Ein Koffer Wörter

Ein Poetry Slam für die Hosentasche, geht das? Kommt drauf an. Ein Koffer Wörter hat: Poetry. Quatschige Quatschtexte. Jede Menge Selbsthass. Ein Koffer Wörter hat nicht: Nerviges Lehramtsstudierendenpublikum mit Becks-Gold-Flaschen in der Hand. Applausometer. Covid-19-Aerosole. Such's Dir aus.

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episode 3: Schäbbig und Schuld


Was ist das Gegenteil von schön? Falsch. Die richtige Antwort lautet natürlich: alt. Weil alte Menschen früher sterben, das kannst Du überall nachlesen. Und weil sie natürlich schuld sind. An allem. Steht in jedem Physiklehrbuch. Nennt sich Kausalität.

Auf den Sommer scheißen

Ich scheiße auf den Sommer
Denn im Juli ist Tante Lisa gestorben
Und im Juni davor unsern Omma

Ich scheiße auf Draußen und Sonne
Im August ist das Meerschwein im Käfig vertrocknet
Und kam in die Biomülltonne

Ich scheiße auf endlose Strände
Hab auf Ibiza mal unsern Vatter gesehn
Mit `ner andern am Zwitschern. Bäh!
Ende.

Wie komm ich aus der Nummer wieder raus? Mein Name ist Matthias, ich müsste dringend mal ein Impressum für meine Podcast-Website schreiben und ich möchte heute über Senioren reden. Vulgo: Die Alten. Ich selbst bin auch schon ziemlich angestaubt, was du unter anderem daran erkennen kannst, dass ich den Reiz von TikTok genauso schnell kapiert habe, wie die Sache mit Insta, Insta jetzt, nech?: Nämlich gar nicht. Aber ich wollte ja über die anderen reden, die noch viel Angestaubteren. Die sich quasi jeden Morgen neu überlegen müssen, ob es sich überhaupt noch lohnt, den Staub vom Gesicht zu wischen und einen Tag zu beginnen, der mit Ende dieser Überlegung eigentlich schon wieder nervig anstrengend geworden ist. Man könnte den Staub ja auch liegen lassen und vielleicht würde man nach zwei Jahren oder so ja einen Rabatt für die Beerdigung aushandeln können. DIY-Funeral. Weißt du, warum das eine vollkommen quatschige Überlegung ist? Ja, okay, da gäbe es ca. 1000 valide Ansatzpunkte… Aber weißt Du, woran Du gerade nicht gedacht hast? An Sterbeversicherungen. Ja, die gibt’s ganz in echt und warum soll man bei Dingen Rabatt rausschlagen, wenn’s eh schon bezahl ist? Ist doch genau das Gleiche wie mit Unfallschäden bei Vollkaskoversicherungen. Natürlich weißt du im Grunde, was Sterbeversicherungen sind, weil das Thema irgendwann mal aufkam, als du Opi, Omi oder anderes Grauvolk besucht hast. Man bezahlt quasi Geld dafür, dass die Nachkommen auf Ommas Beerdigungskosten nicht hängenbleiben und darüber Witze zu machen ist ziemlich unterste Schublade. Denn natürlich sind die Alten nicht zu blöd, um ein Sparkonto zu eröffnen, nicht zu blöd, um ganz ohne Versicherungsgebühren jeden Monat ein paar Euro für genau diesen Fall zur Seite zu legen. Im Gegenteil. Die Alten haben die Sparkontos, seinerzeit noch Sparbuch genannt und durch ein echtes rotes Büchlein repräsentiert, geradezu erfunden. Nein, natürlich können sie sparen. Wie die Weltmeister sogar. Nur waren sie halt nicht sicher, ob sie vor Erreichen des notwendigen Sparziels auch noch lebendig genug sind und haben deshalb diese Versicherung abgeschlossen, damit die Nachkommen nicht doch noch auf irgendwelchen Kosten hängenbleiben. Die Versicherungen machen also Geld mit der Angst armer Menschen vor zu heftigen finanziellen Belastungen. Boah! Das ist ja mal… also…krass, ich weiß gar nicht, ob das schon mal jemandem aufgefallen ist. Auf der anderen Seite: Kudos an die Ommas und Oppas landesweit, die diese Industrie finanzieren und da sieht man dann doch so Sachen wie 2. Weltkrieg, Holocaust, Klimakatastrophe in einem viel milderen Licht, oder? Oder? Wie, nein?!

