Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0301: Der „Computer“


Mittlerweile gibt es in jedem Dorf mindestens einen kleinen Computerladen. Wo sich ein arroganter PC-Schrauber oder Unix-Hacker seinen Traum von der Selbstständigkeit verwirklicht. Und hauptsächlich Tonerkartuschen verkauft. In solchen Geschäften können manchmal Welten kollidieren. So wie in der heutigen Sendung.

Download der Episode hier.
Opener: „IBM 5100 First Portable Computer commercial 1977“ von Magdy Ragab
Closer: „Futurama – Fix it! Fix it! Fix it!“ von Graul Kridio
Musik: „Dance it, Dance All“ von The Easton Ellises / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung

Unser heutiges Drama spielt in einem beliebigen kleinen Computerladen. Ihr kennt diese Buden, wo sich ein begeisterter Schrauber und Hacker selbstständig gemacht hat. Alles steht voller Schachteln, in den Regalen hängen vergilbte Packungen mit Kabeln, die man nicht mehr braucht.

Der Besitzer, in einem nicht ganz sauberen Holzfällerhemd isst ein Döner und spielt auf einem echten Gameboy von 1989 Tetris. Die Ladentür öffnet sich. Ein Kunde betritt den Laden. Das kommt nicht oft vor. Es ist ein gepflegt wirkender, eleganter Mann um die 60. Vielleicht gelingt es heute, endlich einmal den ersten Umsatz zu machen…

K: „Guten Tag!“
(Tetrismelodie läuft weiter…)
K: (lauter) „Guten Tag!“
(Tetris…)
K: (noch lauter) „Guten Tag!“
B: „Was? Oh! Hallo! Äh, guten Tag!“
(Tetriemelodie hört auf.)
B: „Was kann ich für Sie tun?“

K: „Äh, ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin….“
Der Kunde sieht sich mit großen Augen in dem chaotischen Geschäft um.
K: „Ich möchte einen Computer käuflich erwerben.“

B: „Ach. Einen Computer.“
K: „Ja, so eine elektronische Rechenmaschine.“
B: „Es gibt keine Computer.“
K: „Oh, Verzeihung. Dann bin ich wohl falsch. Im Schreibwarenladen nebenan sagte man mir, hier könnte ich einen Computer kaufen. Verzeihung…“

B: „Halt, halt! So war das nicht gemeint. Wissen Sie, so geht das heute nicht mehr. Sie können nicht einfach einen Computer kaufen. Wollen Sie ein Notebook, ein Laptop, ein Handheld, einen Desktop – entweder Mac, Windows oder Linux – ein Netbook, einen Palmtop, ein Smartphone oder vielleicht tut’s ja auch ein Taschenrechner?“
K: „Hm. Führen Sie auch Wörterbücher? Oder Sprachführer?“
B: „Nein. Das heisst, ich habe irgendwo noch eine Version von der Encarta rumliegen, die keiner gekauft hat. Auf CD-Rom…“

K: „Verzeihung, das war ein Scherz. Können Sie mir die Unterschiede erklären?“
B: „Hm. Das kann dauern. Was haben Sie denn jetzt?“
K: „Was ich habe. Nichts. Habe ich den Eindruck gemacht, ich habe ‘was?“
B: „Was für ein System?“
K: „System? Wie meinen Sie das? Also, meine eingehende Post sortiere ich nach privat und geschäftlich. Meine Socken nach Farben und die Lebensmittel im Regal nach Verfallsdatum. In Wirklichkeit bin ich vielleicht sogar zu penibel. Ich habe sogar ein System entwickelt, um meine Schuhe zu sortieren. Also…“

B: „Nein, nein! Das meine ich nicht. Welches System verwenden Sie bisher. So hardwaretechnisch!“
K: „Hard.. wer?“

B: „O.k. Was Computer Du haben?“
K: „Ich nix Computer haben. Sonst ich nicht Dich fragen, Bwana!“

B: „Wie? Sie haben keinen Rechner, kein Smartphone, nix?“
K: „Ich habe kein Notbuch, Handelheld, Dessop – weder Mac, noch Widow oder Linus – kein Nettbuch, kein Smartphone. Aber einen Taschenrechner habe ich.“

