Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0328: Hanging Munchkin


Der „Zauberer von Oz“ war für mich als kleines Kind wahrscheinlich die erste Begegnung mit dem, was man heute „Fantasy“ nennt. Es war faszinierend, fesselnd, etwas unheimlich, aber trotzdem ein Film, den ich immer wieder sehen wollte. Dank Internet weiß ich nun, dass sich während der Dreharbeiten ein „Munchkin“-Darsteller erhängt hat. Heißt es. Aber stimmt das?

Download der Episode hier.
Opener: „How Wizard of Oz Should’ve Ended“ von Smadam Productions
Closer: „Louis CK – Wizard Of Oz“ von Random Stuff
Musik: „Sunny Side of the Street“ von INSENSATEZ / CC BY-NC 3.0

+Skript zur Sendung
Die sogenannte „political correctness“ hat ja keinen besonders tollen Ruf. Viele Menschen sind verunsichert, wie man nun einen Mitbürger nennt, dessen Hautfarbe deutlich dunkler ist, wie die vom Opa, der bei der Waffen-SS war. Oder jemanden, der in seinem Leben nie deutlich größer gewachsen ist als, sagen wir einmal, einen Meter. Lilliputaner – der normale Ausdruck aus meiner Kindheit und Jugend ist nicht mehr opportun. Und wie findet man heraus, was der richtige Begriff ist? Zigeuner oder Roma? Jude oder Israeli? Nigger oder Afro-Deutscher? Das ist ganz einfach: Man fragt die Betroffenen.

Darum ist richtig verstandene „political correctness“ eigentlich nur eine moderne Form der Höflichkeit. Und gut, dass wir die haben. Denn einige Menschen sind kleiner oder dümmer oder sehen nichts oder haben Tupfen oder drei Brustwarzen – you name it – und sind trotzdem Menschen wie Du und ich. Aber die Zeiten waren nicht immer political correct.

Es ist, glaube ich, zwei Jahre her, als im Süddeutschen Magazin ein Artikel stand über die Liliputaner-Stadt. Das war eine kleine Sperrholz-Stadt, die auf ihre 15 Bewohner zugeschnitten war. Kleine Häuser, kleine Läden, eine kleine Bahn. Denn die Bewohner waren alle Kleinwüchsige. Und die Besucher zahlten Eintritt, um diesen Menschen beim Alltagsleben zuzusehen. In ihre Wohnungen zu starren. Klar, das ist eine klassische Freakshow. Wo ganz normale Menschen begafft wurden, bloß weil sie nicht so groß gewachsen waren wie der Durchschnitt. Das Erschreckende an dieser Geschichte war, dass diese Lilliputaner-Stadt bis in die Neunziger existierte.

Und in den Dreißigern war man noch gnadenloser bei der Ausbeutung von Menschen, die nicht in das Durchschnittsbild passten. Darum hat sich wahrscheinlich 1939 kein Mensch Gedanken gemacht, als man die Munchkins mit Kleinwüchsigen besetzte. Munchkins – auf Deutsch vielleicht „Knirpse“ sind ein heiteres Volk kleiner Menschen, die in Oz leben. Hobbits sozusagen. Und Oz ist das Märchenland im Roman „The wonderful Wizard of Oz“ aus dem Jahre 1900.

Die Verfilmung dieses Romans ist heute eine der bekanntesten amerikanischen Filme überhaupt und ich denke, ihr habt ihn alle schon einmal gesehen. Judy Garland, die mit 16 Jahren die kleine Dorothy spielt. Die Vogelscheuche, die Verstand sucht, der feige Löwe und der Blechmann ohne Herz? Die fliegenden Affen, die schmelzende Hexe und den hochstaplerischen Zauberer.
„Schaut nicht auf den kleinen Mann hinter dem Vorhang!“

Der Film war damals, 1939, ein großer Erfolg bei den Kritikern. Er wird oft als einer der wichtigsten amerikanischen Filme überhaupt aufgeführt. Und er brachte mit seinen quietschigen Farben den Durchbruch für Technicolor, einer Methode, Farbfilme im Kino zu zeigen. So wichtig war das, dass Dorothy im Film rubinrote Schuhe verpasst bekommt, die im Buch noch silber waren.

Bei den Oscarverleihungen konnte der Film nicht so richtig abstauben – nur „Somewhere over the Rainbow“ wurde ausgezeichnet – aber man trat auch gegen „Vom Winde verweht“ an. DER urameirkanische Märchenfilm gegen DIE uramerikanische Bürgerkriegs-Saga. Hartes Jahr.

