Ein Koffer Wörter

Ein Poetry Slam für die Hosentasche, geht das? Kommt drauf an. Ein Koffer Wörter hat: Poetry. Quatschige Quatschtexte. Jede Menge Selbsthass. Ein Koffer Wörter hat nicht: Nerviges Lehramtsstudierendenpublikum mit Becks-Gold-Flaschen in der Hand. Applausometer. Covid-19-Aerosole. Such's Dir aus.

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episode 90: Proxima Centauri


TL;DR Es ist Mathematik und Physik /
Du lässt Einsteins Theorem /
Und Poincaré und sein Dreikörperproblem /
Erst ziemlich alt und alsbald auch im Regen steh’n /
Musst dich dann im inversen Kranich dreimal in der Hocke drehen /
Und dann ab zu den Stern‘ auf Nimmerwiedersehen /

Hi, Matthias hier. Als erstes, Ihr lieben Koffer, muss ich mich für gestern, Folge 89, entschuldigen. Ich hab mir den ersten Teil dieser alten Geschichte eben noch mal angehört und „Holgerdiewaldfee!“ war die schlecht! Kaum zu ertragen schlecht, um genauer zu sein. Und darum habe ich spontan entschlossen, den zweiten Teil im Rahmen dieses Koffers nicht vorzutragen. Zumal die Geschichte ja eh fragmentarisch bleibt und kein Ende hat. Aber: Weil ich ja ein Ehrenmann bin und überhaupt klammheimlich total super, habe ich den zweiten Teil der Geschichte zumindest in Gänze in die Shownotes geschrieben, da darf du dann gerne reinschauen, wenn Dich dringende, masochistische Gefühle überwältigen. Was dann aber heute machen? Na, Reimdingsen natürlich. Und weil ich mich irgendwie verpflichtet fühle, den Fauxpas von gestern vergessen zu machen, gibt es heute ein langes, frisch gemachtes Reimdingsi. Nur für Euch. Und damit genug der Vorrede. Macht et jut und bis Montag irgendwann. Tschüß

Was is’n dieses Ding,
dieses: Leben,
Eben diese Existenz, an der wir:
Kleben, die wir statt keinen Pfifferling
Auf sie zu – bling – geben
Auf dieses riesige Podest heben

Dabei sind: wir nicht mal Existentialisten
Suchen nicht wie Parzival den Gral der Christen
Ist ’n toughes Game: als Heide auf der Heide
Zwischen Wölfen und Schafen zu steh’n
Und irgendwann mal schlafen zu geh’n
Einfach schlafen und chill’n
Mit den Pupill’n den Rill’n
Der Träume zu folgen
Durch die Kronen der Bäume
Zu den schwarzen Räumen
In den Wolken

Wir bilden einen Ring
Aus Dingen um uns rum
Halb Wall, halb Fallschirm
Doch fallen wir alle
Nur mal langsam, mal schneller
Und dann hallt der Knall ’n bisschen heller

Doch es macht einen Unterschied,
Ob du’s ertragen oder ob du’s geliebt hast
Denn zu lieben ist leicht, doch es zu hassen
Und es dennoch zu ertragen, da reicht
Ein bisschen seichte Musik nicht
‚N bisschen leichte Kritik nicht
Da brauchst du Support vom ganzen Universum
Von allem was durch Zeit und Ort und drumherum
Fällt, von allen Quasaren, allen Quarks und Pulsaren
Und von allen Sternen, die in die Ewigkeit starren

Proxima Centauri, nur vier Lichtjahre
Und dann ist es vorbei
Proxima Centauri, Dreitausend Kelvin
Und du bist frei

Proxima Centauri, ich misse
Deinen leichten Sternenwind
Proxima Centauri, ich hisse die Segel
Bis ich dich finde

Ich steh am Teleskop
Und schaue auf die Erde
Die, ich schwör, bei Gott, hah!,
Wohl kaum vermissen werde

Denn ich werde gehalten
Von einem fünf Milliarden Jahre alten
Dreifachsternsystem
In dem man immer irgendwo ’n Stern aufgeh’n
Seh’n kann, ja das nenn ich Erleuchtung, Mann!
Und niemand erwartet, dass ich hier überlebe
Und den Stab nach einem langen Leben
An den nächsten übergebe
Hier ist alles ein Kann, kein Muss, Mann,
Alles Leben ein Wunder, oder eben nur ein Funken
Geflunker über Soll’n und Sein, über Haben und Wissen
Über Lieben und Sterben, über Verzehren und Küssen

Proxima Centauri, nur vier Lichtjahre
Und dann ist es vorbei
Proxima Centauri, Dreitausend Kelvin
Und du bist frei

Proxima Centauri, ich misse
Deinen leichten Sternenwind
Proxima Centauri, ich hisse die Segel
Bis ich dich finde

Und wenn du fragst, wie das möglich ist,
Was der Weg ist, statt Dasein zu fristen
Einfach Segel zu hissen

Es ist Mathematik und Physik
Du lässt Einsteins Theorem
Und Poincaré und sein Dreikörperproblem
Erst ziemlich alt und alsbald auch im Regen steh’n
Musst dich dann im inversen Kranich dreimal in der Hocke drehen
Und dann ab zu den Stern‘ auf Nimmerwiedersehen

Proxima Centauri, nur vier Lichtjahre
Und dann ist es vorbei
Proxima Centauri, Dreitausend Kelvin
Und du bist frei

Proxima Centauri, ich misse
Deinen leichten Sternenwind
Proxima Centauri, ich hisse die Segel
Bis ich dich finde

Und hier die versprochene Fortsetzung von gestern (Zeitvertrag, 2. Teil):

3.

