Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0275: Der Cutter


Eine Bekannte von mir hat nie die Kulturtechnik erlernt, ein Comic zu lesen. Sie kann zwar über die Peanuts lachen, aber wenn der Gag aus der Sequenz kommt und nicht aus dem Text, dann versteht die das nicht. Und auch einen Film, der ja auch aus einzelnen Sequenzen besteht, zu verstehen, ist eine Fähigkeit, die wir erlernen. Deswegen ist der Schnitt bei einem Film das A & O.

Download der Episode hier.
Opener: „To Be An Editor“ von Avid
Closer: „Death Proof – Hello Sally“ von csthrace2
Beitragsbild: “Film editing table (5201693172)” by Marcel Oosterwijk from Amsterdam, The Netherlands – Film editing tableUploaded by MGA73. Licensed under CC BY-SA 2.0 via Commons.
Musik: „Light On In My Heart“ von David Mumford / CC BY 3.0

+Skript zur Sendung

Kleines Quiz: Was haben folgende Filme gemeinsam? Der Pate, Der Pate – Teil II, Der Dialog und Apocalypse Now? Genau, das sind alles erfolgreiche Filme von Francis Ford Coppola. Einige würden sie sogar Meisterwerke nennen.

Und kennt ihr: „Einer mit Herz“, „Peggy Sue hat geheiratet“ oder „Tucker: Ein Mann und sein Traum“? Das sind alles große Flops vom gleichen Mann. Von Francis Ford Coppola.

Der Unterschied zwischen den Filmen ist ein anderer. Nämlich ein Mann mit Namen Walter Murch. Und der ist Editor. Oder Cutter. Oder, in deutsch: Schnittmeister.

Und der Schnitt bestimmt einen Film komplett. Man sagt, ein Film wird dreimal geschaffen. Erst als Drehbuch, dann beim Dreh und am Ende im Schneideraum. Der Editor hat die finale Kontrolle über den Schnitt und das, was wir sehen. Und was wir empfinden. Der Schnitt ist es, der die Geschichte erzählt.

Am Anfang des Kinos gab es diesen Beruf überhaupt nicht. Kameras waren neu und teuer, Filmmaterial ebenso. Kino begann mit Szenen aus dem Leben, die in einem Schnitt abgefilmt wurden. Das reichte erst einmal, um Massen an Menschen in die Kinos, Jahrmarktbuden und Zelte zu locken. Drei Minuten fährt ein Zug in einen Bahnhof ein. Mindblowing! Schockierend! Weltbewegend!

Aber das legte sich schnell. Weswegen sich die frühen Filmemacher auf das Drama, auf die Literatur und sogar schon auf Gruselmotive – mit Special Effects – verlegten. Aber auch hier gab es keinen Schnitt. Keiner hatte die Idee, mal eine Großaufnahme einzubauen. Es waren im Prinzip abgefilmte, kleine Theaterstücke.

Wer jetzt genau als erster auf die Idee kam, einen Film wirklich zu schneiden, darüber kann man streiten. War es Robert W. Paul’s „Come Along, Do!“,aus dem Jahre 1898? Da sieht man ein Paar ihr Mittagessen vor einer Kunstausstellung einnehmen. Dann folgen sie den anderen in das Gebäude. Schnitt. Wir sehen das Paar im Gebäude.

Klingt unaufregend, oder? Aber man muss sich mal eines klar machen: Das war das erste Mal, dass menschliche Augen so etwas gesehen haben. Bis dahin war die Wahrnehmung eines jeden Menschen eine ununterbrochen lineare Einstellung. Sozusagen ein Shot, eine lange Einzelaufnahme. Jeder Tag, vom Öffnen der Augen am Morgen bis zum Einschlafen ungeschnitten.

Es stellt sich wirklich die Frage, warum wir Filme überhaupt wahrnehmen können. Sozusagen entschlüsseln können. Einzelne Sequenzen miteinander sinnig verknüpfen können. Liegt es daran, dass Träume oft so sind? Also geschnitten in Sequenzen.
Oder weil unsere Gedanken das auch gerne tun, von einem Thema zum nächsten zu springen?

