Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0346: Der Brigelli-Effekt


Eines der Versprechen des Internets ist nicht wahr geworden. Statt ein Hort der Information und des Diskurses zu werden, ist es eher der Ort für Hass und Häme geworden. Aber für dieses Phänomen muss es doch auch in der Wissenschaft einen Ausdruck geben. „Troll“ ist da doch zu schwach und ungenau.

Download der Episode hier.
Erählmirnix: Der Brigelli-Effekt
Beitragsbild: By Paul Stevenson from Leeds, UK (The Poop Monster) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
Opener: „Harry Frankfurt ‘On Bullshit‘“ von Burchell Sensei
Closer: „Bullshit is everywhere“ von ScreechingKettle
Musik: „Bullshit“ von Tricky M / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Ich, ganz persönlich, halte ja überhaupt nichts von der Demokratie. Besser wäre die eingeschränkte Monarchie. Oben sitzt ein einziger Macher, ein König und der schafft an. Und eingeschränkt, weil das natürlich nur Sinn macht, wenn ich der König bin. Und das strebe ich ja in Wirklichkeit mit diesem Podcast auch an, wie Stammhörende ja wissen.

Aber im Ernst: Wenn man die Kommentare auf YouTube, Spiegel Online oder einfach nur in Facebook liest oder sich in irgendeinem Internetforum engagiert, dann bekommt man schon Zweifel, ob es so schlau ist, Volkes Stimme überhaupt zu hören. Entweder es posten bevorzugt die Doofen oder die Masse des deutschen Volkes ist doof.

Aber doof ist ein zu ungenauer Begriff. Das sollten wir uns einmal wissenschaftlich anschauen. Welcher Begriff, welcher Effekt, welches Syndrom oder welche Krankheit beschreibt am besten, was da im Internet stattfindet?

Da fällt mir zuerst der Brigelli-Effekt ein. Es ist sehr leicht, Fachwissen vorzutäuschen, wenn man Informationen ohne zweifelinduzierende Begriffe wie „meiner Meinung nach“ oder „weist daraufhin, das“ als Fakten präsentiert, dazu noch einige fachlich klingende Begriffe einbaut, die auch erfunden sein können, weil es eh’ keiner nachprüft und dazu die Floskel „neuesten Studien zufolge“ nutzt. Das nennt sich „Brigelli-Effekt“ und aktuelle Untersuchungen zeigen, dass damit Autorität vermittelt wird und Menschen dann auch erfundene Informationen ohne nachzuprüfen glauben.

Der Brigelli-Effekt. Wenn es ihn nicht schon gäbe, dann müsste man ihn erfinden. Und darum hat das Nadja Hermann in ihrem Blog „Erzählmirnix“ ja auch getan. Mit dem obigen Schachtelsatz in einem ihrer typischen Webcomics. Was das Ganze nur umso schöner macht, Link wie immer auf der Website.

Auch wenn es den Brigelli-Effekt nicht gibt, so muss es doch Fachbegriffe geben, besonders in der Psychologie, die beschreiben, was in den Foren und Kommentarspalten deutscher und internationaler Webangebote so passiert.

Denn so etwas wie Godwin’s Law ist ja auch nicht wissenschaftlich und reicht auch nicht.
Kennt ihr nicht? Godwins Law besagt: „Je länger eine Diskussion in einem Forum dauert, desto mehr nähert sich die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Nazi-Vergleich postet, dem Wert Eins.“ Das ist zwar wahr und genauso gut beobachtet wie der Brigelli-Effekt, aber halt wieder kein Fachausdruck.

Nee, was wir brauchen, das ist ein richtiger, belastbarer psychologischer Begriff. Wie wäre es zum Beispiel mit der „Konfabulation“? Konfabulare ist Latein und lässt sich positiv mit „plaudern“ übersetzen, bösartig eher mir „schwafeln“. Schauen wir also in das tonangebende Wörterbuch der Psychotherapie, lesen wir da: „Mehr oder weniger missglückte sprachliche Situations-Angleichung.
Erzählen von Vorgängen, die entweder nur in der Phantasie des Kranken existieren oder in keinem Zusammenhang mit der gegebenen Situation stehen. Zum Begriff gehört eine starke subjektive Überzeugung von der Richtigkeit des Gesagten, die durch keine Argumente zu erschüttern ist. Dies
unterscheidet die Konfabulation von der Pseudologia phantastica, bei der nur im Augenblick an die Phantasie-Produkte geglaubt wird, diese aber durch Konfrontation mit der Wirklichkeit korrigiert werden können.

Kranke? Moment, schauen wir mal bei den Psychologen nach, wann das Konfabulieren so vorkommt. Da heißt: Bei Hirnatrophie, organisch bedingter Psychose und bei kognitiven Beeinträchtigungen durch chronische Alkoholabhängigkeit (hier vor allem beim Korsakow-Syndrom).

