Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0317: Schwerelosigkeit


Der Traum vom Fliegen, der vom Fallen, die Sehnsucht nach Geschwindigkeit und nicht zuletzt ausgebuchte Kotzbomber: Wir wären alle gerne ‘mal schwerelos. Befreit von unserem Gewicht und von der Anziehungskraft des Planeten Erde. Was ist das aber genau, die Schwerelosigkeit? Und ist das gut für uns?

Download der Episode hier.
Opener: „Learn about Gravity and Math w/ Isaac Netwon“ von Cool School
Closer: „Tears in Space (Don’t Fall)“ von Canadian Space Agency
Bildbeitrag: „Zero Gravity Corporation 2“. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
Musik: „That Thing You Do“ von Libertalia / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Kein Mensch weiß das genaue Datum, keiner die Stunde, als sich der Stengel vom Baum löste und der sagenumwobene Apfel fiel. Und auf dem Kopf von Isaac Newton landete. Es muss so 1665 gewesen sein und logischerweise im Herbst, als Newton so die Gravitation entdeckte.

War auch vorher noch nie jemandem aufgefallen, dass alle Dinge zu Boden fallen…
Und eine komplexe physikalische Theorie fällt jemanden auch einfach so ein. Zack, Erleuchtung, fertig. Keine Ahnung, warum Physiker überhaupt arbeiten, statt schläfrig unter Bäumen zu liegen. Jammerlappen, alle!

Natürlich ist das eine Legende. Newton war ein, sagen wir ‘mal ‘sozial unterentwickelter’ Mensch, der jahrelang an seiner „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ arbeitete. In 100-Stunden-Wochen.

Und Newton ist nur uns im Westen wichtig. Richtiger wäre es, wir würden die Gravitation Abu Dscha’far Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi zuschreiben. Der beschrieb diese nämlich schon im neunten Jahrhunder. Ein findiger Mann, übrigens. Das Wort „Algorithmus“ leitet sich von seinem Namen ab. Ist eine komplizierte Geschichte, nur soviel: Unsere „arabischen“ Ziffern sind eigentlich indische. Aber davon ein andermal mehr.

Ist ja auch wurst, wer sich den Schmarrn mit der Anziehung ausgedacht hat, ärgerlich ist das allemal, oder? Jetzt nicht nur, weil Geschirr und Smartphone-Displays zerbrechen, wenn man sie fallenlässt. Es ist allgemein ein Kreuz an diesen Planeten gefesselt zu sein. Unentrinnbar.

Darum kämpfen wir ja auch mit allen Mitteln dagegen an. Der Menschheitstraum vom Fliegen ist ein Traum davon, von der Schwerkraft befreit zu sein. Darum gibt’s Paraglider, Drachen, Bungeejumping, Achterbahnen, Free Fall Tower und die sogenannten Kotzbomber.
Alles für die kurze Sekunde, in der man die Schwerkraft nicht spürt. Airtime nennen das Schaubudenbesitzer.

Es geht um Freiheit, Schwestern und Brüder, Freiheit von unserem Gewicht!

Aber… Die schlechte Nachricht zuerst: Es gibt kein Entkommen. Physikalisch gesehen. Gravitation ist nicht irgendeine mystische Macht, Strahlung oder Naturgewalt, sondern – ganz simpel – eine Eigenschaft von Materie. Alle Materie zieht sich gegenseitig an. Nicht nur die Sonne die Erde, sondern auch Du, geneigte Hörerin, die Sonne. Aber die wiegt ca. 2 mal 10 hoch 30 kg.
30 Nullen, das macht halt ein Haufen Anziehung. Auch wenn Lehrer manchmal das Gegenteil behaupten…

Gravitation ist also eine Eigenschaft jeglicher Materie und nicht vermeidbar, abschirmbar oder blockbar. Physikalisch gesehen… Also, wenn Dich Dein nerviger Nachbar, der so viel dicker ist als Du auf der Treppe anmotzt und beschimpft, dann übt er eine größere Anziehung auf Dich aus als Du auf ihn. So grausam ist Physik.

Die gute Nachricht ist aber: Es gibt ja diese Sekunden der Schwerelosigkeit. Die sogenannten Kotzbomber von oben sind Flugzeuge, die einen sogenannten Parabelflug machen. Man zahlt so an die € 5000,- – je nach Anbieter – wird dann in luftige Höhen gehoben. Dann stürzt das Flugzeug kontrolliert ab. Und in dem Flugzeug herrscht dann während des Sturzs Schwerelosigkeit. So für ca. 90 Sekunden. Muss man aber nach Frankreich, in die USA oder nach Russland reisen, was die Kasse noch mehr belastet.

