Ein Koffer Wörter

Ein Poetry Slam für die Hosentasche, geht das? Kommt drauf an. Ein Koffer Wörter hat: Poetry. Quatschige Quatschtexte. Jede Menge Selbsthass. Ein Koffer Wörter hat nicht: Nerviges Lehramtsstudierendenpublikum mit Becks-Gold-Flaschen in der Hand. Applausometer. Covid-19-Aerosole. Such's Dir aus.

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episode 85: Nachtgedanken


TL;DR Wenn ich Nachtgedanken höre, dann denke ich als Kind der 1980er natürlich nicht an Heinrich Heine, sondern an Hans-Joachim Kulenkampff. Chopins Nocturnes Opus 9 Nr. 2: So klang das, wenn Herr Kulenkampff von 1985 bis 1990 jeden Abend vor Sendeschluss in seinen „Nachtgedanken“ noch was vorgelesen hat, bevor dann die Hymne und das Testbild kamen.

Das Leben schmeckt, auf alle Fälle,
Nicht wie eine Frikadelle
Wenn’s dann aber doch so schmeckt
Ist was im Frittenfett verreckt

Hi, Matthias hier. Nachtgedanken ist das Stichwort, liebe Kofferträger_innen. Wenn es heute wieder reichlich spät geworden ist, dann hab ich wohl wieder zu viel an Deutschland gedacht. Denn tut man solches, das wusste bereits Heinrich Heine, dann ist mit Schlafen Essig. 1844 hat Heine seinen Gedichtzyklus „Zeitgedichte“ veröffentlicht und das berühmteste Gedicht daraus, die „Nachtgedanken“, beginnen mit eben diesem berühmtes Satz:

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, /
Dann bin ich um den Schlaf gebracht“

Ich denke bestürzend wenig an Deutschland, und ich glaube, Heine hat auch ein bisschen übertrieben. Denn sein Gedicht, das kannst du gerne nachlesen, handelt eigentlich mehr von seiner armen alten Mutter, die da irgendwo in Hamburg rumhockte und sich antisemitisch anpöbeln lassen musste, während Heinrich in Paris rumgebohemiant hat. Ich war die Tage mal bei seinem Grab am Montmartre-Friedhof und seine Statue dort sieht überraschend ernst aus, aber ich glaub, das liegt daran, dass er tot ist, nicht, weil’s ihm in Paris besonders schlecht ergangen wäre. Oder er hat gerade gerade an seine Mutter oder Deutschland oder beides gedacht und, tja, da kommt Weinen von.

Nachtgedanken

Wenn Heine seinen Heinrich rieb
Bevor er ein Gedichtchen schrieb
Dann dachte er mitunter gar
An seine alte Frau Mamá

Kein Wunder, dass sein Heinrich schlaff
Herunter hing statt stattlich-straff
Ihm heim ins Reich den Weg zu finden
Er blieb in Paris. Aus Gründen.

(‚kay. In Deutschland war’s auch scheiße
War ganz schlau, nicht hinzureisen.)

Ich sag’s ganz ehrlich: Ich hab nicht gewusst, dass dieses Gedicht mit „Deutschland“ und „Nacht“ und „um den Schlaf gebracht“ etc. „Nachtgedanken“ heißt. Wenn ich Nachtgedanken höre, dann denke ich als Kind der 1980er natürlich an Hans-Joachim Kulenkampff. (Chopin Nocturnes Opus 9 Nr .2 spielt) So klang das, wenn Herr Kulenkampff (selig) von 1985 bis 1990 jeden Abend vor Sendeschluss in seinen „Nachtgedanken“ noch was vorgelesen hat, bevor dann die Hymne und das Testbild kamen. Das waren kurze Geschichten, philosophische Gedanken und auch ganz viele Reimdingsis. Er hat quasi meine Idee geklaut. Nur vorher. Zwischen 500.000 und 1.000.000 Zuschauer hatten die Nachtgedanken, das galt damals als wenig, aber waren ja auch alle im Bett und mussten sich auf die Wiedervereinigung vorbereiten. Und ich meine, 1 Mio, das sind ungefähr 30 Fußballstadien voller Menschen in Nicht-Psndemiezeiten. Finde ich ganz schön viel für eine Mitternachtssendung mit einem alten Onkel, der im Fernsehen was aus einem Buch vorliest. Ich gab gelesen, eine Sendeminute Nachtgedanken kostete inklusive Tantiemen und Honorar für Herrn Kulenkampff 500 Mark, also umgerechnet 5000 Miami-Vice-Kaugummis. Das waren bei 5 Minuten Sendezeit ein Mac Mini in Vollausstattung mit Apple Care Plus und dickem Time-Maschine-Laufwerk. Nur gab es sowas damals alles noch nicht und darum glaub ich, Herr Kulenkampff hat das Geld tatsächlich komplett in Miami-Vice-Kaugummis und Panini-Fußballsammelbilder umgesetzt, zumindest hab ich mein Geld damals dafür verwendet und es war gut angelegt.