Die schönste Frau, die mir je begegnet ist, heißt Mascha Stern. Das erste, was ich von ihr sah, war ein Namensschild. „Dr. Mascha Stern“ stand darauf und links neben dem nüchtern gesetzten Namenszug war ein kleines Foto abgedruckt. Ich kniete auf dem Boden, hielt das Schild in der Hand und wurde mehrmals fast über den Haufen gerannt. Es war mit Sicherheit nicht der allerbeste Platz um auf dem Boden zu knien und sich kopfüber in ein Namensschild zu verlieben – ich kniete direkt hinter dem Haupteingang der Bildungsmesse. Dr. Mascha Sterns Lächeln verursachte ähnliche Glücksgefühle in meiner Magengegend wie die Zitronensahntorte, die meine Mutter zu meinem 17. Geburtstag gebacken hatte. Ihr Lächeln verhieß die leichte, reuelose Süße von Biskuitboden, ihre Lippen den Geschmack von fruchtig-sahniger Ekstase, ihre Augen strahlten wie die Morgensonne über den Zitronenfeldern Kaliforniens. Meine ursprünglichen Ambitionen für den Messebesuch änderten sich urplötzlich. Die neue Aufgabe hieß, der verzweifelten Dr. Mascha das Namensschild hinterher zu tragen. Ich zog mir eine Din-A-4-große Farbkopie des Schildes und ließ sie über die Hallenlautsprecher ausrufen. Ich wartete lange.

Nach zwei Stunden hatte ich Ruth, die Frau vom Messeinfostand so gut kennen gelernt, dass wir uns duzten und uns mehr oder weniger ewige Freundschaft geschworen hatten. Sie war 34, vollschlank, hatte eine Scheidung und eine Fehlgeburt (in dieser Reihenfolge) hinter sich gebracht und lächelte mich fröhlich an. Sie hatte den Namen Mascha Stern alle zehn Minuten ausgerufen und zwischendurch eine Schachtel Zigaretten geraucht. Ihre Stimme war dennoch ungewöhnlich klar, nicht der typische Raucherbelag, nur alle halbe Stunde schüttelte sie ein Hustenanfall, der ihre Krankenkasse über eine Beitragserhöhung von einem halben Prozentpunkt hätte nachdenken lassen. Sie nannte mich Wonneproppen (was Angesichts ihrer Statur ein Witz war) und lachte mich aus wegen Dr. Stern. Und du kennst sie nur von dem Foto hier? Verrückter Bengel. Natürlich fand sie mich total süß. Ich mich auch, irgendwie. Jedenfalls spielte ich gekonnt den Romeo der Bildungsmesse und nach einer Dreiviertelstunde glaubte ich selbst daran. Ja, ich war verdammt romantisch. Denk mal drüber nach, Sebi (Nenn mich nicht Sebi!), hier laufen nur Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen und Dezernentinnen rum. Das hat doch den erotischen Charme von Sägespäne. Ruth mochte diesen Frauenschlag nicht. Bei mir dagegen löste der Begriff „Dezernentin“ herrlich schlüpfrige Assoziationen aus. Dr. Mascha Sterns Foto sah aus, als wäre sie eine verdammt gute Dezernentin. Wie gerne hätte ich von Ruth eine Zigarette geschnorrt, die Augen geschlossen und mir Mascha Stern in einem engen, mausgrauen Hauch von einem Kostüm vorgestellt, wie sie langsam die randlose Brille abnimmt und mich dezernentinnenhaft zur Rede stellt. Aber rauchen ging nicht (kleine Wette mit mir selbst) und Augen schließen wäre unhöflich gewesen, schließlich bemühte sich Ruth wirklich sehr um meine noch recht fragile Beziehung zu Dr. Stern. Trotzdem verlor ich kurz vor Mittag die Geduld. Ich dankte Ruth, ließ ihr zwei Visitenkarten da (eine zum „in Kontakt bleiben“, eine für Frau Stern, so sie ihre Hörgeräte jemals wieder fand) und fing an, die Stände abzusuchen. Am frühen Abend schaute ich auf dem Weg in mein Hotel ein letztes Mal am Informationsschalter vorbei. Ruth war nicht mehr da, auch keine der anderen Kolleginnen vom Vormittag, nur zwei junge BWL-Studenten-Aushilfstypen und eine dürre Vierzigjährige. Ob Ruth vielleicht eine Nachricht für mich hinterlassen hätte, ja, Moment, hier eine Notiz, das ist alles? Ja. Es waren drei Worte. Danke und Mascha Stern. Auf der Rückseite ihre Kontaktdaten. Es war die Visitenkarte eines Ausstellers für Mathematiklehrmittel. Dr. Mascha Stern war darauf zu lesen, Stand 75.

