Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0329: Der seltsame Freund


Als kleines Kind sind Freunde die Menschen, mit denen man sein Leben liebt. Zieht eine weg, dann verliert man sich aus den Augen. Aber als Erwachsener verteilt sich der Freundeskreis über die ganze Welt. Und manchmal sind die Freunde, die man selten sieht, mit die besten, oder?

Download der Episode hier.
Opener: „Hashtags: #MyWeirdFriend“ von The Tonight Show Starring Jimmy Fallon
Closer: „Jesus is my Best Friend“ von Grace Kids
Musik: „Peace around the World“ von Snowflake und CCMixter / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Heute gibt’s ‘mal kein Hörspiel. Heute erzähle ich ‘mal eine Geschichte aus meinem Leben, das passt auf jeden Fall auch am besten zu „Entertainment“. Obwohl, in meinem Alter vielleicht auch zu „Geschichte“. Aber diese Story war ja erst unlängst.

Ich stand also neulich in der Ecke meines Wohn-, Ess-, Arbeitszimmers, die ich zärtlich „Küche“ getauft habe. In einer Nische in der Wand sind da nämlich eine kleine Spüle und vier Platten. Und kochte natürlich, als es an der Tür klingelte.

Und als ich öffnete, stand da mein seltsamer Freund. Den ich nun echt nicht oft sehe. Er ist und war schon immer die pure Verkörperung des Althippietums, das noch völlig normal war, als wir Kinder waren. Und er sah auch heute völlig unverändert aus. Links und rechts hielt er eine kleine Wasser-Plastikflasche – Volvic, glaueb ich, die aber sichtlich mit Wein gefüllt war und grinste mich breit an.

Sein Aussehen ist das, was altmodische Menschen levantinisch nennen, ich habe keinen Schimmer, woher seine Eltern kommen. Seine Mutter war auf jeden Fall sehr jung und damit für uns als Kinder ziemlich cool, sein Vater war eher steinalt. Irgendwie Bauunternehmer oder so.

Mein Freund hat also kurze schwarze Haare, einen einigermaßen gepflegten Vollbart, lebendige und wache braune Augen und schaut immer noch aus, als wäre er 30. Und auch sein breites Grinsen lässt keinen Raum für Widerspruch – klar war er zum Essen eingeladen! Ich freue mich auch ehrlich, denn wir hatten immer viel Spaß gehabt!

Als echter Hippie ist er auch bei den fiesen November-Temperaturen in ausgelatschten Indien-Flipflops unterwegs, logisch. Deswegen bin ich ganz froh, dass er sich als erstes die Füße wäscht. Das er meine Füße auch unbedingt waschen will, ist mir eher peinlich. Aber ich sagte ja schon: Er ist halt ein bisschen seltsam.

Das Curry habe ich dann mit einer Dose Kichererbsen gestreckt und zwei Naan aus der TK geholt, das war genug für uns beide. Und wie das so ist bei alten Freunden, haben wir natürlich zuerst alte Geschichten aufgewärmt.

Zum Beispiel die von der Hochzeit von einem Kumpel – wir waren noch sehr jung und es wurde sehr spät – als alle auf einmal tierisch Hunger hatten. Das war noch in der Zeit vor Pizzadiensten, Spätis, Tankstellen, die Lebensmittel verkauften oder ähnlichen Angeboten. Also hat mein Freund alles zusammengeklaubt, was es noch so gab, Brotreste, ein paar Fischfilets aus dem Tiefkühlfach und in einen Topf geworfen und dann mit Ketchup und Sojasauce abgeschmeckt. Na ja, was soll ich sagen? Es war wie ein Wunder! Plötzlich hatte keiner mehr Hunger!

Dann diskutierten wir, wie immer, leidenschaftlich über Theologie. Das ist immer interessant, denn als Jude hat er – speziell auf das Alte Testament, also die Thorah – einen ganz anderen Blick. Es wird da nie langweilig. Und er mag auch nicht, genau wie ich, wenn die Leute die Bibel als Regelwerk verstehen und denken, ihr Seelenheil hänge von den Geboten ab. „Alles, was Dir lieben hilft, das ist o.k. Und was Dir Angst mach’, dass nimm halt nicht!“ Meint er. Ein Hippie durch und durch, sag’ ich doch. Love and Peace. Ist ja auch keine schlechte Philosophie, keine Ahnung, wann das aus der Mode gekommen ist.

