Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0256: Die große Spatzenkampagne


Kaum lebt man einmal 19 Jahre nicht in München, schon sind die Spatzen weg. Früher die am häufigsten zu beobachtende Vogelart hier, sind sie jetzt komplett weg. Das ist ja wie in China 1958. Kennt ihr nicht die Geschichte von der „Großen Spatzenkampagne“? Gut, dann hab’ ich ja ‘was zu explizieren!

Download der Episode hier.
Opener: „mao zedong propaganda music“ von Meheandus Revolution
Closer: „Der Spatz vom Wallrafplatz“ von ARDVIDEO
Musik: „By the River“ von ProleteR / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung

Mao Zedong gilt mittlerweile ja, neben Stalin und Hitler, als einer der drei großen Tyrannen des 20ten Jahrhunderts. Das war in meiner Kindheit und Jugend völlig anders. Denn die „Mao-Bibel“ oder „Das kleine rote Buch“, kurz die gesammelten Worte des großen Vorsitzenden, das war praktisch das Buch zur Bewegung. Und die Bewegung war die APO, der außerparlamentarische Widerstand. Was in Wirkleichkeit eine knackig sozialistische Bewegung war.

Meine politische Laufbahn begann ja erst mit der Friedensbewegung, aber auch da kursierte das Büchlein immer noch. Selbst geistige Größen wie z.B. Paul Breitner scheuten sich in keinster Weise öffentlich daraus zu zitieren.

Und das liegt daran, dass wir Linken damals in Wirklichkeit keinen blassen Schimmer von den Verbrechen hatten, die in China stattfanden. Während wir vom Sozialismus schwärmten, lief in China die Kulturrevolution. Ein Euphemismus für eine verschleierte Form des Bürgerkriegs.

Noch schlimmer war aber der sogenannte „Große Sprung nach vorne.“ Das war offiziell der Versuch die sogenannten „Drei Großen Unterschiede“ auzumerzen. Um schnell aus dem Sozialismus in den paradisischen Kommunismus zu kommen. Die drei großen Unterschiede waren Land und Stadt, Kopf und Hand und nicht zuletzt Industrie und Landwirtschaft.

China war 1958 immer noch ein Agrarstaat und nicht industrialisiert. Binnen der fünf Jahre des großen Sprungs wollte Mao z.B. die Stahlproduktion Großbrittaniens erreichen. Denn der Stahl war damals der Lackmustest für die Industrialisierung einer Gesellschaft. Und Großbrittanien die zweitgrößte Wirtschaftsmacht auf dem Planeten.

Aber wir schauen uns heute Maos Kampf gegen die Spatzen an. Denn der verdeutlicht sehr beeindruckend, wie große Pläne scheitern. Wie eine Planwirtschaft an den Realitäten scheitert. Und auch, warum der „Große Sprung nach vorne“ am Ende mindestens 45 Millionen Menschen das Leben kostete. Auch wegen der Spatzen.

Um seine ehrgeizigen Ziele zu erreichen, war der Große Sprung in viele verschiedene Kampagnen unterteilt. Und eine der Massen-Kampagnen richtete sich gegen die vier Plagen. Darum hieß sie auch den Namen „Massenkampagne zur Ausrottung der vier Übel.“ Im Sprachgebrauch aber heißt sie auch heute noch die „Kampagne zum Töten der Spatzen.“

Denn die Spatzen waren eine der Plagen. Ratten, Fliegen und Mücken die anderen. Die Spatzen hatten ihr Räuber-Image weg, weil sie frecherweise das Saatgut von den Feldern pickten. Und darum den Ernte-Ertrag reduzierten. Der war aber sehr wichtig, weil die Versorgung gerade im ländlichen Raum, in vielen Gebieten sehr schlecht war. In China war es 1958 kein ungewöhnlicher Tod zu verhungern.

Mao Zedong verkündete selber, dass die gesamte Bevölkerung ab dem Alter von Fünf an dieser Kampagne mitzuwirken habe. Befehl von oben.

