Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0433: The Thief and the Cobbler


Ich denke, ich habe jeden Disney- und auch jeden Pixar-Zeichentrickfilm gesehen. Und noch viele mehr. Aber ein Zeichentrickfilm berührt mich besonders, obwohl er nach 50 Jahren Arbeit eigentlich immer noch nicht fertig ist: „The Thief and the Cobbler“.

Download der Episode hier.
„The Thief and the Cobbler“: Stream auf YouTube, 1080p-Torrent, 480p-Torrent
Opener: „The Thief and the Cobbler Recobbled Cut Mark 4 Pt. 1“ von TheThiefArchive
Closer: „I Hate Disney“ von Jmattz Steelhardt
Musik: „A Disney Kind of Love“ von COMPLICATED PEOPLE / CC BY-ND 3.0

+Skript zur Sendung
Vielleicht ist es wegen meiner Ausbildung als Illustrator, aber ich liebe Animationsfilme. Egal, ob konventionell gezeichnet oder am Computer animiert. Wobei, konventionell gezeichnet hab’ ich schon ein bisschen lieber.

In einer Zeit, wo man im Film keinem Bild, keinem Foto, mehr trauen kann, ist die Zeichnung die realistischere Art, unser Seelenleben abzubilden. Gezeichnete Figuren sind ihren Archetypen näher als das Schauspieler sein können. Ursula, Jaffar, Cruella de Ville, selbst Scar aus dem König der Löwen sind viel böser als das Schauspieler sein könnten. Sorry, Glen Close.

Und Buffos, Sidekicks, comic reliefs, sind gezeichnet immer witziger als geschauspielert. Aber genug philosophiert. Ich möchte heute einen Film vorstellen, den ich für den besten Animationsfilm aller Zeiten halte. Und der tragischerweise ziemlich unbekannt ist. Bei uns hieß er „Der Dieb und der Schuster“ im Original „The Thief and the Cobbler.“

Ich kenne keine Produktion, die einen längeren Leidensweg hinter sich hätte als dieser Film. Deswegen steht sie auch im Guiness-Book, als längste Produktion. Und eigentlich ist der Film noch nicht einmal fertig. Die ganze Geschichte beginnt mit Richard Williams, der in den 60er Jahren erkennt, dass gerade eine ganze Kunstgattung ausstirbt. Nämlich eben der Zeichentrickfilm.

Die Krise des Zeichentricks begann in den Fünfzigern. Der Publikumsgeschmack änderte sich. Zeichentrick war keine Unterhaltungsform mehr für die ganze Familie, sondern wurde zu einer Gattung der Kinderunterhaltung. Das bedeutete, dass der abendfüllende Zeichentrick kaum noch finanzierbar war. Ein großes Studiosterben begann. Am Ende war eigentlich nur noch Disney übrig.

Doch schon das Dschungelbuch, der letzte Film unter Walt Disney, war sehr sparsam animiert. Feste, unbewegte Hintergründe, kaum Schwenks, reduzierte Framezahl, wenige Figuren pro Szene, und xerographierte Outlines. Nach dem Dschungelbuch wurde es noch düsterer.

Zeichentrick war mit Hanna & Barbera ins Fernsehen ausgewichen. Aber selbst Klassiker wie die Familie Feuerstein sind so wenig animiert, dass man sie bebildertes Radio nennen könnte. Nicht die Animation erzählt die Geschichte. Barney und Fred erzählen sie, im Dialog. Animiert sind nur die Lippen. Eine ganze Generation von Animationszeichnern wurde arbeitslos.

Richard Williams hatte nun den Traum, diese Kunst wieder neu aufleben zu lassen. Und er heuerte diese Könner für sein Studio an. Mitten in der Zeit, die man das „Dark Age of Animation“ nennt, im Jahre 1964, begann er die Produktion. Einige Legenden waren an Bord. Art Babbit, z.B. bekannt durch Dumbo, Pinocchio, Schneewittchen oder Fantasia. Oder Chuck Jones, lead animator bei den klassischen Bugs Bunny oder Roadrunner-Filmen. Oder Ken Harris, Oskarpreisträger oder Roy Nesbitt.

Beim Cobbler sollten keine kreativen Grenzen gesetzt sein. Das sollte der beste aller Zeichentrickfilme werden. Die Hintergründe sollten detailreich sein und liebevoll. Jede Figur, auch im Hintergrund wäre voll durchanimiert. Und zwar 24 Bilder die Sekunde, wie in der guten, alten Zeit. Und nicht 12, wie jetzt.

Jede Figur sollte eine eigene Art haben, sich zu bewegen und ein ganz individuelles Aussehen. Und das alles sollte in der Goldnen Stadt spielen, wie Bagdad in1001 Nacht. Und lass uns Szenen einbauen, wo sich die Figuren um alle Achsen drehen und der Hintergrund mit!

