Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0323: Darf man lügen?


Ich habe die Schnauze von dieser Sendung gestrichen voll! Und auch das Feedback ist frustrierend. Meine Hörer sind mit Abstand die Dümmsten, die man sich nur vorstellen kann. Darum mache ich mit dieser Sendung ab heute Schluss! Basta! Aber in Wirklichkeit war das alles gelogen – ein mieser Trick, um auf das heutige Thema aufmerksam zu machen: Die Lüge!

Download der Episode hier.
Opener: „Why always you lying? (ORIGINAL VIDEO)“ von Elvin Marquez
Closer: „What Happens When Kids Hook Their Moms Up To Lie Detectors“ von Distractify
Das Paper: Effects of deception in social networks
Musik: „Lies“ von den Excitals / CC BY 3.0

+Skript zur Sendung
„Das Kleid sieht an Dir fantastisch aus! Und ja, mir macht stundenlanges Shoppen tierisch Spaß!“

„Nein, nein, nein! Dein Essen schmeckt hervorragend – ich bin bloß schon so satt!“

„Oh, das hast Du selber gebastelt? Das ist ja unglaublich, viel besser als gekauft!“

„Nein, es tut mir echt leid! Ich würde total gerne kommen – aber ich habe zur Zeit einfach so viel um die Ohren!“

„Ach, was! Keine Sorge! Die werden Dich alle toll finden, da bin ich mir sicher!“

„Süß, der Kleine – und der sieht Dir ja auch total ähnlich!“

Wer von euch noch niemals so eine kleine Höflichkeitslüge verwendet hat, der hebe jetzt den rechten Arm. Aha, doch einige. Aber ich bin mir sicher: Das ist gelogen!

Wir lügen uns in Wirklichkeit alle ein bisschen durch den Tag, das hält uns zusammen. Ich habe mir auch lange überlegt, was wohl die häufigste Lüge ist, die man so tätigt. Es ist, da bin ich mir ziemlich sicher: „Ja, ich habe die Nutzungsbedingungen gelesen.“

Aber irgendwie fühlen wir uns dabei natürlich nicht gut. „Lügen darf man nicht!“ Haben uns ja schon unsere Eltern beigebracht. Die ja alle echte Autoritäten sind auf dem Gebiet, gell, Mama und Papa! Ich sage nur Weihnachtsmann! Osterhase! Bienchen und Blümchen!

Und warum darf man nicht lügen? Na, weil’s in der Bibel steht, ist eines der 10 Gebote.
Heisst’s. Aber die meisten Sachen von denen Menschen behaupten, sie würden in der Bibel stehen, die stehen da gar nicht.

So auch hier. Da steht nämlich gar nicht „Du sollst nicht lügen!“ Sondern da steht: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten!“
Und das bedeutet in modernes Deutsch übersetzt, dass man nicht vor Gericht falsch aussagen soll. Und anderen damit schaden. Das ist alles.

Denn in Wirklichkeit wird in der Bibel nach Strich und Faden gelogen und zwar oft von den Guten. Schaut auch nur die Erzväter der Israeliten an. Da wäre z.B. Jakob, der sich das Erbe des Vaters erschleicht, in dem er sich als sein eigener Bruder verkleidet und behauptet er wäre Esau. Oder Abraham, der allen vorlügt, seine Frau sei eigentlich seine Schwester, nur um sich zu schützen. Und Profit zu machen. Der Pharao gibt ihm tatsächlich Schafe, Rinder, Esel, Knechte und Mägde, Eselinnen und Kamele für sie. Selbst dann lügt Abraham weiter. Oder, um eine Frau zu nennen – bei all den bärtigen Erzvätern: Die Tamar. Die lügt, damit sie von ihrem Schwiegervater geschwängert wird. Sie wird in der Bibel wörtlich eine Gerechte genannt, also ihr Verhalten als vorbildlich gelobt.

Und auch in unseren modernen Gesetzesbüchern steht das Recht auf Lüge. Wir haben in Deutschland alle das Recht, einem Arbeitgeber, der uns beim Vorstellungsgespräch unzulässige Fragen fragt, die Geschichte vom Pferd zu erzählen. „Ja, ich bin ein guter Christenmensch, nicht vorbestraft, nicht lesbisch, will nie schwanger werden und habe bei meinem letzten Job doppelt so viel verdient, wie Sie mir bieten.“ Das ist für unsre Richter alles erlaubt.

