Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0255: Makellose Beine


Was ist das nur mit der Mode? Wie kommt es, dass wir bestimmte Dinge heute normal und morgen als eklig empfinden? Seit wann müssen sich speziell Frauen in unserer Gesellschaft der Körperbehaarung entledigen? Und wer hat sich das ausgedacht?

Download der Episode.
Opener: „Ready, Shave, Shine” von Rock Your Legs
Paper von Christine Hope: Caucasian Female Body Hair and American Culture
Musik: „17“ von Devon Elizabeth / CC BY 3.0

+Skript zur Sendung
Laut einer Umfrage der Firma Escentual aus dem Vereinigten Königreich verwendet die durchschnittliche britische Frau 72 Tage ihrer gesamten Lebenszeit mit dem Rasieren ihrer Beine.

Und nach anderen Verfahren wurde da noch nicht einmal gefragt. Man kann diese ekelhaften, bösen Körperhaare ja auch mit Wachs, Zucker, Hitze, Pinzetten oder gar Laserstrahlen entfernen. Oder einfach chemisch die Haarfollikel vergiften. Wer schön sein will, muss schließlich leiden. Es sei denn, er ist ein Mann. Aber Frauen, die sollten ja Beine haben wie, na ja, wie, wie…
Wie vor der Pubertät? Ist es das?

Warum machen Frauen das? Und seit wann? Die Antwort, die man am häufigsten auf diese Frage hört, ist: „Schon immer. Die alten Ägypter, Römer und Griechen machten das schon. Und auch in Asien machen das Frauen schon immer. Selbst die Indianer haben das gemacht.“

Das ist ja auch nicht falsch. Aber: Vor hundert Jahren hat sich hier im Westen keine Frau dafür interessiert. Und speziell bei uns in Europa ist dieser Kult um die haarlose Haut noch viel jünger. Den haben im großen und ganzen erst mit dem Zweiten Weltkrieg importiert. Meine Großmütter sind beide deutlich vor dem Krieg geboren und die haben sich garantiert in ihrem Leben niemals auch nur die Beine rasiert. Das war für die amerikanischer Unsinn.

Die Kleidung in Europa vor hundert Jahren waren für die Frau lange Röcke & lange Ärmel. Sogar Badeanzüge hatten damals eher das Aussehen einer Burka. In Velhagen & Klasings Monatsheften aus dem Jahre 1910 wird eine Zofe der Kaiserin noch als kokett dargestellt, weil sie ihre Fußknöchel so verführerisch zur Schau stellt! Die Knöchel!

Der Körper der Frau war verhüllt, was ja auch ein bisserl dem nordeuropäischen Klima geschuldet ist. Basta! So war das. Auch in den Filmchen und Fotos, die als Pornografie im Umlauf waren, konnte man das weibliche Rudiment des Fells bewundern.
Und keiner ekelte sich deswegen! Körperhaare waren völlig normal.

Aber in Amerika, genauer in den USA, änderte sich diese gesellschaftliche Konvention. Der erste Rasierapparat für die Frau wurde 1915 von Gilette auf den Markt gebracht. Also wirklich genau vor einhundert Jahren.

Denn hier hatte sich langsam die Mode verändert. Bereits Anfang der Zwanziger war die Rocklänge schon auf halbem Weg zum Knie. Und die Abendgarderobe der gehobenen Kreise entdeckte römisch angehauchte, togaähnliche Schnitte, die auch die Arme an die Luft ließen.

Dann trat ein Prozess ein, wie er in dieser Form nur in den USA vor hundert Jahren so geschehen konnte. Wir können diesen gesellschaftlichen Prozess auch gerne offen beim Namen nennen: Er heißt Kapitalismus.

Denn Frauen zeigten nicht nur mittlerweile immer mehr und mehr Haut. Nein, sie konnten auch Geld ausgeben. Und das machte sie zu einer sehr interessanten Zielgruppe für die Industrie.