Abgangszeugnis

Sieh, wie die Senioren schwitzen
In den schweren Ledersitzen
Sind sie glücklich? Eher nein!
Wie auch soll’n sie glücklich sein?
Zweimal Weltkrieg! Und dazu
Beide krass verloren. Buh!
Erste Republik verkackt
Zweite im Konsum versackt
Atmosphäre vollgeblasen
Tonnenschwer mit Treibhausgasen
Jetzt ist ihnen mächtig heiß
Guess what, guys, IHR habt den Scheiß
Voll versaut. Jetzt bleibt bloß sitzen
In der selbst gebrauten Hitze

Es war ja nicht alles schlecht. Und die Oppas von heute, das sind ja quasi, also das bin ja quasi… Also, bin ich das nicht irgendwie selbst? Ja, nee, rein faktisch bin ich’s wohl nicht, ich hab gerade dem Erstgeborenen noch einmal tief in die Augen geschaut und er schaute mit dem unserer Familie so eigenen festen Blick zurück und sagte… Und sagte Dinge. Dinge die von einer profunden Kenntnis zeitgenössischer Deutsch-Rap-Musik zeugen und die ich für das beste Verhütungsmittel seit dem Produktionsstart von Detmolder Landbier halte. Jedenfalls: Nein. Kein Oppa. Ey, Alter, i’schwör. Und stimmt ja. Ein Alter bin ich ja. Aus der Perspektive gewisser Absprengsel meiner DNA sogar ziemlich heftig und ja: Das ist kacke, wenn man nicht mehr selbst die Generation mit dem Himmelhochjauchzendzutodebetrübtgesicht sein darf, weil sich dann alle und wahrscheinlich auch zurecht über den Typen mit dem Longboard lustig machen, das er sich vor sieben Jahren zum Geburtstag gewünscht hat wegen Abschiedsschmerz von der Jugend und von dem er seitdem so häufig heruntergeflogen ist, dass es jetzt als Ich-Könnte-Ja-Menetekel neben dem BMX-Rad im Keller schimmelt. Ja, so richtig lange is‘ nicht mehr und das Longboard wird mit seinen ABEC-5000-Kugellagern wahrscheinlich noch lange alternde Retro-Nazis abwerfen, wenn ich schon längst als Schaumstoffpolster einer Tesla-Braut den Rücken stärke. In diesem Sinn. Tschüß! mit einem allerletzten Versuch, das Thema irgendwie würdig zum Ende zu bringen.

Warum denn ausgerechnet ein Kirschbaum?

In einem Kirschbaum, mitten in der Stadt
Sitzt Annmarie, die keine Eltern hat.
Das ist okay, sie – Annmarie – ist alt
Und wenn man alt ist, sind die Eltern kalt.

Sprich: Lange mausetot. Und leicht verwest,
Auch schwer mitunter. Siehst ja, wenn du stehst
Am Grab die einsunk’nen Stellen rund-
herum. Das machen Zeit und Würmer und
Natürlich Feuchtigkeit und viele Pilze.
Nur die Knochen sind noch da. Wer will’se
Denn auch fressen. Da kommt Weinen von,
Das kennt man schon vom Hühnerbeineessen…

Also: Annmarie. Sie lacht stattdessen
Über einen Mann am Fuß des Baums,
Der fleht und flucht, doch hört sie’s oben kaum.
Ist hoch geklettert, sieht nur seinen Mund
Wie er sich öffnet, schließt. Mal Strich, mal rund
Und denkt sich: Matschepampe. Sind die Eltern
Matschepampe, die in Holzbehältern
Wohl behütet in das Jenseits schwappt?
Wo sich ein Höllenhund die Knochen schnappt
Und all der Glibbersiff in Charons Schiff
Auf frisch geschrubbte Eichenplanken trifft?

Was, wenn man einfach hier im Baum
Verreckt? Das tropft doch kaum
Bis auf die Erde
Blätter werden
Leichensaft kanalisieren
Käfer werden hochmarschieren
Und die Pilze und die Würmer
Werden ihren Leichnam stürmen
Ganz egal ob unten oder oben
Ob im Himmel oder in der Hölle
Schnell geht anders. Aber: Grüne Welle.

Niemals wieder runter aus der Höhe
Nein. Sie bleibt.
Bis eine Tages eine Böe
Ihren letzten Knochen in die Gosse treibt.


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 September 21, 2020  8m