Während er kurz auf’s Klo verschwand, saß ich da und grübelte vor mich hin. Darüber, wie er so lebt. Klar, er zieht mit einem Haufen Freunden durch’s Land, sie singen ihre Hippiesongs „Love is all you need“ und so. Und sie schwingen ihre Reden über Frieden. Und Liebe eben. Und betteln sich halt so durch’s Leben.

Was das halt in unserer Jugend ultimativ cool war. Aber in unserem Alter? Ehrlich? Ich meine,
er schaut schon echt gut aus und ich denke, auch bei den Frauen aus seiner Truppe kommt er gut an. Aber eine Frau oder gar Kinder zu haben, das fällt ihm nicht ein. Oder gar einen Job. Oder in die Rentenkasse einzuzahlen!

Das letzte, was ich über ihn gehört habe, war, dass er ‘mal wieder im Knast saß. Da sind er und seine Truppe zu so einem feierlichen Gottesdienst voller bekannter Großkopferten mit ihren befreundeten Sexarbeiterinnen aufgetaucht, die sich auch noch voll aufgebrezelt hatten. Irgendjemand hat dann natürlich dafür gesorgt, dass die ganze Bande verhaftet wurde und für 48 Stunden in U-Haft schmorte. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Als er wiederkommt, frage ich ihn nach neuen Geschichten – und klar – der nächste Knastaufenthalt wartete nicht lang auf ihn! Dieses Mal war die Hippiebande in Oberammergau aufgetaucht, um sich über die Passionsspiele lustig zu machen. Und da ist ihm in einem der Devotionalienläden der Kragen geplatzt. Und er hat den ganzen Mist aus dem Fenster geworfen. Die billigen Plastik-Rosenkränze, die Aschenbecher mit dem Papst-Portrait und die Schneekugeln mit Padre Piu.

Das ist natürlich Vandalismus, Sachbeschädigung, Landfriedensbruch und – haltet euch fest: Ladendiebstahl! Und dieses Mal saß er dann auch sechs Monate. Aber trotzdem lacht er, als er das erzählt.

Der Abend musste erst noch ein bisschen später werden und der Wein deutlich weniger, als er zu erkennen gibt, dass so ein Leben auch seine dunklen Seiten hat. Wie es ihn belastet, dass seine Hipppiefreunde so zu ihm aufschauen. Und ihn für etwas Besonderes halten. „Irgendwie projizieren die ‘was auf mich“, meint er. Tja, die Hoffnung des Menschen, die Verantwortung für’s eigene Leben abzugeben, hat wohl keine Grenzen. Er tut mir schon ein bisschen leid.

Aber als die beiden Flaschen ganz geleert sind und eine von meinen auch noch angebrochen, haben wir schon einen neuen Plan gefasst. Und lachen schon wieder. Tapfer.

Einmal noch, so der Plan, macht er noch einmal ein richtig großes Festessen. Einmal noch alle zusammen an einem Tisch. Und dann wird gelacht und gesungen und getanzt. Und Wein getrunken und gut gegessen. Und danach, so denkt er sich das, macht er sich einfach klammheimlich aus dem Staub. Geht irgendwo anders hin. Und lebt sein Leben weiter. Dann muss seine bunte Truppe wieder ein eigenes Leben führen. Oder?

Ach, es war schon ein schöner Abend. Ich habe mich echt gefreut, ihn ‘mal wieder gesehen zu haben. Zum Abschied umarmen wir uns ein bisschen länger, als das vielleicht den normalen Verhaltensregeln zwischen Heteromännern entspricht. Man weiß ja bei ihm auch nie, ob man ihn je wiedersieht.

Wie er so die Treppen runtersteigt, sehe ich ihm schon ein bisschen wehmütig nach. Seine leicht gebückte Haltung ist auch nicht besser geworden, denke ich mir. Na ja, er hatte es ja schon immer mit dem Kreuz.

Mein seltsamer Freund. Mit dem komischen Namen.
Ich meine, wer heißt denn bitte „Jesus“, oder?


fyyd: Podcast Search Engine
share








 November 20, 2015  13m