Wir merken uns: Vor hundert Jahren hat sich kein Mensch vor weiblicher Körperbehaarung geekelt. Und vor männlicher sowieso nicht. Es gibt einen schöne, kleine Meldung aus der nationalen Presse Amerikas, die mit der Schlagzeile aufmacht: „Junge Frau in Kansas schneidet sich beim Rasieren der Beine.“ Das ist noch aus dem Jahre 1920. Das war noch so fremd und seltsam, dass es eine Zeitungsnachricht wert war.

Und schon 1922 kann man in Harper’s Bazaar eine Anzeige entdecken, die da sagt: „Die anspruchsvolle Frau von heute hat makellose Arme zu haben, wenn sie sich nicht blamieren will.“
In einer anderen Anzeige lesen wir: „Die Haut der Achselhöhlen muss so glatt sein wie das Gesicht, sagt die Lady of Fashion.“

Und natürlich sprangen die Schreiber der Modezeitschriften begeistert auf diesen Zug. Werbung und Redaktionelles war ja nie sauber getrennt. Und wenn man einen Artikel über die Wichtigkeit der glatten, makellosen Achselhöhle schrieb – vielleicht in einer Bildstrecke über neue Abendkleider – dann konnte man viel besser gut zahlende Werbekunden finden.

Denn eine Vielzahl von Frauen-Rasierern und diverser Enthaarungscremes waren schnell – in ein, zwei Jahren – auf den Markt geschwemmt.

Und auch wenn wahrscheinlich noch niemand Ekel empfand, wenn eine Frau noch Haare unter der Achsel trug, die Verknüpfung von Körperbehaarung und dem Makel ist schon da. Haare sind ein Makel für die Frau.

Weil das Geschäft mit der Achselhöhle ach so gut lief, waren das nächste Zielobjekt der Kosmetikindustrie die Haare am Bein. Denn wie gesagt, auch die Röcke wurden kürzer. Also mussten Frauen auch an den Beinen makellos sein. Schon 1938 gaben mehr als die Hälfte der amerikanischen Frauen unter 40 an, sich regelmäßig die Beine und Achseln zu rasieren. 1964 waren es dann bereits 98%!

Dann kam der Krieg und die Gis wurden Sendboten dieses neuen Schönheitsideals. Und natürlich die amerikanischen Filme und Serien obendrauf. Und die Enthaarer-Industrie freute sich über eine neue Zielgruppe jenseits des Atlantik.

Und so wurde die natürliche Körperbehaarung der Frau zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Und die Propaganda ging weiter und weiter. Schon seit vielen Jahren hat sich die zu rasierende Bikini-Region auf die gesamte Schambehaarung ausgedehnt. Man kann sagen, dass das gängige Schönheitsideal den Frauen vorschreibt, alle Haare außer der auf dem Kopf zu entfernen. Na ja, Schnauz- und Vollbart sind natürlich auch nicht erwünscht.

Es lässt sich also ziemlich eindrücklich belegen, dass die Wurzeln des Ekels, den viele mittlerweile gegenüber Körperhaaren haben, eben auf gezielten Werbekampagnen beruht. Auf Konditionierung. Christine Hope hat das schon 1985 in ihrem Paper „Caucasian Female Body Hair and American Culture” eindrucksvoll bewiesen.

Und weil das eben nach Jahrzehnten der Propaganda komplett in unser Fühlen und Empfinden übergegangen ist, kann man wahrscheinlich auch schwierig etwas daran ändern. Aber, nur so, als Mensch gefragt: Sollten wir etwas, dass Frauen 72 Tage ihres Lebens und ein Haufen Geld kostet und noch dazu Schmerzen bereitet, nicht noch einmal genau anschauen und überprüfen?

Was? Ja. Das weiss ich. Manche junge Männer rasieren sich mittlerweile auch Brust-, Rücken- und Schamhaare. Das macht’s jetzt aber auch nicht besser, oder?


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 August 4, 2015  12m