Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0338: Baum & Sohn


Zu keiner anderen Pflanze haben Menschen so ein emotionales Verhältnis wie zu Bäumen. Sie sind groß, werden furchtbar alt, der Wind rauscht in ihren Blättern, sie spenden Schatten. Und begleiten uns unser kurzes, menschliches Leben lang. Eigentlich sollten alle Bäume sich selbst gehören. Und nicht nur dieser eine, berühmte Baum in Georgia, um den es heute geht.

Download der Episode hier.
Opener: „The Tree that Owns Itself“ von Leah Breevoort
Closer: „Vin Diesel Says I Am Groot“ von The Tonight Show Starring Jimmy Fallon
Musik: „Tree“ von Thoola / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Wir Menschen mögen Bäume. Auf jeden Fall mehr als z.B. Blattspinat, Silberdisteln, Moosflechten oder Schimmelpilz. Darum ist es immer so traurig, wenn man von Jahrtausende alten Bäumen hört, die geschlagen werden mussten. Und auch darum waren Bäume schon immer bedeutende Landmarken, einige wurden sogar richtig berühmt.

Der Baum, um den es heute geht, steht in Athen. Was, wie wir alle wissen, eine kleine Stadt in Georgien ist. Nee, Moment, in Georgia. Athens, Georgia. 120.000 Einwohner. Hauptstadt des gleichnamigen Landkreises. Fünftgrößte Stadt in Georgia. Hat sogar eine Universität.

Deren Gebäude ist einer der drei Orte, die amerikanische Touristen in Athens besuchen. Dann gibt es noch die berühmte zweiläufige Kanone aus dem Bürgerkrieg. Und eben diese amerikanische Weiß-Eiche, die an der Ecke Finley und Dearing Street steht. Um sie herum ist an Granitpfeilern eine dicke Kette gespannt. Vor ihr steht eine steinerne Gedenktafel.

In den gesamten USA ist dieser Baum bekannt als „The Tree that owns itself“. Also als der Baum, der sich selbst gehört. Denn er ist eine amerikanische Legende. Und die geht ungefähr so.

Einst lebte in Athens ein angesehener Mitbürger. Mit dem schönen Namen William Henry Jackson. Und dem Titel „Colonel“, in manchen Quellen auch „Doktor“. Weder von dem einen, noch dem anderen Titel weiß man genau, wo die so herkommen. Aber das wird schon mit rechten Dingen zugegangen sein, denn besagter Bill war immerhin der Sohn von James Jackson. Und der war immerhin der Gouvernor von Georgia gewesen.

Und William, der hatte diese eine Weißeiche auf dem Grundstück seiner Eltern, das er geerbt hatte, so richtig dolle lieb. Wunderschöne Kindheitserinnerungen verband er mit diesem mächtigen Baum. Der angeblich der größte und schönste Baum in ganz Athens war. Und darum formulierte er eine Schenkungsurkunde folgenden Inhalts: „„Ich, W. H. Jackson vom Landkreise Clarke einerseits und der Eichbaum… vom Landkreise Clarke andererseits: Es wird bezeugt, dass der besagte W. H. Jackson wegen und eingedenk der großen Zuneigung, die er besagtem Baume entgegenbringt, sowie seines großen Wunsches, ihn unter Schutz zu stellen, Kraft dieser Schenkung besagtem Eichbaume das gesamte Eigentum seiner selbst und des Grundstückes innerhalb von acht Fuß ringsum überlässt.“

Wann das war, weiß wieder keiner so genau, aber es muss irgendwann zwischen 1820 und 1832 gewesen sein, da gibt es keine klare Quellenlage. Und so wurde dieser Baum zu dem, was er ist. Nämlich zum Baum, der sich selbst gehört.

Berichtet auf jeden Fall der Athens Weekly Banner vom 12. August 1890. Aber weil der Baum so schön und groß war – 30 Meter ist für eine Eiche ganz schön ordentlich – und weil die Geschichte so schön ist, wurde der Baum in ganz Nordamerika berühmt.

