Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0348: Der Psycho-Graphologe


Habt ihr auch als Jugendlicher geübt, wie ihr eine coole Handschrift vortäuschen könntet? Und eine geile Unterschrift noch dazu? Hat wohl jeder. Denn wir denken, unsere Schrift verrät etwas über unseren Charakter. Das dachte auch der berühmte Rafael Schermann, Psycho-Graphologe und Privat-Detektiv. Wir begleiten ihn heute auf einem seiner Fälle.

Download der Episode hier.
Opener: „Graphology or Handwriting Analysis“ von Mike Mandel Hypnosis
Closer: „Can’t Read, Can’t Write“ von Gunther Farmer
Musik: „Let It In (2010)“ von Josh Woodward / CC BY 3.0

+Skript zur Sendung
Graphologie ist die Wissenschaft von der Handschrift. Wobei der „Begriff“ Wissenschaft da wohl nicht so ganz richtig ist. Der Herr aus dem Intro irrt sich komplett. War man noch in den 50ern und 60ern bereit, für graphologische Gutachten Geld auszugeben, so gelten die zentralen Behauptungen der Graphologie mittlerweile alle als unwissenschaftlich. Unsere Handschrift lässt wohl keinen Schluss auf unseren Charakter zu. Große Unterlängen bedeuten nicht Arroganz, ein Neigung nach links keine nostalgische Ader.

Doch vor ca. 100 Jahren war nicht nur die Graphologie noch recht populär. Allgemein gab es in der Gesellschaft einen Drang zu – sagen wir ‘mal – Mystischem. Es ist die große Zeit der Theosophie, Heilslehrer, Wahrsager, Gedankenleser und kruder Ernährungsberater. Im Kämmerlein schnitzt Rudolf Steiner an der Anthroposophie. Eine Zeit, wo man, wie in Sendung 120 berichtet, auch bereit war, mit hochradioaktiven Substanzen zu gurgeln.

Das war auch die Zeit von Raphael Schermann. Einem kleinen, drahtigen Mann in einem gepflegten, aber etwas altmodischen Anzug. Kantige Gesichtszüge. Eher Typ Geschäftsmann als ein Hellseher. Und mit einer seltenen, besonderen Gabe gesegnet.

Die heutige Geschichte spielt also im Wien des Jahres 1922. Im Schottenring, in der Innenstadt. In einer der großen Banken, die da wie Perlen an einer Kette aufgereiht sind.

Der Direktor hatte gerade seine Sekretärin gebeten, den Kassendurchschlag für die Überweisung von 40 Millionen tschechischen Kronen auf das Konto von Herrn Goldenwasser zu holen.

Doch diese kehrt mit leeren Händen zurück. Der Hauptkassenwart kann den Beleg nicht finden. Also muss er beim Direktor vorstellig werden. Wahrscheinlich etwas nervös.

„Es ist seltsam, aber wir können nirgends einen Beleg finden. Auch keiner der anderen Kassierer weiß irgendetwas über den Vorgang. Aber er muss irgendwo sein. Der Eintrag im Kontenverzeichnis ist ganz deutlich. Und wer ist dieser Goldenwasser überhaupt? Überweist 40 Mio. Kronen und hebt die dann nach zwei Wochen wieder ab? Das ist doch hochseltsam!“

Große Aufregung in der Bank. Denn die Summe, umgerechnet an die 150.000 Euro war bereits an das von Herrn Goldenwasser angegebene Konto bei einer anderen Bank überwiesen worden. Und dort auch abgebucht!

Die Hausdetektive von der Zentrale waren ruck-zuck vor Ort und sorgten für große Aufregung in der Bank. Die haben es richtig wichtig – das ist keine kleine Sache und irgend jemand muss für diesen Verlust aufkommen! Ein Detektiv läuft zu der Adresse, wo dieser ominöse Herr Goldenwasser laut seinen Angaben lebt – aber, ihr könnt es euch denken – in Wirklichkeit kennt da niemand einen Goldenwasser. Die Adresse war erfunden.

Kriegsrat im Zimmer des Direktors. Alle Kassierer studieren das betreffende Kontenblatt und sind sich schnell einig – den Eintrag hat Frau Schwarz gemacht! Eine langjährige, zuverlässige, fleißige und bei den Kollegen und Vorgesetzten beliebte Mitarbeiterin. Wenn man ihre Handschrift mit dem Eintrag im Goldenwasser-Konto vergleicht, dann kann es da keine Zweifel geben. Das bestätigt auch der Experte für Graphologie, den die Zentrale auch schnurstracks geschickt hatte.

Und so wird Frau Schwarz gerufen. Und schwört Stein auf Bein und unter Tränen, dass der Eintrag nicht von ihr ist. Das sie das nie geschrieben hat! 12 Jahre arbeitet man sich auf und jetzt so eine Verdächtigung!

Ach, ich stelle mir die Szene wie in einem Stummfilm vor. Mit den großen Gesten und den reingeschnittenen Schrifttafeln für den Dialog. Und begleitet von dramatischer Pianomusik.
Gerade ziehen die Detektive die Handschellen und wollen Frau Schwarz verhaften.