Tja. Und gelernt haben wir auch viel. War’n zwar häufig schon bisschen was müde und/oder angeschickert von Eckes Edelkirsch, Lambrusco oder Asbach Cola, aber dann noch mal so einen Ringelnatz oder Carl Gustav Jung obendrauf, das hat man sich natürlich nicht entgehen lassen. Und haben wir uns natürlich alles gemerkt. Für später, inne Schule, potentielle Sexualpartner_innen zu beeindrucken. War so mittelerfolgreich, sag ich mal, aber meinen Seneca, den kenn ich jetzt, dank Kuli. „Du wirst aufhören zu fürchten, wenn du aufhörst zu hoffen.“ Der könnte doch auch von mir sein, oder? In diesem Sinne: Tschüß!

Nachtgedanken 2

Ich wär gern Hans-Joachim Kulenkampff
Der nachts im Fernsehen Texte las
Nur sind die meisten Texte angestaubt
Und die modernen kosten was

Das ist okay, nur zahlen kann ich’s nicht
Dafür ist das Budget zu schmal
Und bloß ein altes, klassisches Gedicht
Zu lesen find‘ ich eine Qual

Das ist der Grund, warum ich selbst zum Stift
Vielmehr ins Keyboard greif, und schreib
Und wenn ein Reim auch mal daneben trifft
Ist er dafür tantiemenfrei

Ach Kulenkampff, Du hast mich jede Nacht ins Bett gebracht
Wie häufig lag ich lange wach und hab den Fernseher angemacht
Und da saßt du mit einem Buch und hast sonor im milden Ton
Gelesen, Brille abgesetzt, und dabei schlief ich dann meist schon

Ich hab dank Hans-Joachim Kulenkampff
Von Christian Morgenstern gehört
Mit Erich Kästner, Seneca und Kant
Hat er mich spät im Bett beehrt

Mich hatten vorher Magnum, Denver-Clan,
Die Golden Girls ins Bett gebracht
Doch erst wenn deine tiefe Stimme kam
Hab ich die Augen zugemacht

Und weil der Kulenkampff schon lang nicht mehr
Für mich und all die ander’n liest
Greif ich zum Podcast-Mikrophon und les‘
Bis du in Ruh die Augen schließt

Ach Kulenkampff, Du hast mich jede Nacht ins Bett gebracht
Wie häufig lag ich lange wach und hab den Fernseher angemacht
Und da saßt du mit einem Buch und hast sonor im milden Ton
Gelesen, Brille abgesetzt, und dabei schlief ich dann meist schon

Ach Kulenkampff, Du hast mich jede Nacht ins Bett gebracht
Wie häufig lag ich lange wach und hab den Fernseher angemacht
Und da saßt du mit einem Buch und hast sonor im milden Ton
Gelesen, Brille abgesetzt, und dabei schlief ich dann meist schon

Die Hintergundmusik ab Minute 03:04 ist die Nocturne in Es-Dur, Op. 9 Nr. 2 von Frédéric Chopin, gespielt von Frank Levy (Public Domain): https://musopen.org/music/108-nocturnes-op-9/#recordings


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 February 20, 2021  8m