Zurück zu den Zwergen, den midgets, wie man Kleinwüchsige damals noch ganz offiziell nannte. Da gab es damals also eine Gruppe von Kleinwüchsigen, die durch das Land tingelte, die sogenannten „Singing Midgets“, die sofort engagiert wurden. Und dieser Kern-Cast wurde dann mit vielen, vielen Kleinwüchsigen aus der ganzen Welt ergänzt. Schon kurz nach dem letzten Cut kamen dann Gerüchte auf, wie hemmungslos diese Zwerge sich während der Dreharbeiten benommen hatten. Alkohol, Sexorgien – allgemein einfach ein unmögliches Verhalten.

Sagte nicht zuletzt auch Judy Garland immer wieder in Interviews und schrieb es auch zum Nachlesen in ihre Autobiografie.

An der Kinokasse war der „Zauberer von Oz“ erst einmal eine große Enttäuschung. Ein Flop. Eine Bombe. Das wurde erst 1949 besser, als er noch einmal in die Kinos kam. Aber den Durchbruch schaffte der Film erst 1953 im Fernsehen. Wo er immer und immer wieder um die Weihnachtszeit ausgestrahlt wurde. Nicht nur in Amerika, im Deutschen Fernsehen war das nicht viel anders.

So kam er 1989 in einer „remasterten“, überarbeiteten Version also folgerichtig auch auf VHS heraus – es war klar, dass man damit gutes Geld verdienen konnte. Und auf dieser etwas anders geschnittenen Version, die ab da auch im Fernsehen lief, passierte im Hintergrund einer Szene etwas Seltsames.

Und zwar in dieser Szene. /Clip roadscene

Da bewegt sich etwas sehr seltsam im Hintergrund. Das, geneigte Zuhörerin, ist der berühmte „Hanging Munchkin“. Der Kleinwüchsige, der sich im Hintergrund an einem der Bäume des Bühnenbilds erhängt hat! Moment, Dramatik-Jingle! /Clip dramatic;Expl205

Da hängt er als, der Unglückliche und schaukelt vor sich hin. Und vorne singen Blechmann, Dorothy und Vogelscheuche munter vor sich hin. Unglücklich verliebt war er, sagen die einen. Depressiv war er, sagen die anderen. Denn die Midgets wurden schlecht bezahlt und mies behandelt, so heißt es.

Und so ging diese geheime Information von einem Filmfan zum anderen und fand später auch den Weg ins Internet. Schon 1989 hatte man aber bei MGM eine völlig andere Begründung. Zur Belebung des Hintergrunds hatte man tatsächlich eine Reihe exotischer Vögel gemietet, die über das Set liefen. Und was da aussieht, wie ein erhängter Zwerg ist in Wirklichkeit nur ein Emu! Wie kann man nur auf die Idee kommen, dass sich jemand auf einem Filmset unbemerkt erhängen kann!
*peinliches Lachen*

Na ja, da kann man jetzt auch nicht das Gegenteil behaupten. Zum einen ist es wirklich sehr schwierig, irgend etwas auf den Screenshot zu erkennen. Man kann also weder das eine noch das andere falsifizieren. Irgendetwas ist da. Punkt.

„Natürlich sagen die das vom Studio! Aber das ist gelogen! Nehmt nur meine ganz persönlich in Photoshop gemachte Verbesserung des Screenshots. Da sieht man das genau! Man erkennt sogar die Zwergenmütze!“ oder „Aha, und warum hat MGM dann 1998, als der „Zauberer von Oz“ auf DVD rauskam, den hanging munchkin aus der Szene retuschiert? Hmm? Wenn’s wirklich nur ein Emu war? Hmm?“ So antworten natürlich die Selbstmord-Anhänger.

Und auch heute noch geht die Debatte lebhaft weiter. YouTube ist voller Pro- und Anti-Videos, die diese Frage jedes Jahr neu um Weihnachten herum diskutieren.

Es ist wahrscheinlich die stille Sehnsucht an diesen ikonischen Film etwas Scheiße zu kleben. Die Bonbonfarben des Technicolor zu verdüstern. Denn in all’ seiner kitschigen Pracht und gespielten Herrlichkeit ist der Film heute ja nur schwer zu ertragen. Und irgendetwas muss daran ja falsch, gelogen, geheuchelt sein.

Die wahre Antwort gibt einfach der Drehplan. Wie die Szenen auf der gelben Ziegelstraße gedreht wurden, war noch kein einziger Kleinwüchsiger am Drehort eingetroffen. Die Midgets – egal, wie sie sich verhalten haben und egal wie sie behandelt wurden – waren einfach nicht da. Die kamen erst Wochen später nach Los Angeles. Aber das interessiert irgendwie keinen…

So populär ist der hanging munchkin, dass Irvine Welsh 2006 ihm sogar ein eigenes Theaterstück gewidmet hat: „Babylon Heights“.

Manchmal wollen wir einfach unbedingt die schlechte Version der Wahrheit glauben, oder?


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 November 19, 2015  15m