Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0269: Die Spaghetti-Ernte


Ach ja, Aprilscherze. Das ist sicher ein schlimmer Tag für weniger Humorbegabte, dieser erste April. Schon, weil ja mittlerweile jedes Medium mitmacht. Man muss da sehr vorsichtig sein. Wann genau das BBC eingestiegen ist, ist uns genau erhalten. Es hat mit Bäumen zu tun. Und mit Spaghetti…

Download der Episode hier.
Opener: „Spaghetti Bolognese Rezept – total lecker und total einfach!“ von Sallys Welt
Closer: „Spaghetti Symphony!“ von shaycarl
Musik: „Spaghetti Rag“ von Lyons & Yosco (1910) / Public Domain Mark 1.0

+Skript zur Sendung
Die heutige Sendung handelt im Jahre 1957. In Deutschland ist Konrad „Keine Experimente“ Adenauer Kanzler. Und Ludwig Erhard Wirtschaftsminister. Und Franz Josef Strauß Verteidigungsminister. Und Innenminister ist Gerhard Schröder. Was? Tatsächlich. Aber natürlich ein anderer Gerhard Schröder.

Die Bundeswehr hat in diesem Frühling ihre ersten drei Divisionen aufgestellt. Franz Josef Strauß war dabei kein Arm abgefallen, was er noch 1949 befürchtet hatte. Ein gewisser Reinhard Gehlen, Chef-Geheimdienstler im Dritten Reich, wird zum ersten Chef des Bundesnachrichtendienstes.

In Europa feilt man an den Römischen Verträgen. Die die Grundlage für die EWG werden, die die Grundlage für die EG ist, die die Grundlage für die EU ist. Europa bastelt kollektiv an der Aufarbeitung des Kriegs. Der nächste Krieg, der sogenannte „Kalte“ wird mit dem Sputnik-Schock noch einen Höhepunkt erhalten dieses Jahr.

Allgemein ist man aber aus dem gröbsten raus. Und man hat ja jetzt Fernsehen. Schwarz-Weiß. In Deutschland zum Beispiel laufen Sendungen wie „Gruß und Kuss vom Tegernsee“, „Vier Mädels aus der Wachau“ oder „Die Zwillinge vom Zillertal“. Aber außer Heimatfilmen gibt es auch „Schön ist die Welt“ und „Unter Palmen am blauen Meer“.

In Großbritannien gibt es natürlich auch Fernsehen. Und das heißt kurz und knapp BBC. In diesem staatlichen Fernsehbetrieb gibt es ein besonders beliebtes Format, eine Sendung mit dem Namen „Panorama“. So ähnlich wie früher bei uns „Die Drehscheibe“. Darin werden immer auch dreiminütige Einspieler gezeigt, die vom bekannten und respektierten Richard Dembley eingesprochen werden.

Eine Panorama-Sendung aber wird in diesem Jahr zu viel mehr Feedback führen, als alle anderen. Und heute noch berühmt sein. Die fängt ungefähr so an:

/Clip 01

Keine Angst, ich habe das ‘mal übersetzt. Aber ihr habt ein Gefühl von der Art der Sendung, oder? Stellt euch einfach pseudo-italienische Musik im Hintergrund vor, o.k.?

