Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0278: Japans Sexproblem


„Das ist ein cooles Rollenspiel, das musst Du spielen!“ Sagt’s und drückt mir eine Diskette in die Hand. Und ich klicke mich durch. Etwas textlastig. Aber mit einem Schlag soll ich die Rolle eines außerirdischen Tentakelmonsters spielen und ein japanisches Schulmädchen vergewaltigen. Mein erster Kontakt zur japanischen Sexkultur aus den 80er Jahren. Ist das der Grund, warum junge Japaner den Sex über haben?

Download der Episode hier.
Opener: „The 40 Year Old Virgin (1/8) Movie CLIP – Are You a Virgin?“ von Movieclips
Closer: „Guys and Dolls (Real Doll Documentary) part 1“ von we play Oldschool
Musik: „Leave Me Alone“ von Mosaïque / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Das im Opener war ein Ausschnitt aus dem Film „Jungfrau (40), männlich, sucht…“
Einem der besten Judd Apatow-Filme. Dessen Humor darauf beruht, dass es halt wenige Männer um die 40 gibt, die noch keinen Sex hatten. Oder nie in einer Beziehung waren.
Ich weiß nicht, wie der Film in Japan so angekommen ist.

Denn dort ist das kein seltenes Phänomen. Denn in der Altersgruppe der 18 bis 34-Jährigen hatten 36% der Männer und 39% der Frauen noch nie in ihrem Leben Sex. 61% der Männer und 49% der Frauen hatten nie eine Beziehung. 27% der Männer und 23% der Frauen gaben an, auch keinerlei Interesse daran zu haben.

Ein Drittel einer ganzen Generation hat kein Bock mehr auf Sex. Das ist ein schon länger beobachteter Trend, der den Medien und der Politik auch richtig Sorgen macht. Das Phänomen nennt sich „sekkusu shinai shokogun“, was man sehr frei als das Zölibats-Syndrom übersetzen könnte.

Darum hat Japan auch die zweitschlechteste Geburtenrate der Welt, nur wir Deutschen kriegen weniger Babys. Und weil es auch keine Auffrischung durch junge Menschen aus anderen Ländern gibt, hat Japan das größte demographische Veralterungsproblem der Welt. Schon 2060 werden 2 von 5 Japanern über 65 sein. Und die Bevölkerung um 30% geschrumpft sein, wie sie es schon seit Jahrzehnten tut.

Und nachdem es zu dieser seltsamen Erkrankung jährlich neue Umfragen gibt, kann man sagen: Es wird von Jahr zu Jahr dramatischer! Die letzte Umfrage der japanischen Familienplanungsvereinigung – ja, so etwas gibt es – fand heraus, das faktisch 50% aller Japaner im letzten Monat keinen Sex hatten.

Das ist ein seltsames Phänomen, wenn auf der anderen Seite die Sexualität in Japan anscheinend omnipräsent ist. Und für Europäer sehr seltsame Blüten treibt. Denn die seltsamsten Fetische scheinen von außen betrachtet in Japan zur allgemeinen Popkultur zu gehören. Was einfach daran liegen mag, dass es in Japan kein religiös bedingte Prüderie gibt.

Vergewaltigungsphantasien, durch Männer, Möbel oder schleimige Tentakel-Aliens gehören genauso zum Volksgut wie die Vorliebe für geschminkte 14Jährige Mädchen in Schuliniform.

Fetisch-Clubs gibt es in allen Geschmacksrichtungen. Ob der Fetisch bukake heißt – und Kacke ist zu Recht in dem japanischen Wort verborgen – oder Kikkou, also Bondage. Es gibt aber auch Clubs für nyotaimori, also Sushi vom Körper einen nackten Frau essen, oder ha daisuki, wo Fetischisten einer Frau eine Zahnuntersuchung verpassen. Sexy, oder?

