Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0341: Glykämischer Index


Na, schon einmal eine Diät gemacht? Ich schon. Und ich habe auch Jahre lang immer die neuesten Erkenntnisse der Ernährungsforschung zum Besten gegeben. Aber es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass das alles unwissenschaftlich ist. Wie z.B. der berüchtigte glykämische Index auch.

Download der Episode hier.
Closer: „Homer Simpson mmm compilation“ von Timothy Weaver
Musik: „Hunger“ von GW / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Manchmal entwickelt sich Geschichte sehr, sehr ironisch. Nach hundert Jahren Kampf für eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau z.B.

Wenn man sich heute Medien anschaut, die speziell für Frauen gemacht sind, dann muss man zugeben, dass Diäten immer noch ungeheuer wichtig sind. Frau hat halt schlank zu sein und einen sexy Body zu haben. Gleichberechtigt hin oder her.

Auf Wunderweib.de finden wir die besten Fatburner-Suppen, 5 Kilo weg mit dem Apfeltrick oder sofort 3 Kilo weg mit dem Salat-Trick, die fünf Gemüse, die schlank machen; 29 Sofa-Snacks unter 200 Kalorien oder Abendessen vor dem Schlafen: Ja oder Nein.

Transparenter wird der Wahnsinn noch, wenn man sich all die Diäten am Stück anzeigen lassen kann. Wie z.B. Beispiel bei Website „Frauenzimmer.de“
Da finden wir:
Die Shred-Diät, die Low-Carb-Diät, die Dash-Diät, die 3×15-Regel, die Slow-Carb-Diät, die 8-Stunden-Diät, die Zitronendiät, die Volumetricsdiät, die Protein-Diät, Metabolic Balance, die Precursor-Diät, die 5-Faktor-Welt-Diät, Slimyonik, Selbsthypnose-Diät, die Minus-1 Diät, 24-Stunden-Diät oder, gleich daneben: Die Ein-Stunden-Diät. Dann gibt es noch die Blutgruppen-Diät, die Atkins-Diät, die Büro-Diät und last, but not least: „Die Glyx-Diät: Schlank mit guten Kohlehydraten“

Aleine die Tatsache, dass diese Diäten alle so nebeneinander stehen, ist doch Indiz genug, dass keine davon wirkt, oder? Gäbe es wirklich eine Diät, die nachhaltig aus uns Moppeln Models macht, dann würde man sich doch gar nicht mehr mit den anderen beschäftigen, oder?

Aber Gott sei Dank trifft dieser Wahnsinn jetzt nicht mehr nur die Frauen! Auch wir Männer brauchen jetzt einen Beachbody. Muskeln und ein Sixpack obendrauf. Natürlich heißt der gleiche Quatsch für Männer anders. Da hätten wir die Sexy-Sixpack-Diät, die Powerfood-Diät, die 9 Lebensmittel für schnellen Muskelaufbau, es lässt sich sogar eine Anti-Wampen-Diät finden. Anscheinend brauchen’s Männer irgendwie right in the face.

Aber wenden wir uns dieser Glyx-Diät zu. Die besagt nicht, dass man zum Abnehmen nur glücklich sein muss. Sondern Glyx schreibt sich hier mit Y und X. Und das ist eine saloppe Abkürzung für den sogenannten „Glykämischen Index“. Den gibt’s seit Ende der Achtziger und der wurde lange als Wunderwaffe gegen die nicht angeborene Diabetes propagiert.

Man konzentrierte sich in der Forschung damals auf den Blutzuckerspiegel. Denn man hatte beobachtet, das z.B. 100 Gramm Weißbrot den Blutzuckerspiegel stärker anhoben als 100 Gramm Zucker. Die Idee war, man könne nun jedem Lebensmittel einen bestimmten Wert zuweisen. Sozusagen als Blutzuckerspiegel-Prognose.

Man nimmt nun eine Testperson und lässt sie von einem kohlenhydrathaltigen Lebensmittel so viel essen, das sie 50 Gramm Kohlenhydrate zu sich genommen hat. Das vergleicht man mit dem Blutzuckeranstieg beim Konsum von 50 Gramm Traubenzucker. Und schon hat man eine Ziffer, die man auf ein Lebensmittel kleben kann. Also Traubenzucker hat einen Glyx von 100, Karotten aber nur einen von 70.

