Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0263: Epilepsie


Mein Freund Bernhard hatte eine Strategie für’s Schwarzfahren. „Wenn mich der Kontrolleur fragt, dann täusche ich einen epileptischen Anfall vor, o.k.? Und Du sagst dann, das wäre kein Problem, dauert halt fünf Minuten. Dann wird der schon gehen.“ Einmal haben wir das auch so gebracht. Und es hat geklappt. Denn Bernhard kannte sich gut aus, er war selber Epileptiker. Um diese Krankheit geht’s also heute.

Download der Episode hier.
Opener: What it’s Like Having Epilepsy von Mike Dancer
Closer: T.J. Miller Has a Seizure von Comedy Central
Musik: I Button Up My Shirt von BandCalled Taft / CC BY-NC 3.0

+Skript zur Sendung

Vor ca. einer Woche lag ich an meiner Lieblingsstelle am Eisbach. Und konnte nicht anders, als den jungen Männern nebenan zuhören. Und da fiel der denkwürdige Satz: „Der ist ja geistig behindert, der hat Epilepsie!“ Worauf mir entglitt: „So ein Quatsch!“

Daran kann man sehr schön drei Dinge sehen. Erstens: Ich bin nicht nur in dieser Sendung ein Klugscheißer. Zweitens: Das ist genau der Grund, warum ich ab und zu eine auf’s Maul bekomme.
Und schließlich drittens: Viele Leute wissen über Epilepsie nicht Bescheid.

Denn Epilepsie ist a) keine geistige Behinderung und b) keine psychische Krankheit.

Für Deutschland schätzt man, dass mindestens 500.000 Menschen Epileptiker sind. Trotzdem haftet dem Ausdruck ein mieses Image an. Wenn man es z.B. mit Diabetikern oder Asthmatikern vergleicht. Das sollte nicht so sein.

Wenn man alle Deutschen zu einem Elektro-Enzephalogramm zwingen würde, würde man bemerken, dass 10% eine erhöhte Krampfbereitschaft haben. Und tatsächlich erleiden auch 5% einmal im Leben einen Krampfanfall. Also einen epileptischen Anfall. Das ist aber keine Epilepsie. Die liegt erst dann vor, wenn es zu mehreren Anfällen kommt, für die es keine klare Ursache gibt. Denn auch Stromschläge, Kopfverletzungen, hohes Fieber oder Vergiftungen können ja solche Krampfanfälle auslösen.

Bei einem epileptischen Anfall beschließen eine oder mehrere Gruppen von Neuronen, alle auf einmal Signal zu geben, zu feuern oder genauer genommen, sich zu entladen. Das führt gegebenenfalls dazu, dass sich alle Muskeln des Körpers als Reaktion darauf kontrahieren. Anspannen. Der Betroffene verliert das Bewusstsein und stürzt unkontrolliert zu Boden, wo ihn die Krämpfe schütteln. Das nennt man Grand Mal.

Aber diese Form der Epilepsie ist nicht die einzige. Welche Auswirkungen so eine Fehlzündung im Gehirn hat, hängt natürlich auch davon ab, welche Neuronen genau da streiken. Man unterscheidet deswegen fokale Anfälle, wo nur ein bestimmter Bereich betroffen ist und generalisierte, wo Nervenzellen der gesamten Großhirnrinde sich entladen. Und weil die Welt kompliziert ist, gibt es auch Mischformen. Die z.B. fokal beginnen und generalisiert enden.

Einige Epileptiker erleben den Anfall nämlich auch nur als komisches Gefühl. Oder als Wahrnehmungsstörung. Oder zucken einmal kurz. Oder der Anfall wandert durch den Körper. Oder sie nehmen die sogenannte Fechterstellung ein. Oder haben Hitzewallungen im Gesicht. Die Vielfalt der Anfälle ist sehr groß. Aber die meisten stellen sich bei Epilepsie halt den Grand Mal vor.

So kennen wir das ja alle auch aus dem Film. Und darum wissen wir auch, was zu tun ist. Man zwingt dem Krampfenden unbedingt etwas zum Draufbeißen in den Mund, damit er sich nicht die Zunge abbeißt oder selbige verschluckt. Und dann hält man in möglichst gut fest, damit der Anfall schnell unterbrochen wird. Hah, wieder ein Leben gerettet.