Na, das geht ja nicht. Es können ja nicht alle Internet-Hater, Flamer und Idioten ein zurückgebildetes Hirn haben. Und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die wirklich alle trinken. Obwohl…
Aber da kam ja die Pseudologie ßvor, nehmen wir halt die.
Was schreibt die Wikipedia dazu? „Pseudologie oder Mythomanie ist das krankhafte Verlangen eines Menschen zu lügen. Motivation ist häufig ein Bedürfnis nach Geltung und Anerkennung.“ Das kommt schon eher der Sache näher. Und da steht auch noch: In Abgrenzung zum Wahnhaften im Rahmen von Psychosen oder anhaltend wahnhaften Störungen kann der Pseudologe seine Überzeugung im Licht der Realität revidieren. Jedoch hält die Störung vergleichbar lange an, ohne dass sie von Phasen der Normalität unterbrochen wird. Es finden sich in der Regel keine aktuellen äußeren Anlässe für das Verhalten, so dass ein innerer Anlass als Ursache angenommen werden kann.

Prima, da hätten wir also einen psychopathologischen Begriff. Aber das, was in den Kommentaren da so stattfindet, dass ist ja jetzt nicht lügen. Das trifft’s ja nun auch nicht. Die Trolle lügen ja nicht. Klar, die Indizien deuten schon daraufhin, dass narzisstische Persönlichkeitsstörungen viel mehr verbreitet sind als angenommen. Logisch, aber wir bräuchten eigentlich einen Begriff, der den Inhalt der narzisstischen Postings besser beschreibt.

Und nachdem ich in der Psychologie nicht fündig geworden bin, müssen wir die Philosophie bemühen. Doch, das ist auch eine Wissenschaft. Es gibt halt mehr als MINT.
Und – siehe da – eine Lösung tut sich auf. Der korrekte Fachbegriff für diese Art im Internet zu kommentieren ist…
Clip Trommelwirbel
…Bullshit.

Jawohl. Nachzulesen im wunderschönen Buch „On Bullshit“ des analytischen Philosophen Harry Frankfurt. Als „Bullshit“ auch in Deutschland bei Suhrkamp erschienen. Ein schönes Geschenk für jeden, der beruflich mit sozialen Medien zu tun hat. Eigentlich ist das ganze Buch ein einziger Versuch, Bullshit zu definieren. Aber kurz zusammengefasst sagt Frankfurt:

„Es ist unmöglich zu lügen, außer man denkt, man kenne die Wahrheit. So eine Überzeugung braucht es für Bullshit nicht. Eine Person, die lügt, reagiert damit auf die Wahrheit und respektiert sie dadurch. Wenn ein ehrlicher Mensch spricht, dann sagt er nur, was er für die Wahrheit hält. Und so ist es für den Lügner analog unerläßlich, dass er seine Äußerungen für falsch hält. Für den Bulsshitter hingegen ist alles möglich: Er ist weder auf der Seite des Richtigen noch auf der Seite des Falschen. Sein Blick richtet sich überhaupt nicht auf die Fakten – wie beim ehrlichen Menschen oder dem Lügner, es sei denn, es wäre ihm dienlich mit dem, was er sagt, auch durchzukommen.
Es ist ihm völlig egal, ob die Dinge, die er sagt, die Realität korrekt beschrieben. Er pickt sich Fakten heraus, wie er sie braucht oder denkt sie sich einfach aus. Je nachdem, wie es ihm nützt.“

Da kommen wir schon in die richtige Richtung. Ein Bullshitter ist jemand, dem die Wahrheit sozusagen völlig egal ist. Seine Äußerungen dienen nur dem Zweck Geltung zu gewinnen. Darum trifft das auf die Internet-Trolle, die die Kommentare zumüllen eben so gut zu.

Wir sollten den Begriff „Troll“ abschaffen. Der unterstellt ja eine böse Absicht. In Wirklichkeit hat ein Bullshitter einfach eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Und Bullshit ist die Ausdrucksform.

Und das fällt eben so auf, weil es im Internet so einfach ist, etwas zu publizieren. Vor dem Internet war es sehr schwierig für Bullshitter, ihren Drang auszuleben. Da mussten die Armen entweder Kaufmänner werden oder gar Werber, im Notfall gar Politiker oder in den Klerus.

Alles Berufsbilder, wo ein respektloser Umgang mit der Wahrheit zweckdienlich ist. Oder sein kann.

Aber bloß, weil Bullshitter ein psychologisches Problem haben, heißt das nicht, dass man sie nicht bekämpfen sollte, wo immer sie sind.

Denn wenn wir Bullshit einfach zynisch akzeptieren, untergraben wir eine der Säulen unserer Gesellschaft. Denn natürlich ist es wichtig, dass auch ein Kaufmann oder ein Politiker die Wahrheit sagt. Und nicht nur Bullshit.


fyyd: Podcast Search Engine
share








 December 14, 2015  13m