Jetzt kann man seine Lebensmittel sortieren und Glyxpunkte sparen. So gehen gleich eine Reihe von Diäten. Nicht nur die Glyx-Diät selber, sondern auch die Montignac-Methode oder die Logi-Methode. Klingt logisch und schön wissenschaftlich, gell?

Ist aber wohl Quatsch.

Forscher vom „Weizmann’s Department of Computer Science and Applied Math“ in Israel legten im November im Fachblatt „Cell“ eine neue Studie vor. Da hat man 800 Freiwillige mit moderner Technik ausgestattet. Zum einen trugen alle ein spezielles Gerät, das alle fünf Minuten den Blutzuckerspiegel maß, zum anderen verfügten sie über eine App, mit der sie genau jede Mahlzeit dokumentierten. Oder ihre körperlichen Aktivitäten. Oder ihren Schlafrhytmus.

Darüber hinaus erhielten sie alle das gleiche, standardisierte Frühstück. So erhielten sie unter gut dokumentierten Bedingungen die Werte von über 45.000 Mahlzeiten von 800 verschiedenen Menschen. So das man auch gut einzelne Probanden miteinander vergleichen konnte.

Diese umfangreiche Datenbank zeigt sehr schön, dass jeder der Probanden sehr individuell reagiert. Da gibt es z.B. einen von 800, dessen Blutzucker nach dem Genuss von Sushi in die Höhe schoss, aber auf Eiscreme praktisch nicht reagiert. Eine andere Probandin reagierte z.B. extrem auf Tomaten. Deren Glyx liegt – je nach Tabelle – mal bei 11, mal bei 17. Gilt also als vollkommen unbedenklich. Logisch: Tomaten enthalten praktisch keine Kohlenhydrate.

Klar, man weiß aus Erfahrung, dass Menschen sehr individuell auf Diäten reagieren. Aber so deutlich wie in dieser Studie wurde das halt noch nicht dargestellt.

Allgemein vermutet man, diese individuellen Ergebnisse haben mit der Darmflora zu tun. Also mit den Billionen von verschiedenen Bakterien, die da für uns den Löwenanteil bei der Verdauung unternehmen. Aber das ist noch eine These.

Man könnte schon behaupten, dass solche System wie der glykämische Index für eine Einzelperson eigentlich wertlos sind. Wenn man sich an solche Verallgemeinerungen hält, dann gibt es sogar die Möglichkeit, sich genau falsch zu ernähren. Also z.B. im Falle des einen Probanden: Auf die böse Eiscreme zu verzichten, aber sich mit dem ach, so gesunden Sushi vollzustopfen.

Wenn das für den Blutzuckerspiegel gilt – dass er so extrem individuell ist – dann kann man ruhig davon ausgehen, dass das auch für andere allgemeine Werte gilt. Wahrscheinlich kann man sogar die Kalorientabellen, die man im Regal oder auf dem Smartphone hat, gelassen entsorgen. Oder vielleicht höchstens als ungefähre Richtschnur nehmen.

Das Problem ist natürlich im Kern ein anderes: Das wir alle dünner sein wollen, als es die Portionen auf dem Teller erlauben. Die vielleicht zweite Generation in Europa, die keinen Hunger erleben musste, geisselt sich nun freiwillig. Treppenwitz.

Es werden mehr und mehr Wissenschaftler, die zur Erkenntnis kommen, dass sich Essen überhaupt nicht über den Kopf oder den Verstand so steuern lässt. Sondern dass es die Lust am Lebensmittel ist und der Hunger, die wir Menschen als eingebauten Kompass für’s Essen haben.

Wahrscheinlich funktioniert die richtige Ernährung so: Zu allererst einfach alles vergessen, was man über Essen zu wissen glaubt. Zucker ist nicht böse, Fett macht nicht fett, Kohlenhydrate machen nicht Diabetes. Nichts ist gut oder böse. Nichts verboten. Und dann heißt’s: Warten, bis man richtig Hunger hat. Und nicht nur Appetit. Und dann das Essen, worauf der Körper Lust hat. Im Zweifelsfall eben auch Eiscreme statt Sushi. Und aufhören, solange man es genießen kann.


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 December 7, 2015  12m