Und das ist natürlich pfeilgrad genau das Falsche. Danke, Hollywood, das wird einige Menschen den einen oder anderen Finger gekostet haben!

Man kann seine Zunge nicht verschlucken! Das ist anatomisch völlig unmöglich.

Klar, kann sein, dass sich der Krampfende in die Zunge beisst. Aber das ist weniger gefährlich, als dass er an einem Zahn erstickt, den ihr ihm ausbrecht, wenn ihr unbedingt etwas zwischen die krampfenden Kiefer bekommen wollt.

Man muss den Anfall nicht schnell beenden, denn in der Regel dauert er drei bis vier Minuten. Gut ist noch, wenn man alles wegräumt, woran sich der Krampfende verletzen kann. Oder ein Kissen unter den Kopf schiebt. Oder ihm oder ihr die Brille abzunimmt. Aber selbst wenn man keine Hilfe leistet, ist das immer noch besser als die Hollywood-Methode von gerade eben.

Wichtig ist es ruhig zu bleiben, auch Umstehende zu beruhigen. Und den Anfall zu beobachten, damit man ihn gegebenenfalls dem behandelnden Arzt beschreiben kann. Den Notarzt muss man erst rufen, wenn der Anfall länger dauert als fünf Minuten. Doch das sollte nur in seltenen Fällen passieren.

Epilepsie ist also eine häufige Nervenkrankheit, mit der sich in der Regel ganz normal leben lässt. Aber auch weil es so viele verschiedene Formen gibt, existieren natürlich auch Ausprägungen, die schlecht behandelbar sind. Oder auf die keinerlei Therapie anschlägt. Das ist auch der Grund, warum Epileptiker wahrscheinlicher Depressionen entwickeln als Nicht-Epileptiker.

Im Durchschnitt leben Epileptiker auch kürzer. Das liegt zum einen daran, dass Epilepsien eben auch wegen Dingen wie Schlaganfällen oder Hirntumoren auftreten können. Und für den Fall der Grand-Mal-Anfälle kommt auch ein gewisses Unfallrisiko dazu. Man kann sich auch mit wenig Phantasie Szenarien vorstellen, in denen es lebensgefährlich ist, plötzlich bewusstlos zu werden.

Darum gibt es natürlich auch einige Berufe, die man als Epileptiker nicht ergreifen sollte. Bei Dachdeckerbetrieben, der Polizei, der Feuerwehr oder meinetwegen als Schornsteinfeger sollte man sich wohl eher nicht bewerben. Trotzdem ist ein Epileptiker nicht verpflichtet, seinen Arbeitgeber von dieser Erkrankung zu informieren.

Epileptiker sind also, noch einmal, weder geistig behindert, noch von einer psychischen Krankheit betroffen. Weiters wird die Epilepsie auch nicht vererbt oder sind epileptische Anfälle in der Regel gefährlich.

Richtet man sich sein Leben danach ein, dann kann man es meistens ganz normal führen. Auch hier hilft ein bisschen Nachdenken. Die Wohnungseinrichtung sollte nicht über viele spitze Kanten verfügen, man schläft besser nicht in einem Hochbett und duscht besser, als zu baden.

Ansonsten sind Epileptiker genauso Menschen wie Nicht-Epileptiker. Obwohl… Es gab auffallend viele berühmte Menschen, die Epileptiker waren, wie z.B. Vincent van Gogh, Isaac Newton, Neil Young, Napoleon Bonaparte, Sokrates, Julis Caesar, Agatha Christie, Charles Dickens, Alexander der Große, Danny Glover, Alfred Nobel, Michelangelo und Leonardo da Vinci, Edgar Allen Poe, Aristoteles, Teddy Roosevelt, Bud Abbott, Lewis Carrol, Richard Burton, Georg Friedrich Händel, Dostojewski, Hannibal, Pythagoras, Hector Berlioz, Tschaikowski, Robert Schumann, Sir Walter Scott, Nicolo Paganini, Martin Luther, Margaux Hemingway, Lord Byron, Truman Capote, Ludwig der Dreizehnte, Paul der Erste, Chanda Gunn…


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 August 18, 2015  12m