Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0421: Die Grüne Revolution


Wenn wir an den Welthunger denken, dann bebildern wir das mit kleinen Babies aus Afrika. Als ich ein Kind war, waren das kleine Babies aus Indien. Wo jetzt angeblich wegen der sagenhaften Grünen Revolution keiner mehr hungert. Aber natürlich ist alles ‘mal wieder anders.

Download der Episode hier.
Opener: „Color G R E E N green song Kindergarten“ von Andrew Cosmo
Closer: „What Does The Farmer Say? (Ylvis – The Fox PARODY)“ von Farmer Derek Klingenberg
Musik: „Safe and Warm in Hunter’s Arms (2016)“ von ROLLER GENOA / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Es gibt zu viele Arme auf der Welt. Über 15 Milliarden Arme, befestigt an 7,42 Milliarden Menschen, Stand vom Dienstag. Und noch werden wir immer mehr. Es stellt sich die Frage, wie lange unser Planet all’ diese Mäuler noch versorgen kann. Darüber gibt es viele Meinungen.

Darum fordern viele Stimmen mittlerweile eine zweite Grüne Revolution. Die Gentechnik soll das für uns erledigen. Ist schon klar: Bio-Weizen und Öko-Milch, das sind Luxusprodukte, aber wenn es um den Hunger in der Welt geht, dann brauchen wir Hochertragssorten. Klingt wirklich logisch.

Die erste Grüne Revolution hat schließlich Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrt – das kann man in den Geschichtsbüchern nachlesen. Da haben sich wohltätige Organisationen aus Amerika mit der Wissenschaft zusammen getan und die Weltbank hat den armen Bauern in Asien und Südamerika ganz, ganz viel geholfen.

Dann konnten die Bauer die neu erfundenen Sorten kaufen, anbauen und siehe da: Wie durch ein Wunder verdreifachten sich in Indien die Erträge. Obwohl sich dort die Bevölkerung in 30 Jahren verdoppelt hat, ist der Subkontinent von Lebensmittelimporten unabhängig. So heißt es.

Das ist auch alles nicht falsch. Hat also der Westen tatsächlich aus purer Menschenfreundlichkeit extra Weizensorten für Mexiko erfunden und verschenkt? Und Extra-Reissorten für Indien? Ging es den edlen Stiftern wirklich um die hungernden Menschen? Oder sind da andere Motive im Spiel?

Also, die Fakten zuerst: In den Vierzigern taten sich die Rockefeller Stiftung und die mexikanische Regierung zusammen. Mexiko war damals ein Land mit vielen Hungernden. Die Produktion von Weizen, Mais und Bohnen musste verbessert werden.

Dafür entwickelte Norman Borlaug eine eigene Weizensorte. Denn die neuen Weizensorten trugen so viele Ähren, dass die Halme brachen. Eine Kreuzung mit einer Zwergsorte führte dazu, dass die Halme kürzer wuchsen, die Pflanze stabiler wurde und früher geerntet werden konnten. Diese neue Hochleistungssorte ist ein Hybridweizen, den Ausdruck brauchen wir später noch einmal.

Und mit den neuen Sorten, mit viel Dünger, viel Grundwasser, Krediten und Preisgarantien der Regierung sowie modernen Maschinen wurden auf immer größeren Flächen immer größere Erträge erzielt. 1963 hatte sich die Nahrungsproduktion verdreifacht und Mexiko musste kein Lebensmittel mehr importieren.

Dieses Erfolgsmodell exportierte man dann in andere Länder. Vor allem in Asien war der Hunger groß. Indien war noch in meiner Kindheit ein Hungerland. 1961 gab es pro Asiaten gerade ‘mal 1800 Kalorien am Tag an Nahrung. Die Lebenserwartung war 50 Jahre und von 100 Neugeborenen starben 15 wegen des Mangels.

Also wiederholte man das Experiment, dieses Mal mit dem Schwerpunkt Reis. Die Regierung förderte die Umstellung auf die westlichen Produktionsmethoden großzügig mit finanziellen Mitteln, kostenloser Wasserversorgung, fast geschenkten Krediten und Preisgarantien. So konnte jeder Bauer selber ausrechnen, ob sich die Umstellung lohnte.

Und auch in Indien wiederholte sich das Wunder. Wie schon erwähnt, Indien versorgt jetzt die doppelte Menge Menschen. Die Lebenserwartung ist jetzt 66 Jahre und nur noch 5 von hundert Neugeborenen sterben. Kalorien pro Kopf gibt es reichlich, 60 Millionen Inder gelten als übergewichtig.

Wenn das keine Erfolgs-Story ist! Na klar kann man da nach einer zweiten Grünen Revolution rufen. Bevor die Weltbevölkerung Ende dieses Jahrhunderts schrumpfen wird, werden wir die 9 Milliarden reißen und die 10 wahrscheinlich auch noch.

Aber die Sache hat einen Haken: Die Grüne Revolution ist ein Mythos. Das beginnt damit, dass es einen triftigen Grund hat, dass sie so heißt wie sie heißt. Denn das Konzept stammt aus dem Kalten Krieg. Die Welt teilte sich in Kommunismus und Kapitalismus. Und vor der Roten Revolution hatte man Angst.

