Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0334: Reefer Madness (1936)


Wenn man amerikanische Kiffer fragen würde, was ihr Leiblingsfilm ist, so wären da heutztage sicher nicht mehr die „Cheech & Chong“-Filme ganz oben. Aber wahrscheinlich schon „Reefer Madness“. Denn dieser Film ist in den USA Kult. Und ist auch aus der Perspektive der Kinogeschichte wichtig.

Download der Episode hier.
Opener & Closer: „Nostalgia Critic – Reefer Madness“ von LeisureSuitRantFiend
Musik: „Alan Cumming – Reefer Madness“ von waterfly89

+Skript zur Sendung
Es gibt da ein Stereotyp, das ihr vielleicht auch kennt. Ich nenne das den Vielkiffer. Jemand, der meist schon ein bisschen zu alt ist für diese Leidenschaft, etwas verbraucht wirkt und meist sein Einkommen mit Dealen von Haschisch aufbessert.

Und der wirklich sehr lange und ausgiebig über Cannabis philosophieren kann. Das es Hanfanbau schon seit 5000 Jahren gibt, dass früher praktisch alle gekifft haben, das es eine Wunderdroge ist und – naturwissenschaftlich bewiesen – gegen praktisch alle Krankheiten hilft.

Das es völlig unschädlich ist – kurzer Hustenanfall, Auswurf – und nicht so dumm macht wie z.B. Alkohol oder Zigaretten. Und nicht zuletzt, dass es von finsteren Mächten verboten wurde. Entweder um uns alle gefügiger zu machen oder wegen ausbeuterischen, kapitalistischen Interessen.

Die amerikanische Version dieser Verschwörungstheorie geht so: William Hearst, der Zeitungsmagnat und DuPont haben einen Feldzug gegen den Hanfanbau gestartet. DuPont hatte ein Verfahren entwickelt, um aus Holzpulpe und Nylon Papier zu machen. Und Hearst besaß riesige Wälder. Darum haben sie versucht, das billigere Papier aus Hanf vom Markt zu drängen.

Und sich Horrorgeschichten vom Kiffen ausgedacht und publiziert. Und Propagandafilme gedreht, um alle zu überzeugen, dass die amerikanische Jugend durch Cannabis bedroht ist. Und „Reefer Madness“, das sei einer dieser Propagandafilme. Und weil der Public Domain ist, muss man den gleich anschauen. Und sich – bei einem oder zwei Joints – darüber lustig machen.

Das stimmt natürlich alles nicht, aber gibt halt so eine schöne Geschichte. Und dieser Background ist sicher einer der Gründe, warum „Reefer Madness“ aus dem Jahre 1936 in Amerika ein absoluter Kultklassiker ist. „Reefer“ ist übrigens ein alter Ausdruck für den Joint an sich.

Aber das ist nicht alles, was an diesem Machwerk aus dem Jahre 1936 interessant ist. Ich gebe hier ‘mal kurz die Handlung wieder – einen achtzig Jahre alten Film darf man wohl spoilern.

Zuerst sehen wir einen Professor vor einer Reihe besorgter Bürger zum Thema „Marijuana“ referieren. Der schaut ungefähr aus wie dieser blaue Adler bei der Muppetsshow. Und der ezählt uns praktisch dann den Film als ein Beispiel für die schrecklichen Folgen von THC.

Wir sehen ein prächtiges Haus in irgendeiner piefigen, amerikanischen Stadt. Hier in Deutschland würde man das eine Villa nennen. Hier leben in Sünde – d.h. von 1936 nach 2015 übersetzt: unverheiratet – der Kiffergangster und seine Gangsterbraut. Die vom Dealen leben. Und verschiedene Meinung darüber haben, ob man an Minderjährige Joints verkaufen sollte.

Schnitt: Zwei piefige Teenager, die aussehen, als wären sie dreißig. Jimmy und Marylane. Rezitieren Romeo und Julia. Sitzen im Garten bei einem Glas Wasser.

Schnitt: Jimmy trifft Billy und spontan fahren sie ins „Soda House“. Ja, wusste ich auch nicht, früher gab’s wohl Gastronomie, die sich auf den Ausschank von zuckerhaltigen Getränken spezialisiert hatte. Kiffergangster lädt sie in die Gangstervilla ein. Dort steckten er und Gangsterbraut den anwesenden Jugendlichen Joints zwischen die Lippen.