Klar, es gibt auch Lügen, die zersetzend sind. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich Uwe Barschel geglaubt habe, als er öffentlich sein Ehrenwort gab. Mittlerweile ist das Ehrenwort eines Politikers eher ein Indiz dafür, dass er gerade wie ein Propeller die Wahrheit verdreht.

Und von Sportlern als Vorbilder für integres Verhalten redet auch kein Mensch mehr. Von Christoph Daum, der Haare zum Drogentest schickt und behauptet, er hätte nie Kokain genommen zu all’ den Sportlern die Stein auf Bein schwören, sie hätten nie gedopt.

Aber sichtlich sind nicht alle Lügen schlecht. Ich freue mich schon immer sehr, wenn mir jemand sagt, mein Essen würde ihm schmecken. Und schaue dann lieber nicht so genau, ob die Person mir gerade aufrichtig in die Augen kuckt oder sich auffällig kratzt.
Solch kleinen Höflichkeitslügen sind wohl lässlich.

Moralisch gesehen unterscheidet man deswegen auch verschiedene Arten, die Unwahrheit zu erzählen. Da wären z.B. eben diese sozialen Lügen oder Höflichkeitslügen. Da denke ich, es kommt auf die Intensivität der Lüge an: Man muss ja nicht bei jeder kleinen Verspätung neue Horrorszenarien erschwindeln. Verliert man ja auch leicht den Überblick…

Dann gibt es die sogenannte Notlüge. Das ist das berühmte, vielzitierte Beispiel: „Nein, liebe Herren von der Gestapo, ich habe meinen jüdischen Freund nicht im Keller versteckt!“
Damit kommen alle Philosophen zurecht. Nur Augustinus und Immanuel Kant finden das nicht in Ordnung.

Das wären die Lügen, die heute als „White Lies“ bekannt sind. Die also einen positiven Zweck haben.

Dann kommen die Lügen, die schwieriger oder gar nicht rechtzufertigen sind. Zum einen die sogenannte Zwecklüge. Also, wenn man lügt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Sich einen Vorteil zu verschaffen. „Nein, Herr Lehrer, ich war’s nicht. Er war’s!“

Ich denke, ein Großteil der Arbeit von Werbetreibenden fällt in diese Kategorie. Aber, wenn man sich’s genauer überlegt, vielleicht auch in die nächste Kategorie.

Das wäre die dissoziale Lüge. Die Lüge, die bewusst den Schaden des anderen intendiert. Und den eigenen Nutzen. Intrigen z.B. fallen da hinein. „Ich habe genau gehört, wie die Marquise gesagt hat, sie sei vom Förster schwanger und nicht vom Marquis!“

Und eben vielleicht auch vieles, was in der Vermarktung so üblich ist. Eigentlich sind ja schon die „natürlichen Aromen“ auf der Verpackung eine dicke, dissoziale Lüge. Klar, wenn man Fruchtaromen aus verschimmelten Holzspänen generiert, ist das irgendwie natürlich. Holz ist ja natürlich. Aber die Absicht, die die Formulierung auf der Verpackung verfolgt, ist natürlich eine andere.

Und über das berühmte Fruchtzwerge-Motto: „So wertvoll wie ein kleines Steak“ brauchen wir nicht reden. Das ist einfach in hohem Maße unmoralisch. Und schädlich für die Kinder auch noch, die dann den Zuckerquark verabreicht bekommen.

Ach, eine Art der Lüge bleibt noch. Die sogenannte zwanghafte Lüge. Oder auch pathologische Lüge. Das ist eigentlich eine Krankheit, eine Neurose. Das führte man früher sogar als eigenes Krankheitsbild und nannte es Pseudologie. Heute sieht man zwanghaftes Lügen eher als Teil einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.

Also, Fazit: Höflichkeitslügen sind o.k., wenn man nicht zu dick aufträgt.
Notlügen sind o.k., wenn sie andere Menschen schützen.

Und das diese White Lies das menschliche Zusammenleben erleichtern und Netzwerke pflegen und erhalten, dafür gibt es nach einer Studie von Gerardo Iñiguez, Tzipe Govezensky, Robin Dunbar, Kimmo Kaski, Rafael A. Barrio sogar Evidenz. Die virtuellen Netzwerke, denen sie das Lügen komplett verboten, zerlegten sich komplett, bis nur noch Einzelindividuen übrig waren. Paper wieder auf der Homepage.

Wenn ihr mir auf der Homepage also einen Kommentar hinterlasst und mich mehr lobt, als ich das verdient habe, dann ist das moralisch und für mich total in Ordnung!


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 November 10, 2015  12m