Schon der zweite Kandidat für den Titel als erster Schnittmeister erkennt die Macht, die so ein Schnitt hat. Edwin S. Porters „The Life of an American Fireman“ von 1903. Da sehen wir in Nahaufnahme eine Hand, die einen Feueralarm auslöst und dann – Schnitt – wie die Feuerwehrleute sich zum Einsatz fertigmachen. Zwei Dinge, die gar nichts miteinander zu tun haben. Eigentlich. Die wir im Kopf aber in eine Geschichte integrieren.

Noch schöner in seinem Film „The Kleptomaniac“ aus dem Jahre 1905. Da sehen wir einen armen Dieb, der für den Diebstahl im Knast landet und – Schnitt – den reichen Kleptomanen, der für die gleiche Tat nur einen Schlag auf’s Handgelenk bekommt. Durch den Schnitt stellen wir die beiden Szenen in Verbindung und denken uns genau das, was der Filmemacher wollte.

Der Schnitt erzählt die Geschichte. Setzt die richtige Information am richtigen Ort. Bringt Dialog, Sounds und Musik zusammen. Sorgt für den Rhythmus. Und bestimmt damit unsere Emotionen. Saugt uns in den Film oder distanziert uns wieder. Wie der Editor das möchte.

Und natürlich gibt es bekannte Editors, Cutter, Schnittmeister. Es war Elmo Williams, der aus „High Noon“ ein Meisterwer gemacht hat. Weil er den Film in Echtzeit geschnitten hat. Und seine Cuts mit der großen Standuhr taktete. Oder wie Frank Keller, der den Film Bullit“ durch’s Schneiden gerettet hat. Bei einer Verfolgungsszene war ein Auto zu früh in die Luft geflogen. Aber statt die ganze, teure Szene noch einmal nachzudrehen, erzählte der Cut die Geschichte trotzdem richtig. Oder Marcia Lucas. Der erste Star Wars war bei Testaufführungen beim Publikum durchgefallen. Dann vertraute George Lucas den Film seiner Frau an, die ihn zu dem rasanten, spannenden Abenteuer machte, das Legende wurde. Oder Sally Menke, die zum Beispiel alle Tarantino-Filme geschnitten hat und leider 2010 verstorben ist.

Denn die meisten Cutter sind Frauen. Ungewöhnlich für die Machowüste Hollywood. Das liegt daran, dass diese Tätigkeit ursprünglich als Handarbeit angesehen wurde. So wie Stricken oder Nähen. Ehren wir also noch Margaret Booth, Verna Fields oder Thelma Schoonmaker, die durch die Arbeit mit Martin Scorcese wenigstens ein bisschen bekannt ist.

Cutter ist ein einsamer Beruf. Die meiste Arbeit geschieht in der Editsuite. Das ist ein fensterloser, schallisolierter Raum, wo der Editor Wochen um Wochen an einem einzelnen Film sitzt. Ein normaler, abendfüllender Film besteht aus dreißig Stunden Filmmaterial, aus dem ausgewählt werden muss. Und das geht auf den einzelnen Frame genau.

Und jede Szene baut sich aus vielen Shots auf. Actionszenen können schon mal über 100 Shots haben. Die es dann in zwei- bis dreifacher Version geben mag. Und in welcher Reihenfolge man diese Shots dann schneidet ist ja das Entscheidende. Es gibt also praktisch unendlich viele Möglichkeiten einen Film drehbuchgerecht zu schneiden.

Cutter sind wohl ein eigener Menschenschlag, denn ihre Arbeit ist so unbekannt wie die von Spionen oder Ghostwritern. Das ausgerechnet die Schauspieler im Blitzlichtgewitter stehen ist eigentlich unverständlich. Denn Drehbuchautoren, Regisseure und eben der Cutter bestimmen den Film. Das sind die wirklich kreativen Berufe.

Einer der wenigen Regisseure, die das anzuerkennen bereit sind, ist übrigens Quentin Tarantino. Er gesteht offen, das Sally Menke sein wichtigster Mitarbeiter war. Das sein Erfolg auch Sally zu verdanken ist. Darum ist es bei allen seiner Produktionen üblich, dass die Schauspieler und Mitarbeiter Grüße an Sally einbauen. Damit die sich in den vielen Wochen des Schneidens auch ab und zu freut.

Hier ein paar Beispiele…
/Clip 01

Ach, und das ist Till Schweiger, der ja auch sterben darf in Inglorious Basterds..
/Clip 02

Also, ein Hoch auf die Cutter, Editoren und Schnittmeister! Vielen Dank!


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 September 3, 2015  14m