B: „Wie? Wie kann es sein, dass Sie keinen Rechner haben?“
K: „Ach Gott… Wissen Sie, im Jahre 1964 habe ich an einem geheimen Programm der Regierung teilgenommen. Man wollte die Cryogenik erforschen. Und so wurde ich 50 Jahre lang eingefroren. Und erst vor einem Jahr wieder aufgetaut. Ich habe noch viel aufzuholen…“
B: „Das ist ja cool!“
K: „Ja, ich schaue eigentlich seit Monaten nur fern. Ich bin jetzt schon bei einer Fernsehserie angekommen, wo ein sympathischer junger Mann mit einer hässlichen Frisur Atomreaktoren mit Schokolade und Kaugummi repariert….“
B: „Macguyver!“
K: „Ja, genau, so heisst die!“
B: „Wo, fünfzig Jahre eingefroren. Wie cool! Ist das echt wahr?“

K: „Nein, das ist natürlich nicht wahr! Das war auch ein Scherz!“
B: „Ach sooo… (überlegt) Aber warum haben Sie dann keinen Rechner?“
K: „Oh je, es geht weiter… Ich bin aus Trudistan. Das ist ein unbekanntes Land, in dem die Religion der Truden vorherrscht. Binäre Systeme sind bei uns verboten, weil sie Gottes wunderbare Schöpfung auf Ja und Nein abstumpfen…“

B: „Sie verarschen mich schon wieder, oder?“
K: „Das ist nicht verarschen. Das ist Sarkasmus. Das machen intelligente Menschen manchmal, wenn das Gehirn zu weh tut. Ist ein Reflex. Verzeihen Sie, ich kann nicht anders, ich bin da machtlos…“

B: „Ach so. Verstehe. Ist wie bei mir und Chips. Wenn ich die Tüte einmal aufgemacht habe, müssen Sie wissen…“
K: „Eine kurze Unterbrechung ihrer Ausführungen sei mir gestattet. Ich muss leider in vier Stunden wieder den Zug erwischen. Könnten wir uns wieder der Computerproblematik zuwenden?“
B: „Ach so… Klar. Verstehe. Da brauchen wir einen neuen Ansatz… Aber, ehrlich, warum haben Sie keinen Rechner?“

K: „Weil ich keinen Rechner habe! Weil ich keinen brauche! Ich kaufe Tickets am Schalter, schreibe Briefe auf meiner Schreibmaschine, schaue Filme im Kino. Und telefoniere mit meinem Telefon. Ich sehe keinen Grund an dieser gut funktionierenden Konstellation etwas zu ändern. Aber nun gibt es keine Farbbänder mehr für meine Schreibmaschine. Und die Kollegen vom Schreibtischladen nebenan haben mir gesagt, dass macht man heute mit einem Computer. Aber, wenn ich hier erst Fragebögen beantworten muss, dann greife ich vielleicht auf die Technologie zurück meine Korrespondenz mit Hammer und Meissel in Steinplatten zu hauen!“

B: „Verstehe. Wissen Sie ‘was, ich verstehe Sie völlig! Sie wollen einfach nur Office-Produkte benutzen. Da hätte ich einen sehr günstigen Windows-Laptop hier. Der hat zwar einen Siebzehn-Zöller, aber in ihrem Alter sind ja die Augen oft nicht mehr so gut. Und mit diesem USB-Stick haben Sie dann auch unterwegs Internet-Empfang.
K: „Indernet?“
B: „Internet! Wissen Sie nicht, was das Internet ist?“
K: „Nein. Aber ich befürchte, Sie werden mich gleich aufklären…“
B: „Das ist ein Netz aus Tausenden Rechnern, die miteinander verbunden sind. Wo für jeden jederzeit alles Wissen der Menschheit abrufbar ist. Wo man mit fremden Menschen überall auf der Welt kommunizieren kann. Sich fortbilden, neue Dinge lernen…“
B: „Andere sagen aber, es sei nur dazu da Katzenbilder zu kucken. Und Pornofilmchen.“
K: „Haben Sie Internet?“
B: „Natürlich! 100 Megabit, logisch!“
K: „Ich kann mir vorstellen, welcher Denkschule Sie anhängen…“

B: „Denkschule?“
K: „Sagen Sie, eine ganz andere Frage. Kann ich als jemand, der als gläubiger Trude fünfzig Jahre eingefroren war, so eine Kiste auch bedienen?“
B: „Wie? Jetzt doch? Ach nee, halt, sie verarschen mich schon wieder, oder?“
K: „Kann Blödmann Kunde bedienen Maschine von Dir?“