Der Hunger wurde zu einem politischen Problem. Aber nicht zu einem humanitären. Denn hungrige Menschen haben die unsympathische Eigenschaft unfreundlich zu werden. Und könnten auf die Idee kommen, dass es ungerecht ist, dass Großgrundbesitzer in Luxus leben, während sie darben. Das ist natürlich eine kommunistische Idee und damit gefährlich.

Die Rockefeller-Stiftung hatte ganz klar eine politische Agenda. Zuerst galt nur die Frage: Wie können wir Mexiko an uns binden, wie verhindern, dass ein Entwicklungsland nach dem anderen umkippt?

Und außer einer politischen Agenda gab es natürlich auch eine zweite. Eine, die mit Geld-Verdienen zu tun hat. Denn die modernen Hochleistungs-Pflanzen sind meist Hybridsorten. Das heißt, man kann nicht einfach einen Teil der Ernte aufheben und neu aussäen. Denn dann fallen diese in ihre weniger effektiven Varietäten zurück. Man muss also jedes Jahr neue Saat kaufen. Meistens bei amerikanischen Unternehmen. Es ist kein Zufall, dass US-Vizepräsident Henry Wallace, der das Konzept Grüne Revolution mit entwarf zugleich Gründer des heutigen Saatgutkonzerns Pioneer Hi-Breed ist.

Und um die hohen Erträge zu erzielen, müssen auch noch teure Pestizide auf die Einkaufsliste. Und meistens muss man die bei amerikanischen Unternehmen shoppen. Und Traktoren und Erntegeräte, brauchen wir auch noch! Und so weiter und so fort. Die Länder, die sich der Grünen Revolution unterwarfen, kamen planmäßig in Abhängigkeit von den USA.

Die politischen Absichten, die sich hinter all’ der scheinbaren Philantropie verbergen, wurden auch umgesetzt. Weder in Mexiko noch in Indien wurden die Besitzstrukturen verändert. Nur liquide Großbauern und Grundbesitzer können sich die nötigen Investitionen leisten. Und die Maschinen machen Kleinbauern und Tagelöhner obsolet. Und bettelarm.

Ja, es gibt in Indien 60 Millionen Übergewichtige. Und die Anzahl an Diabeteskranken hat sich vervierfacht seit 1961 – ein Sieg der Zivilisation. Aber ein Drittel der Kinder ist immer noch unterernährt, in der Hälfte aller Haushalte gibt es weder fließend Wasser, geschweige denn eine Toilette. Und in den Slums der Großstädte sammelt sich die verarmte Bevölkerung vom Land.

Auch in Mexiko hat sich die Lage gewendet. 1979 kam es zu einer riesigen Hungerkatastrophe wegen Fehlernten auf den ausgelaugten Böden und seitdem ist der Hunger wieder da. 60% der Mexikaner ist arm, 20% extrem arm. Die Dörfer sterben, Mexiko City besteht aus Slums. Und 50% der Nahrungsmittel müssen importiert werden.

Denn der besonders große Haken an der ganzen Geschichte ist der, dass diese Art der Landwirtschaft kein bisschen nachhaltig ist. Und eine Riesenumweltbelastung. Irgendwann sind die Böden ausgelaugt, irgendwann der Grundwasserpegel zu tief.

Und die weltweite Monokultur von einigen wenigen Hochleistungspflanzen bedeutet ein hohes Risiko für die Länder der Grünen Revolution. So wie der Klimawandel auch. Der Monsun wird bereits unberechenbarer und launischer – ein einmaliges Ausbleiben dürfte Indien weit in die Vergangenheit zurück katapultieren.

Wir brauchen wirklich eine zweite Grüne Revolution. Aber die sollte aus vier Maßnahmen bestehen, die ganz anders aussehen als bei der ersten.

Sie sollte bei den Besitzverhältnissen anfangen. Bei der ungerechten Verteilung von Land und Ressourcen. Klar, die Kubaner leben nicht unseren Lebensstil. In unseren Medien werden sie auch brav als stets als arm bezeichnet. Weil sich nicht alle ein Smartphone leisten können. Aber Armut ist etwas anderes. Die gibt’s dafür in Mexiko City oder Mumbai.

Wenn wir schon von den Reichen nehmen, dann nehmen wir doch die Saatgutkonzerne als nächstes. Pflanzen, die uns zur Ernährung dienen, dürfen nicht patentierbar sein. Sondern open source. Solche Patente lassen direkt Menschen verhungern.

Drittens: Dreißig Prozent aller Lebensmittel, die weltweit produziert werden, landen im Müll. Wir produzieren bereits jetzt genug Lebensmittel um die 9 oder 10 Milliarden Menschen, die wir bald sein werden, zu versorgen. Aber fast ein Drittel davon landet in den Mülleimern der ersten Welt.

Und, auch wenn es keiner glaubt – viertens – die zweite Grüne Revolution muss eine ökologische sein. Denn die Überlegenheit der Hochleistungspflanzen ist nur für eine bestimmte Zeit gegeben. Auf Marathondistanz stimmt dieser Mythos gar nicht. Wenn das Wasser verbraucht ist und die Böden ausgelaugt, dann werdet ihr merken, dass man Dünger nicht essen kann.


fyyd: Podcast Search Engine
share








 April 12, 2016  14m