Worauf die albern werden und ausgelassen zu Swingmusik tanzen. Dabei können die nicht einmal rauchen in dem Film, ich habe nicht einen einen Lungenzug machen sehen, aber egal.

Schnitt: Ah, da ist also der fiese Gangsteroberboss, schaut aus wie Dr. Cox und da ist auch noch der Pistolengangster. Gut, dass wir das wissen, danke.

Jimmy überfährt derweil mit seinem Amischlitten einen Passanten, weil er eben stoned ist. Ist aber für den Film weiters nicht relevant. Scheint in diesem Kaff jeden Tag zu passieren.

Billys Schulleistungen fallen derweil dramatisch ab. Aber nach einer Rüge vom besorgten Doktor geht’s trotzdem in die Gangstervilla zum Kiffen. Hier macht sich dann der Kiffergangster über Marylane her, wir werden Zeugen einer Fast-Vergewaltigung.

Der bekiffte Billy haut dann den Kiffergangster, der Pistolengangster kommt rein, haut Billy, ein Schuss löst sich und Marylane ist tot. Die bösen drei reden dann Billy in seiner Gegenwart ein, er hätte sie erschossen.

Gerichtsverfahren: Billy gesteht, die Jury glaubt ihm. Todesstrafe.

Aber Kiffergangster kriegt Gewissensbisse. Da kommt Pistolengangster, um ihn zu erschiessen – wahrscheinlich kann der hellsehen – eine Schlägerei folgt, Pistolengangster wird totgeschlagen. Mit einer Fliegenklatsche, wenn ich mich recht erinnere. Eine Nachbarin ruft die Polizei, alles fliegt auf.

Gangsterbraut gesteht alles, Billy ist frei, jetzt kommt dafür Kiffergangster für den Rest seines Lebens in die Klaps. Gangsterbraut springt dann – aus irgendeinem mir völlig fremden Grund – aus dem Fenster und ist tot.

Der blaue Adler – also der Professor vom Anfang – hält wieder einen scharfen Kurzvortrag, dass das jederzeit auch unseren Kindern passieren könnte – wegen dem schlimmen Marijuana.
Film aus.

So ist „Reefer Madness“. Ein Film, den eine fromme Christengruppe finanziert hatte und der dann in die Fänge von Dwain Esper kam, der einen Exploitation-Film daraus machte. Also einen Billigfilm, der mit übertriebender Gewalt oder zuviel Sex durch knallige Vermarktung und marktschreierische Poster sein Publikum fand.

Das lief nicht so toll und so staubte eine Kopie des Films vierzig Jahre in der Kongressbibliothek vor sich hin. Dort fand sie dann 1970 Keith Stroup, Gründer der „National Organization for the Reform of Marijuana Law“. Und fand den Film einfach nur komisch.

Denn natürlich wusste keiner bei der ganzen Produktion nur im geringsten über Cannabis Bescheid. Wie schon gesagt, die meisten Darsteller konnten ja nicht einmal rauchen.

Und weil Esper bei der Anmeldung seiner Urheberrechte einen Fehler gemacht hatte, war der Film public domain, also gemeinfrei. Und so tourte Stroup mit ihm von einem Campus zum nächsten.

Dann landete der Film sogar wieder in den Kinos – einer der ersten Erfolge für „New Line Cinema“, nebenbei erwähnt. Ihr wisst schon, Herr der Ringe und so…

Und alle Kiffer der USA freuten sich hämisch. Und freuen sich auch noch heute.

Das ist ungefähr das Phänomen „Reefer Madness“. Und das ist kulturgeschichtlich sogar tatsächlich relevant. Denn „Reefer Madness“ ist der erste Film, der ironisch genossen wurde.

Der erste der Filme, die so schlecht sind, dass sie schon wieder gut sind. Der erste „Worst“-Film. Und, zumindestens in den USA, immer noch in den Top Ten. Vielleicht knapp hinter „Plan 9 from Outer Space“.

Und weil der Film so populär ist, gibt es dazu eine Neuverfilmung fürs Fernsehen, eine psychedelisch kolorierte Version und sogar ein Musical. Aus dem auch der heutige Song stammt.
Mit dem Namen „Reefer Madness“. Es singt die Musical-Version des Blauen-Adler-Professors.


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 November 26, 2015  12m