesehen haben muss. „Atemlos“ ist der andere.

Diese Nouvelle Vague, das war eine neue Art von Autorenfilm. Und der Weg in eine ganz neue Art von Kino. Wir haben das Autorenkino getauft. Ohne Truffaut, Chabrol, Godard, Rivette und Rohmer – ohne diese jungen Filmemacher aus Frankreich – wäre das Kino ein anderes geworden.

Sicher hätte es auch kein „Neues deutsches Kino“ gegeben, keinen Fassbinder, Schlöndorff, Alexander Kluge, Werner Herzog oder Wim Wenders. Aber auch kein „New Hollywood“, keinen Scorcese, Coppola, Bogdanovich oder Polanski. Wahrscheinlich nicht einmal einen Spielberg oder Lucas.

Aber nicht nur das neue künstlerische Konzept des Autorenfilms ist an diesem Film so besonders, sondern auch die Art wie organisch, weich und fließend die Geschichte erzählt wird. Besonders die subjektive Kameraführung zeichnet „Jules und Jim“ aus.

Während man in Amerika immer noch klassisch filmt, also: Einstellung A, Schnitt, Einstellung B, Gegenschnitt – bewegt sich die Kamera hier, als ob man die Szene selber betrachtet und erst von einem zum anderen blickt, dass etwas genauer anschaut und dann gar vielleicht den Blick schweifen lässt. Die berühmte, oft kopierte Fahrradszene – eine der leichten Stellen im Film – wurde gedreht, indem man eine Kamera auf ein Fahrrad montierte, dass Catherine und ihren Freunden voraus fuhr.

Und als Chatherine, verkleidet als Thomas, in einer anderen berühmten Einstellung, mit den beiden Männern über eine Brücke rennt, läuft der Kameramann genau in ihrem Rhythmus ihr voraus.

Das ist einfach und einleuchtend, aber 1962 war das eine kleine Revolution.

Wenn ihr Filme mögt wie „Thelma und Lousie“, „Bonnie and Clyde“ oder meinetwegen auch „500 Days of Summer“, dann solltet ihr euch auch das Original anschauen. „Jules und Jim“ – der erste Film, bei dem man als Zuseher einfach nicht weiß, ob man eine Tragödie oder eine Komödie sieht.

Ein Film, der den Betrachter nicht nur erzählerisch auf eine Reise mitnimmt, sondern auch emotional. Eigentlich, denke ich mir gerade, schon 1962 der erste Hippie-Film.

Einer meiner Lieblinge.


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 January 14, 2016  11m