Da betritt unser Held die Szene! Raphael Schermann. Der große Schermann. Seines Zeichens Psycho-Graphologe und Privat-Detektiv. Mit dieser besonderen Gabe Gottes. Die er jetzt zum Wohl der Allgemeinheit einsetzt. Jeden Nachmittag empfängt er in seinem kleinen, unordentlichen Büro Klienten. Und nimmt dabei von reichen Kunden viel Geld und arbeitet für Mittellose schon ‘mal umsonst.

Denn, wenn Schermann einen Brief, eine Karte, irgendetwas Geschriebenes berührt, dann entsteht vor seinem geistigen Auge ein Bild des Schreibers. Gar ein ganzer Film. Und nicht nur das: Er kann in dessen Vergangenheit blicken, seine Gefühle und Motive verstehen. Eine Art psychologische Analyse, ein Seelenbild des Schreibers zeichnen.

Da steht also der Psycho-Graphologe mit dem kantigen Schädel und untersucht die Notiz von Frau Schwarz im Kontenblatt. „Halt!“ gebietet er den Detektiven Einhalt! „Die Frau ist unschuldig! Dieser Eintrag ist eine Fälschung! Das ihr das nicht erkannt habt!“

Er starrt auf den Eintrag, beginnt zu zittern, Schweiß läuft über seine Stirn. Plötzlich ist von seinen Augen nur noch das Weiße zu sehen.

„Der Fälscher war ein Mann. Aber der hat das nicht geplant. Er war nur angeheuert. Ein unsicherer Mann, ohne eigenen Willen. Er ist kurz gewachsen und ungeschickt, hat eine fleischige Nase und einen verschwommenen Blick. Er sitzt viel und arbeitet etwas, das viel Aufmerksamkeit und Präzision bedarf. Ich denke, er ist ein Uhrmacher. Aber er ist nicht der Kopf bei diesem Betrug.“

Und so untersucht Schermann das Schreiben vom falschen Goldenwasser. Und verfällt wieder in eine Art kurzer Trance. „Das ist der Betrüger! Ein junger Mann, adrett, schlank. Kluge, dunkle Augen. Er will fliehen. Wir müssen ihn gleich fassen! Und ich sehe seine Eltern, in ihrer schäbigen Wohnung – die wollen sich umbringen, sie wissen von der Tat. Wenn ich ihn nur besser sehen könnte…

Er arbeitet hier in der Bank! Wenn ich alle Angestellten sehen kann, dann kann ich ihn erkennen! Ich bin mir sicher, er wird gestehen!“

Das ist der Plan und so kommt’s. Herr Schermann sitzt an einem Tisch und ein Bankbeamter nach dem anderen kommt vorbei. Schreibt einen kurzen Satz „Ich habe nichts mit dem Betrug und den 40 Millionen Kronen zu tun“ und unterschreibt darunter.

Plötzlich springt der Psycho-Graphologe auf und greift den Arm eines jungen, schlanken und adretten Beamten: „Sie sind der Betrüger!“

„Sie heißen Ludwig Neumann! Aber sie haben mit Louis Neumann unterschrieben. Sie haben einen gefälschten Pass auf den Namen Louis Nauheim in der Tasche und wollen nach Frankreich flüchten! Bestreiten Sie das nicht – ich habe es gesehen! Und das wird Ihren Eltern das Herz brechen! Ihr Sohn ein Verräter! Gestehen Sie – wenn Sie das Geld zurückerstatten, lassen wir sie gehen!“

Doch Herr Neumann war gerade etwas ohnmächtig geworden. Aber gesteht dann tatächlich alles. Und verrät auch seinen Komplizen, dem er das Kontobuch zum Fälschen gebracht hatte. Der mit der fleischigen Nase und den wässrigen Augen. Uhrmacher von Beruf.

Dieser Kriminalfall sollte Raphael Schermann noch bekannter machen, als er eh’ schon war. Zu seiner lukrativen Tätigkeit als Detektiv für Banken und Versicherung kamen bald noch Reisen durch die europäischen Großstädte.

1923 besucht er Amerika und kann dort mit seinen Fähigkeiten selbst die härtesten Skeptiker überzeugen, die ihm bestätigen, dass er zwischen 70 und 80% Trefferquote bei seinen Behauptungen hat.

In Wien hatten ihm schon mehrere Psychologen seine Fähigkeiten attestiert. Sie fanden keine Erklärungen dafür, aber er bestand die meisten Tests spielerisch.

Der renommierte Prof. Benedickt von der Universität in Wien hatte gar ein Buch über ihn geschrieben. Es heisst „Experimente mit Rafael Schermann.“

Und auch der oben beschriebene Vorfall ist polizeilich aktenkundig. Die Bank hatte zwar nicht ihren Beamten angezeigt, wie versprochen, aber den ebenfalls geständigen Uhrmacher durchaus.

In den unruhigen 30ern verlieren sich die Spuren von Herrn Schermann. Nach dem „Heim ins Reich“ Österreichs 1938 zog er wieder zurück in seine Heimatstadt Krakau. Was keine gute Entscheidung war. Gegen Ende des Krieges wird er wohl wahrscheinlich ein Opfer des Naziterrors.

Der berühmte Schermann. Der einzige seiner Zunft. Der einzige Psycho-Graphologe.


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 December 16, 2015  14m