„Nicht nur hier in Britannien wurden alle vom Frühling überrascht. Hier, im Tessin, an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien, haben sich die Hügel am Luganer See schon in ein Blütenmeer verwandelt. Und das mindestens zwei Wochen früher als sonst.
Aber sie fragen sich vielleicht schon: Was hat die frühe Ankunft von Bienen und Blüten bitte schön mit Essen zu tun?
Das liegt einfach daran, dass dieser Winter – der mildeste, an den man sich erinnern kann – auch auf andere Weise Folgen zeitigt. Die wichtigste davon ist vielleicht: Eine ausgesprochen ertragreiche Spaghetti-Ernte. Gerade die zwei letzten Wochen im März sind eine ungewisse Zeit für die Spaghetti-Bauern. Denn es kann immer noch zu einem späten Frost kommen, der, wenn er auch die Ernte nicht gefährdet, den Geschmack beeinträchtigt. Und das macht es dann eben schwer, gute Preise am Markt zu erreichen.
Aber jetzt ist diese Gefahr überstanden und die Spaghetti-Ernte kommt in Schwung.
Der Spaghetti-Anbau hier in der Schweiz hat natürlich nicht die Größe und den Umfang der riesengroßen Spaghetti-Industrie in Italien. Vielen von ihnen haben sicher schon Bilder gesehen von den weiträumigen Spaghetti-Plantagen in der Po-Ebene. Für die Schweizer ist das im Vergleich vielmehr eine Familiensache.
Eine andere Ursache dafür, dass dieses Jahr ein Rekordjahr werden könnte, liegt am völligen Verschwinden des Spaghetti-Rüsslers. Ein winzig kleines Tier, dessen Verwüstungen in der Vergangenheit für viele Sorgen Anlass waren.
Nach dem Pflücken werden die Spaghetti ausgelegt, um in der warmen Alpensonne zu trocknen.
Viele Menschen wundern sich über die erstaunliche Tatsache, dass diese Pflanzen zu so eine erstaunlich einheitlichen Länge wachsen. Aber das ist das Ergebnis von vielen, vielen Jahren geduldiger Anstrengung der Züchter, denen es gelang, die perfekte Spaghetti zu züchten.
Die Ernte wird bei einem traditionellen Abendessen gefeiert, es wird auf die neuen Pflanzen angestossen und dabei aus den sogenannten Bocalino-Tassen getrunken. Dann treten die Kellner in den Raum und servieren das traditionelle Mahl. Es sind natürlich Spaghetti. An diesem Tag geerntet, in der Sonne getrocknet und auf diese Art – frisch vom Garten auf den Tisch – auf dem Höhepunkt ihres Aromas.
Für Menschen, die dieses Gericht lieben, geht einfach nichts über echte, hausgezogene, frische Spaghetti.“

Das Sendedatum für diesen Beitrag war – ihr ahnt es schon – natürlich der erste April. Und gleichzeitig der erste Aprischerz überhaupt im britischen Fernsehen. Damals hatten ca. 44% aller Haushalte bereits einen Fernseher, gerne als Möbelteil zum Aufklappen. Man schätzt, dass ungefähr 8 Millionen Briten diesen Beitrag gesehen haben.

Und die sorgten dafür, dass die Telefone bei der BBC am nächsten Tag selten aufhörten zu klingeln. Viele wollten natürlich klarstellen, dass Spaghetti aus Wasser und Mehl gemacht werden und die Sendung völliger Humbug. Sind halt nicht alle Briten humorbegabt.
Nicht wenige der vielen hundert Anrufer erkundigten sich neugierig, ob sie denn nicht selber einen Spaghetti-Busch anbauen könnten?

Die offizielle Antwort der BBC war in diesem Fall. „Stellen Sie einfach ein paar Spaghetti in eine kleine Dose Tomatensauce und hoffen sie auf das Beste!“

Der ganze Scherz basierte auf einer Idee von Kameramann Charles de Jaeger, der in Österreich zur Schule gegangen war. Ein beliebter Spruch seines Lehrer war gewesen: „Du bist so dumm, wenn man Dir erzählen würde, Spaghetti wachsen auf Bäumen, Du daadst des glauben!“

Der Chefredakter fand das eine tolle Idee, drückte Jaeger Hundert Pfund in die Hand und schickte ihn los.

Und die armen Briten, die Spaghetti nur als schlabbriges Dosengericht kannten oder aber für eine exotische Delikatesse hielten, hatten ihren kleinen Skandal.

In einem Ranking des Senders CNN aus dem Jahre 2009 brilliert dieser sogenannte „Spaghetti-Hoax“ immer noch als „der größte Aprilscherz, den je ein angesehener Nachrichtensender gemacht hat.“


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 August 26, 2015  12m