Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0427: Fritz Kreisler


Bis ich die klassische Musik für mich entdeckte, musste ich erst einmal ziemlich alt werden. Zusammen mit meiner Leidenschaft für Geschichte und für alte Plattenaufnahmen führte dann kein Weg an Fritz Kreisler vorbei. Und seine Biographie. Und seine interessanten Funde in diesem Kloster…

Download der Episode hier.
Opener & Closer: „Classical Music Fails“ von Gordontrek
Musik: Fritz Kreisler spielt „Liebesleid“ (1930)

+Skript zur Sendung
Wenn man vom „guten, alten Wien“ spricht, dann meint man meistens das Wien unter Kaiser Franz Joseph I. Das K&K-Österreich. Das aus Entkräftung im ersten Weltkrieg verstarb. Oder aus Altersschwäche. Das Wien des gescheiterten Experiments Österreich-Ungarn. Wo Leute wirkten wie – besonders exemplarisch – Sigmund Freud.

Wenn der übrigens seinen Hausarzt besuchte, konnte es schon sein, dass er dessen kleinem Sohn begegnete. Dem kleinen Fritz. Der so toll Geige spielen konnte. 1882 wurde Fritzchen in das „Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde“ aufgenommen. Mit sieben Jahren als jüngstes aller Wunderkinder. Wo er dann von Josef Hellmesberger und Anton Bruckner himself unterrichtet wurde.

Weiter ging die Reise ans Pariser Konservatorium, wo er im zarten Alter von 12 die allerhöchste Auszeichnung der Akademie gewann, den Premier Prix. Mit nur 14 Jahren ging das kleine Wunderkind dann auf die erste Amerika-Tournee, nur begleitet von seinem Pianisten Moritz Rosenthal.

1889 von diesem Triumphzug zurück, bewirbt sich der pubertierende Violinist bei den Wiener Philharmonikern. Die ihn ablehnen. „Herr Kreisler, sie können ja gar nicht vom Blatt spielen, sondern sie lernen alles nur auswendig.“

Gut, denkt sich Fritz, dann könnt ihr mich alle ‘mal und pfeffert die Geige in die Ecke. Spiele ich halt nicht mehr. Dann studiere ich halt Medizin! So, das habt ihr davon! Nee, Medizin ist auch nicht das Richtige, studiere ich halt die Malerei. Das ist ja auch öde, gehe ich halt zum Militär. So, das habt ihr jetzt davon.

Irgendwann hat er aber heimlich wieder zur Geige gegriffen. Ab 1896 auf jeden Fall übte er fleißig und entwickelte einen sehr persönlichen Stil. Zwei Jahre lang, dann debüttierte er zum zweiten Mal in seinem Leben in Wien. Und kam im nächsten Jahr bei den Berliner Philharmonikern unter, wo er ein Konzert gab, dass ihn berühmt machen sollte. Eines jener Konzerte, die die Musik nachträglich geändert haben.

Sein Violinspiel war neu, anders, aufregend. Es war getragen von einer ganz neuen Wärme, von einer emotionalen Tiefe, die das Publikum völlig verzauberte. Man kann das heute schwer verstehen, denn die Art wie Kreisler Musik erzeugte, wurde von allen kopiert und übernommen.

Das Vibrato auf der Violine war damals ein nur sehr spärlich eingesetzter Effekt.

Ein Geiger erzeugt dies mit der linken Hand, in dem er durch leichte Änderungen im Druck die Saite noch einmal in eine andere Schwingung versetzt. Dieses Dauer-Vibrato erzeugt diese Wärme, die damals eine neue Dimension an Tiefe in die Noten brachte. So sensationell war das zu seiner Zeit, dass der große Kollege Carl Flesch nicht ganz ohne Neid schrieb: „Eine ungehemmte Orgie von sündig-verführerischen Tönen, lasterhaft faszinierend, dessen einziger Antrieb eine Sinnlichkeit zu sein scheint, die bis zur Ekstase gesteigert wird.“

Es folgt eine große Amerika-Tournee, wo Kreisler frenetisch gefeiert wird. Er verkauft bei seinen Konzerten nicht nur sich, sein adrettes, gepflegtes, europäisches Aussehen, sondern gleich die Kultur Europas mit. Er symbolisiert die Alte Welt. Und natürlich Wien. Er erzählt selbstsicher Anekdoten. Aus der Zeit, wo er noch in Café-Häusern spielte. Ach, die Boheme. Stehe ich da, kommt Johannes Brahms zur Tür ‘rein und gibt mir seine neuesten Kompositionen zum Ausprobieren. Direkt auf die Tageszeitung hingeworfen.