Und dann kennen wir ja alle die Bilder aus der ISS, wo uns vor allem Chris Hadfield viel über die Schwerelosigkeit gezeigt hat. Z.B. wie unromantisch ein Heulanfall im All ist, wenn die Tränen dann wie ein Ball am Gesicht kleben, statt zu fallen. Die Oberflächenspannung ist da sozusagen größer als die Schwerkraft.

Und tatsächlich berichten alle Astronauten, welches großartige Glücksgefühl das ist, von allem Gewicht befreit zu sein. Frei! Schwebend! Tagaus! Tagein!

Doch der Gravitationskater folgt auf dem Fuße. Denn der Körper ist nicht wirklich für die Schwerelosigkeit gemacht. Die Hörknöchelchen, die uns auf der Erde instinktiv Orientierung bieten, haben im All nicht wirklich ‘was zu tun. Man verliert völlig das Gefühl dafür, wo man sich im Raum befindet. Und das löst dann die Raumkrankheit aus. In den ersten Tagen gilt es für Newcomer auf der ISS also: Weiß immer, wo der nächste Space-Kotzbeutel ist! Denn Du wirst ihn brauchen.

Und dann kommt noch dazu, dass der Blutkreislauf auch auf die Gravitation zählt. Das ist unser Körper gewohnt. Das Blut wird also weiterhin mit Druck in den Kopf gepumpt, aber fließt nicht mehr so gut ab. Darum schauen die Astronautengesichter oft auch so seltsam geschwollen aus. Für Rotz gilt übrigens ähnliches, Nase und Nebenhöhlen sind die ersten Tage erst einmal zu. Berichtet Chris Hadfield.

Nach einigen Tagen findet der Körper sich aber wieder zurecht. Dafür beginnen dann nach einigen Wochen die nächsten Probleme. Die Hauptfunktion des Großteils unserer Muskelkraft besteht ja nicht darin, schwere Gewichte zu pumpen, sondern der dummen Schwerkraft zu trotzen. Daher rührt wahrscheinlich der Traum von der Schwerelosigkeit überhaupt.

Wenn man auf der Erde so normal rumsteht, auf beiden Beinen, dann arbeiten ein Haufen Muskeln von der Sohle bis zum Hals daran, uns aufrecht zu halten. Wie gesagt, Schwerkraft ist anstrengend.

Und auch unser Skelett ist es gewohnt, dass es dauernd erschüttert wird. Bei jedem Schritt, bei jeder Handlung. Denn die Muskeln setzen ja direkt an den Knochen an. Bei jedem Schritt hebt ein Bein die ganze Last des Körpers und das zweite Bein fängt das Ganze dann wieder auf. Und das kann, speziell wenn man so dick ist wie der cholerische Nachbar, ganz schön viel sein.

Das bleibt aber alles im Weltall aus. Der Halteapparat, die Muskulatur und das Skelett haben nichts mehr zu tun. Und Bodybuilding hilft ja auch nicht. Selbst die fetteste Hantel wiegt in der Schwerelosigkeit ja eben nüscht.

Und deswegen beginnen die Muskeln in der Schwerelosigkeit schnell zu schrumpfen. Zu atrophieren. Darum sieht man die Astronauten auf der ISS auch oft auf irgendwelchen Trimmrädern abgebildet. Oder andere Trainings ausführen.

Und dazu gibt es noch Schüttelbretter, um dem Skelett die Erfahrungen, die es von der Erde so kennt, vorzugaukeln.

Schwerelosigkeit ist also nichts für Weicheier. Und wir leider nicht wirklich dazu gemacht.

Ach, noch eine Kleinigkeit: Eigentlich sind die Astronauten gar nicht schwerelos. In Wirklichkeit wirkt auf die ISS noch immer 94% der Schwerkraft, die wir hier auf der Erde auch haben. Es gibt im ganzen großen Universum keinen einzigen Ort, der echte „Schwerelosigkeit“ zu bieten hätte.

Aber die ISS ist einfach nur ein riesiger Parabelflug, ein Riesenkotzbomber. Sie stürzt ständig. Halt immer an der Erde vorbei. Jeder Körper ist dann schwerelos, wenn ihn die Schwerkraft ohne Behinderung durch eine Gegenkraft in eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung versetzen kann.
„Gegenkraftlosigkeit“ wäre wohl eigentlich der richtige Ausdruck. Ist halt uncooler…

Es ist also eigentlich nicht die Schwerkraft, die stört, sondern die Gegenkraft. Eben die, die auf unsere Füße wirkt.

Und, ein letzter Trost: Beim Joggen, also, wenn man läuft, wenn ganz kurz beide Füße in der Luft sind, da kann man auch Schwerelosigkeit erleben. Kleine Bruchteile von Sekunden bei jedem Schritt.

Freiheit, Schwestern und Brüder, Freiheit!


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 November 2, 2015  13m