B: „Klar, das ist heute gar kein Problem mehr. Die Systeme sind alle mit grafischer Oberfläche und Maus oder sogar Touch intuitiv zu bedienen. Und dank der heutigen Chiparchitektur auch blitzschnell. Wenn’s halt nicht die Geduldsfalle gäbe, wäre alles super…“
K: „Geduldsfalle?“
B: „Ja, alle Systeme kommen heute mit NEPV, das ist ein offenes Geheimnis unter Entwicklern.“
K: „NEPV?“
B: „Neukauf erzwingende programmierte Veralterung. Wissen Sie, wenn Sie den Rechner jetzt mit nach Hause nehmen, das springt der in unter 10 Sekunden an. Die Icons reissen die Programme auf leichtesten Mausklick auf. Das Internet lädt alle möglichen Links schon vor und ist auf jeden Klick schon vorbereitet. Ihre Word-Dateien sind schlank und der Drucker schnurrt wie ein Kätzchen…“

K: „Ich verstehe kein Wort. Aber das klingt irgendwie gut. Das nehme ich!“

B: „Moment! Das ist nicht alles. Denn wegen der NEPV ist das schon nach einem Monat anders. Das Hochfahren dauert schon eine Minute. Einige Icons müssen Sie doppelklicken, andere nicht. Oft starten Programme gar nicht mehr oder zehn Mal auf einmal. Bestimmte Webseiten können Sie nicht mehr darstellen und der Drucker wird nur gefunden, wenn Sie das Kabel beim Drucken hochhalten…

K: „Ah. Ich verstehe. Das Prinzip wird klar. Wie ist denn der Zustand nach, sagen wir einmal, zwei Jahren?“

Kurz tritt eine gespenstische Stille auf. Die Augen des Verkäufers werden glasig. Ein Druckertreiber fällt zu Boden. Man kann das hören. Dann lacht der Verkäufer. Aber das war so unmenschlich und irre, dass ich’s rausgeschnitten habe. Auf jeden Fall beginnt er selbstvergessen im Laden auf und ab zu laufen, Kisten aus dem Weg tretend und dabei zu lamentieren…

B: „Nach zwei Jahren ist ihre Kiste so veraltet, dass jeder Supporter, den sie anrufen erst einmal über sie lacht und dann jovial erklärt, dass System, das würde man schon lange nicht mehr unterstützen. Wollen Sie ihren Rechner starten, dann machen Sie das am besten am frühen Abend. Für den Fall, dass Sie ihn am nächsten Vormittag brauchen. Ihre Icons sind bei jedem Neustart an neuen, verschiedenen Orten. Einmal in der Taskleiste, dann im Startmenü oder auf dem Desktop. Während Sie die suchen, poppen ca. zwanzig Fenster auf, wo Ihnen die unnötigsten Dienstprogramme vorschlagen, endlich die benötigten 114 Updates runterzuladen. Aber Sie finden die entsprechenden Seiten im Web nicht mehr, weil ihr Browser seit längerem nur noch den HTML-Code direkt darstellt. Bilder, Sound und Video sind Dinge, die ihr Rechner nicht mehr beherrscht. Wollen Sie einen kurzen Brief an Ihren Freund in, sagen wir ‘mal, Wanne-Eickel schreiben, dann hat die enstehende Word-Datei aus irgendeinem Grund ungefähr 2 Gigabyte. Vielleicht, weil im Header jedes Dokument eingebunden ist, dass Sie je getippt haben. Wenn Sie das dann per Email versenden wollten, dann wäre es schneller, Sie schrüben aus Ihrem Brief ein Gedicht in Hexametern und lernten das dann auswendig. Dann gehen Sie in den Wald, fangen ein Rudel Wildschweine und zähmen die. Die spannen Sie dann vor das Skateboard Ihres Enkels und fahren damit los nach Wanne-Eickel. Dort tragen Sie das Gedicht Ihrem Freund persönlich vor. Wenn Sie dann wieder zu Hause sind, dann ist der Sendevorgang Ihrer Email gerade bei 50%. Und das alles…“

B: „Hallo? Hallo? Hallo? Mist. Gegangen. Immer noch kein Umsatz…“


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 October 9, 2015  15m