Aus der Eichel gekeimt ist er wahrscheinlich irgendwann im 17ten Jahrhundert, lange bevor europäische Siedler hier auch nur ein Nachtlager aufgeschlagen hatten. Aber 1906 hatte die Bodenerosion ihm schon schwer zugesetzt. Der berühmte Banker und Philantrop George Foster Peabody spendete dann das Geld für ein neues Bett, die Pfosten und die Kette und den Gedenkstein.

Aber schon im nächsten Jahr setzte ein schwerer Sturm mit Eis und Hagel ihm weiter zu und er begann wohl langsam von innen zu verrotten. Am 9. Oktober 1942 war es dann soweit. Und der Baum, der sich selbst gehörte, starb. Fiel einfach tot um.

/Clip „Alexandra“

Aber keine Angst! Die Geschichte ist nicht aus. Klar, es war Krieg und die Menschen hatten etwas anderes im Kopf, weswegen das Land, das dem Baum gehört hatte brach lieg. Aber nach Kriegsende nahmen die Bürger von Athen sich vor, diese Lücke zu füllen. Mehrere Mitglieder des örtlichen Gartenbauvereins hatten sich Kinder vom berühmtesten Baum Georgias gezogen. Und der von Captain Jack Watson wurde für die Transplantation ausgesucht.

Und feierlich am 4. Dezember 1946 an die Stelle gepflanzt, wo die Eichel, aus der er wuchs, einst entstand. Die lokale Elite ließ es sich nicht nehmen, bei dieser würdevollen Zeremonie anwesend zu sein.

Da war der Bürgermeister, Robert L. McWhorter, der Pastor der presbyterianischen Kirche, Dr. Hill, der die Verpflanzung mit einem Gebet begleitete. Natürlich Captain Watson mit seiner Frau und natürlich zahlreiche Mitglieder des Gartenbauvereins. Deren Präsidentin Patsy Dudley laut verkündigte, dass dieser Baum fürderhin unter der Pflege und Protektion des Vereins stand.
Jetzt und für alle Zeiten!

Und so steht an der Stelle des Baums, der sich selbst gehört, jetzt der Sohn des Baums, der sich selbst gehört. Man geht davon aus, dass er die 36 qm, die ihn umgeben, von seinem Vater geerbt hat. Und somit auch ein Baum ist, der sich selbst gehört.

Es geht ihm übrigens gut. Er hat auch die 50-Jahr-Feier zu seiner Verpflanzung gut überstanden. Man kann seinen Zustand täglich per Webcam prüfen, wenn man will. Und er ist mit über 15 Meter auch schon richtig groß und macht Anstalten, in den nächsten hundert Jahren die Größe von Papa erreichen zu können.

Ach ja. Schöne Geschichte, gelle? Wollt ihr auch wissen, was da so dran ist? Als Geschichts-Fanatiker? Ehrlich? O.k., aber wenn ihr schöne Geschichten mögt, dann müsst ihr jetzt vorspulen.

Denn natürlich handelt es sich um eine Legende. Es gibt weit und breit keine Schenkungsurkunde. Diese Urkunde und ihr Wortlaut existieren nur in dem Artikel aus dem Jahre 1890. Davor gibt es keinerlei Hinweise auf die Geschichte. Vielleicht haben sich das die Leute damals so erzählt. Aber vielleicht hat sich das der Autor auch nur ausgedacht.

Zum zweiten hat das Ganze natürlich in Wirklichkeit keine rechtliche Relevanz. Schenken kann man, auch nach amerikanischem Recht, nur einer anderen Person etwas. Die auch rechtlich eine Person ist und der Schenkung zustimmen muss. Im Fall von Grund auch noch schriftlich.

Aber das größte Loch in die Geschichte reißt die Kindheit des Schenker. William Henry Jackson, ihr erinnert euch. Der mit den schönen Kindheitserinnerungen? Tja, der hat leider seine Kindheit gar nicht in Athens verbracht. Sondern in Jefferson County.

Aber, wisst ihr was? Vergessen wir diese Kleinigkeiten einfach. So wie jeder Reiseführer über Georgia das tut. Und zahllose Websites auch. Glauben wir einfach die schöne Geschichte vom Sohn des Baums, der sich selbst gehörte.


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 December 2, 2015  14m