Es zeichnet sich – halb öffentlich – ein bizarres Bild: Es gibt Bars, in denen man 4000 verschiedene Vibratormodelle ausprobieren kann. Es gibt eine Sendung namens „Orgasmus Kriege“. Heterosexuelle Männer kämpfen gegen homosexuelle Prostituierte. Es geht darum, als Hetero keinen Orgasmus zu haben, wenn man vom schwulen Gegner einen geblasen bekommt. Kommt im Fernsehen.

Es gibt Body Lotions zu kaufen, die nach „Schulmädchenurin“, „Knabenanus“, „Studentinnenblutung“ oder einfach „Achselhöhle“ riechen sollen. Das Schulmädchen wohlhabende Männer per Web-Plattform daten – gegen Geld – ist zwar verboten, aber so verbreitet, dass die Polizei machtlos ist.

Und natürlich ist Japan die Hochburg der Love Dolls. Also möglich lebensechter Sexpuppen. Jahr für Jahr werden diese lebensgroßen Nachahmungen von menschlichen Frauen lebensechter. Das spielt auf einem ganz anderen Planeten als die Aufblaspuppen, die einen in deutschen Sexshops so anglotzen. Mittlerweile zieht hier auch die Robotik ein, so dass die ca. 4000 Euro teuren Plastikfrauen sich jetzt auch noch zu bewegen beginnen.

Auch wenn das in westlichen Medien oft als Erklärung dafür verstanden wird, dass den jungen Japanern Jahr für Jahr die Lust am Sex mehr vergeht, ist die Ursache für Japans Sexproblem wahrscheinlich eine andere.

Japan hat einfach den Feminismus verschlafen.

Laut einer Statistik des Weltwirtschaftsforums rangiert Japan, was die Gleichberechtigung betrifft auf Platz 104 von 140 Ländern. Besser als die Malediven – zugegeben, aber schlechter als z.B. Armenien.

Das Rollenbild in Japan hat sich einfach nie geändert. Noch immer ist das Ideal einer Beziehung, dass der Mann möglichst viel schuftet und das Geld ranschafft. Nur in Japan gereicht es einem zur Ehre, wenn man übermüdet am Schreibtisch schläft. Und die Frau darf sich vor einer Beziehung gerne etwas selbst verwirklichen, aber bitte mit Beginn der Schwangerschaft zurück an den Herd.

Eine Frau, die Kinder hat und arbeitet, gilt als oniyome. Frau des Teufels. Und auch die oben aufgezählte Liste von Fetischen und sexuellen Vorlieben idealisiert hauptsächlich die unterwürfige Frau, möglichst noch im Schulalter, die sich am besten auch noch gerne auf jede erdenkliche Art vergewaltigen lässt.

Es gehört nicht viel dazu sich vorzustellen, dass junge japanische Männer solche Lustobjekte einfach nirgends finden können. Und dass junge japanische Frauen einfach keinen Bock mehr haben, dieses Spiel mitzuspielen.

Da ist eine Plastikpuppe einfach der bessere Partner für den überarbeiteten jungen Mann, der sein Privatleben der Karriere opfert. Es ist vielleicht ein bezeichnendes Symptom, dass der Weltmeister im Masturbieren aus Japan kommt. (Ja, dafür gibt es eine Olympiade. Mit vielen verschiedenen Disziplinen. Fragt nicht!)

Sein Name ist Masanobu Sato. Und er hat eine Freundin.
Sex haben die beiden allerdings nur ein paar Mal im Jahr.

Soviel zu den Vorurteilen, dass unsere jungen Männer so arg unter dem Verlust der alten Rollenbilder leiden. Dass sie gar nicht mehr wissen, wie sie sich als Männer verhalten sollen. Diese Gleichbereichtigung, die macht ja alle gleich, da geht ja die sexuelle Spannung verloren!

Tja, Japan lehrt uns etwas anderes. Gleichberechtigung, oder einfach eine moderne Einstellung zu überalteten Rollenbildern, dass ist wahrscheinlich gut für das Sexualleben.

Es sind die alten Zöpfe, die die Lust vergällen.
You need feminism for better sex.


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 September 8, 2015  12m