Man kann sich denken, dass das seine Probleme mit sich bringt. Und so dauerte die Produktion immer länger und immer länger. Zahlreiche Geldgeber wurden an Bord geholt. Aber der Film wurde nie fertig. Eine Szene z.B., in der der böse Zauberer Zigzag mit Spielkarten jongliert hatte drei Monate in der Entwicklung gekostet und wurde nie verwendet. Weil sie farblich nicht mehr passte.

Als dann zwanzig Jahre später Spielberg für eine Film-Idee nach Zeichnern suchte, die auf die gute, alte Art zu animieren wusste, stieß er auf Williams und sein Team. Und heuerte sie an. Roger Rabbit ist von Williams & Co animiert, ganz im Stil des Golden Age. Der Überraschungserfolg im Kino 1989. Oskar für Richard Williams. Und viel Geld.

Mit dem verdienten Geld und wegen dieses Erfolgs mit einem Vertrag von Warner Bros. in der Tasche begann die Produktion noch einmal. Aber wieder wurden alle Deadlines gerissen. Wieder scheiterte William an seinem Perfektionismus. 1992 verlor er alle Rechte an seinem Werk.

Warner Bros. schnitt dann alles um. Ergänzte den Film um vier Songs – wie halt bei Disney. Und die beiden stummen, titelgebenden Hauptfiguren nerven mit ihren inneren Monologen. Ein unsägliches Machwerk. Mit dem Namen „The Princess and the Cobbler“. Das erschien – direct to video – im Jahre 1993. 29 Jahre nach Beginn der Arbeiten.

Miramax hat sich das dann gekauft, den Film umgetauft zu „Arabian Knight“ und im Zuge des Erfolgs von „Aladdin“ in Corn-Flakes-Packungen verramscht. Der Versuch, ein Meisterwerk der Animation zu machen, war gescheitert. Richard Williams war zutiefst verzweifelt und hat sich beide Versionen nie im Leben angesehen. Ein Lebenswerk zerstört.

Dann kam aber ein Fan namens Garret Gilchrist. Der bekam eine VHS-Kopie des sogenannten Workprints. Also eine verbesserte Version des Storyboards in Filmform. Bleistiftskizzen meist. Oft nicht animiert. Aber dieser Workprint zeigte doch deutlich, was der eigentliche Plan gewesen war.

Und dann nahm er die beiden Versionen, die von dem Film bereits erschienen waren, und schnitt sie um. Immer dem Workprint folgend. Ca. 15 Minuten sieht man nur den Workprint, aber das ist es absolut wert. Die kitschigen Songs flogen wieder raus, die beiden stummen Figuren, eben der Schuster und der Dieb, durften wieder schweigen. Was eine tolle, damals revolutionäre Idee ist: Denn die Animation trägt die Geschichte durchaus alleine. Diese Version nennt sich Recobbled.

Viele der damaligen Mitarbeiter tauchten bei Gilchrist auf und fütterten ihn mit Material. Eine höher aufgelöste Version des Workprints wurde gefunden. Verloren gegangene Szenen tauchten wieder auf, eine ganzes Fünf-Minuten-Stück z.B. auf eBay und die Recobbled-Version wurde immer besser. Es gibt jetzt eine Version Vier, die sehr anschaulich ist, und im Internet kostenlos zu sehen. Links auf der Website explikator.de

Für jeden, der Zeichentrick mag, ist der Film ein Muss. Auch in dieser unperfekten Version, die uns nur eine Ahnung gibt, was hätte sein können. Aus jedem einzelnen Frame strahlt die Liebe und Hingabe durch, die die Künstler da investiert haben. Der Stolz einer alten Zunft. Der Wunsch, etwas Großartiges zu schaffen, koste es, was es wolle.

Natürlich entspricht er nicht unbedingt unseren Sehgewohnheiten. Er ist nicht weichgespült und auf Konsumierbarkeit getrimmt wie ein Disney-Film. Es geht nicht um den Geschmack einer möglichst breiten Masse. Es geht um Kunst. Dieser Film ist stellenweise surrealistisch, oft psychedelisch, manchmal bunt, manchmal beinahe schwarz-weiss. Jeder Charakter ist eine neue Überraschung, jede Wendung bringt eine neue Bildsprache.

Das ist für heutige Augen manchmal etwas anstrengend. Und wenn ihr beim Zusehen denkt: Boah, das ist ja von Aladdin geklaut, dann seid ihr auf der richtigen Fährte. Aber natürlich ist es anders herum. Disney hat sich sehr, sehr deutlich von Richard Williams, na sagen wir ‘mal „inspirieren“ lassen. Hust. Hust. Auch wenn Aladdin ein Jahr früher herauskam, hatte der Thief and the Cobbler immer noch 24 Jahre Vorsprung.

Mein Lieblings-Zeichentrickfilm!


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 April 28, 2016  14m