Das war natürlich frei erfunden. Wenn der Applaus nicht enden wollte, bedankte sich der clevere Künstler. „Bitte, danken Sie mir nicht. Sie überschätzen mich. Es ist, als würden sie einem Fisch danken, dass er schwimmen kann. Ich bin einfach ein Kind Wiens. Mehr nicht!“

Sehr bescheiden, passt aber perfekt in die Vorstellung. Als nächstes heiratet er seine Managerin. Oder umgekehrt. Und die hat alle Hände voll zu tun, denn über 250 Konzerte werden das schon im Jahr. Für einen fünfjährigen Plattenvertrag mit der Victor Company erhält er den unglaublichen Betrag von $ 750.000,- Klingt nicht toll. Entspricht aber heute ungefähr 18 Millionen, um das gerade zu rücken. Fritz war reich.

Es ist wohl im Jahr 1910, als er beschließt sein kommendes Konzert mit eigenen Kompositionen zu bereichern. Schon öfter hat er Kompositionen großer Meister für sich und seine Art zu spielen, umarrangiert. Das war sogar eine richtige Leidenschaft.

Aber das Wiener Publikum ist nicht gerade begeistert von dieser Idee. Eher das Gegenteil ist der Fall. Die Kritiker zerrissen sich die Mäuler. Es geifert im Feuilleton. Geiger, bleib’ bei Deinem Bogen! Was maßt sich dieser Geigenspieler an, seine bescheidenen Machwerke in eine Reihe zu setzen mit den großen Meistern! Haben die Amerikaner den Kreisler jetzt endgültig größenwahnsinnig gemacht?

Das lässt Fritz nicht unberührt. Wir haben ja gesehen, dass er durchaus in der Lage war, aus Trotz die Violine auch einmal für Jahre in die Ecke zu stellen. Sollten sie doch sehen. Doch seine schlaue Frau Harriet überzeugt ihn, die Kleingeister im piefigen Wien zu vergessen.

Doch es nagt an ihm. Es ging ihm ja nicht um den Ruhm als Kompositeur, weit gefehlt. Aber es gab nicht so wirklich viel Material nur für die Violine. Darum, so berichtet er, musste er nach Material suchen gehen.

Und wirklich, ein Wunder: In einem abgelegenen Kloster findet der Musiker völlig unbekannte Stücke. Von damals längst vergessenen Musikern. Mit so seltsamen Namen wie Pugnani odern Louis Couperin oder von diesem komischen Italiener, wie heißt er noch, Vivaldi.

Er nimmt die schwere Last auf sich, dass verschollene Material zu bearbeiten und zu arrangieren. Und dieses Mal liebten die Kritiker seinen selbstlosen Einsatz für die Musikgeschichte. Die nächsten zwei Jahrzehnte würden Fans aus aller Welt anreisen, um diese modernisierten Meisterwerke zu hören. Die sichtlich so unverkennbar aus ihrer Zeit stammen und doch genau für dieses Trällern der Geige Kreislers gemacht.

Ein Triumph für Kreisler. Eine Sensation der Musikgeschichte. Der nächste Schritt auf seiner eh’ schon steilen Karriereleiter. Aber ihr ahnt es schon. Es gibt da ein kleines Problem. Wie Kreisler 1935 in einem Interview verrät. Er hatte das alles erfunden. Erstunken und erlogen. Die alten Meister haben das nicht geschrieben. Es gibt auch keinen Abt, dem er die Noten abgehandelt hat. Und auch kein Kloster, in dem er gesucht hätte. Das sind seine Kompositionen.

1938 geht er in die USA und kehrt nie mehr nach Europa zurück. Der Krieg tobt in Europa, keiner braucht ein warmes Vibrato. 1941 erleidet er einen schweren Autounfall und sein Kurzzeitgedächtnis erholt sich nie mehr richtig, die Konzerte werden selten. Und kurz.

Mit 80 Jahren ist er beinahe blind und beinahe taub. Sein Werk und sein Ruhm sind verblasst. Er ist kein armer Mann, nein, da hat Harriet schon darauf geachtet, aber die Musik spielt in seinem Leben keine Rolle mehr.

1962 stirbt Fritz Kreisler in New York. Sein kleiner Betrug ist ihm verziehen. Bei den meisten gar völlig vergessen. Nur noch selten werden seine Schummel-Stücke aufgeführt, dann aber mit seinem Namen bei „Komponist.“ Beigesetzt ist er in der Bronx, nur ein paar Schritte vom größten amerikanischen Geschichtenerzähler Hermann Melville entfernt.


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 April 20, 2016  14m