Der in der Kulturrrevolution geflohene Sinologe Kuan Yu-Chien berichtet z.B.: „ „Ich erinnerte mich an einen Tag, an dem die ganze Bevölkerung nichts anderes machte, als mit Gongs und Töpfen und allen möglichen anderen zum Krachmachen geeigneten Gegenständen auf den Straßen und in den Höfen herumzulaufen, um die Spatzen aufzuscheuchen. Den ganzen Tag war so laut gescheppert worden, dass die Vögel sich nirgends niederlassen konnten und schließlich tot vom Himmel fielen. An jenem Tag wurden Millionen von Vögeln getötet, und wir waren alle ganz stolz darauf gewesen. War es nicht fantastisch, wie es Mao Zedong gelang, die gesamte Bevölkerung für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren?“

Ein anderer Zeitzeuge, damals noch Schulkind beschreibt, wie alle Kinder seiner Schule Leitern bauten, um die Nester herunterzuschlagen und abends Gongs schlugen, um die Vögel daran zu hindern, zu ihren Rastplätzen zurückzukehren.

Und das Unternehmen gelang. In vielen Gegenden Chinas sind die Spatzen heute noch ausgerottet. Innerhalb von nur drei Jahren gelang diese Massenschlachterei. Aber wie man sich denken kann, betraf das Gemetzel nicht nur Spatzen, sondern viele, viele andere Vögelsorten.

Und selbst die armen Spatzen fressen ja nicht nur Saatgut. Sondern eben auch Insekten. Und die freuten sich hämisch. Bereits in den Jahren 1959 und 1960 kam es in China zu den größten Hungerkatastrophen der bekannten Historie. Denn die Heuschrecken vermehrten sich ohne Freßfeinde ungehindert. Und die vernichteten mehr Saatgut am Tag als jeder Spatz.

Im Jahre 1961 korrigierte man das Feindbild auch. Ratten, Fliegen und Mücken blieben auf der Agenda. Aber statt der Spatzen wollte man jetzt lieber gegen die Bettwanzen kämpfen. Aber Mao Zedong musste erst sterben, bevor die Spatzen offiziell wieder als Nützlinge eingestuft wurden.

In der sogenannten „Großen chinesischen Hungerkatastrophe“ starben ungefähr die Hälfte der Opfer des „Großen Sprungs nach vorne“. Von 22 Millionen Menschen müssen wir wohl ausgehen. Die Differenz sind Menschen, die getötet und gefoltert wurden. Weil sie zum Beispiel Verbrechen begangen hatten wie eine Kartoffel ausgraben.

Weil der große Sprung in keinster Weise gelang, kam es überhaupt erst zu der sogenannten Kulturrevolution, die drei Viertel der chinesischen Intelligentia ausmerzte oder zur Flucht trieb.

Während wir Linke also im Westen uns die weisen Worte des großen Vorsitzenden vorlasen, starben Millionen von Menschen wegen seiner verfehlten Politik. Aber wie hatte es Mao selber in seiner Rede vom 18. Mai 1958 gesagt: „Wir müssen mehr Korn produzieren. Wenn dafür die Hälfte der Menschen sterben muss, soll es so sein.“ Insofern ganz gut, dass seine größenwahnsinnigen Pläne stets scheiterten.

Der „Große Sprung“ ist weder im Westen noch in China selber auch nur annähernd aufgearbeitet. Wir Linke im Westen schämen uns wahrscheinlich ein bisschen und in China gilt er offiziell immer noch als die gelungene Aufholjagd zur Industrialisierung.

Wünschenswert wäre, dass sich das bald ändert. Und nicht nur wegen der großen Anzahl der unschuldigen menschlichen Opfer. Sondern auch ein kleines bisschen wegen der Spatzen. In diesem Fall das Symbol für die Verblendung der Planwirtschaft.


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 August 5, 2015  12m