Als ich mit der Nachricht in der Hand Stand 75 aufsuchte, war Mascha Stern bereits gegangen, nur heute Morgen, ganz früh sei sie kurz da gewesen. Wann sie denn wiederkäme, morgen früh, danke, nein, Nachricht ist nicht nötig. Der Weg ins Hotel zog sich hin, die S-Bahn war rappelvoll mit Messegästen, ich verlief mich auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel und fand zu allem Überfluss den Fahrstuhl im Hotel defekt vor, so dass ich neun Stockwerke hoch laufen musste. Bei Stockwerk acht klingelte mein Handy. Am anderen Ende quäkte ein Stimmchen in einem Tonfall, als hätte man eine Kröte mit einem Reibeisen erschlagen. Ihr Name sei Stern, sie wollte sich bedanken etc. pp. … mal treffen … nein, sie hätte keine Durchsage gehört … die ganze Woche noch in der Stadt … ficken. Zumindest lief es darauf hinaus. Ich lehnte atemlos (vom Treppensteigen) am Geländer, kramte die gefaltete Farbkopie ihres Messeausweises aus der Tasche und versuchte krampfhaft, die herrlich grau kostümierte Dezernentin vor meinem inneren Auge erneut erstehen zu lassen. Stattdessen sah ich eine rollige Kröte mit Kehlkopfentzündung. Irgendwie gelang es mir, die redselige Dr. Stern auf ein nicht genau datiertes Treffen in den nächsten Tagen an ihrem Stand zu vertrösten. Wir vollzogen ein umständliches Abschiedritual, versicherten uns nochmals hochgradiger Neugier aufeinander und legten schließlich auf. Ich stapfte in mein Hotelzimmer und sagte der Minibar den Kampf an, sie sprang wahrscheinlich zurück in ihren Teich. Wir trafen uns am übernächsten Tag, kurz nachdem ich mich in Jenny verliebt hatte.

4.

Ich erwache durch lautes Geschrei. Es ist noch stockdunkel. Ich sehe Jenny am Fenster sitzen, die Tagesdecke um ihren Körper gehüllt, die Knie angewinkelt, das Kinn auf das rechte Knie gestützt. Sie schaut aus dem Fenster auf die schwach erleuchtete Straße. Die Laternen in meiner Straße hängen an langen Drahtseilen, die zwischen zwei Häusern über die Straße gespannt sind. Schon ein leichter Wind lässt sie hin- und herschwenken und sie werfen ein gespenstisches, unruhiges Licht auf den Asphalt. Wer schreit da, flüstere ich, um sie nicht zu erschrecken. – Ein Mann. Ein betrunkener Mann. Wohl ein Penner. – Beobachtest du ihn schon lange? – `Ne Weile. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Was tut er? – Er sitzt auf der Türschwelle gegenüber und schreit. – Warum? – Er ist ein betrunkener Penner, darum. Keine Ahnung. Ich denke an unser erstes Zusammentreffen. Unseren Zusammenprall und öffne die Augen. Soll ich runter und mit ihm reden? Ja, sagt sie, das wäre gut. Ich bin müde und entsprechend schlecht gelaunt. Warum geht sie nicht selbst, wenn es ihr so wichtig ist? Und was soll ich tun, wenn er mit hoch will. – Dann sagst du nein. Aber er wird mit hochwollen, sage ich. – Bitte, sprich mit ihm. Sie tapert am Bett vorbei in die Küche. Ich ziehe eine Jeans an und einen Pullover und folge ihr. Sie steht im dunklen Flur an der Haustür und hält mir eine Flasche Cola hin. Hier. Ich nehme die Flasche und schlurfe das dunkle Treppenhaus hinunter. Hinter mir fällt die Wohnungstür ins Schloss, ich taste mich langsam vorwärts.

5.

Am nächsten Tag ließ ich die Messe sausen und ging stattdessen in den Zoo. Es war später Vormittag und die einzigen Gäste neben mir waren Mütter, die ihre Kinderwagen über die gepflasterten Wege schoben. Der Himmel war grau. Hinter dem Vogelzwitschern, dem Gekreische der Affen und all den anderen Tierlauten, dem Schreien, Brüllen, Bellen, Blöken, hörte ich den Stadtverkehr um den Zoo herumbrausen, als ob das dunkle Autodröhnen das Geräusch des grauen Himmels war. Ich hatte einen leichten Kater, weil ich nachts zuvor allein eine Flasche Whiskey aus der Minibar geleert hatte. Eine zeitlang hatte ich versucht, meine Tagträume von Dr. Mascha heraufzubeschwören, doch immer saß eine hässliche braune Kröte auf ihrem Kopf und quakte mich an. Gegen halb zwölf setzte ich mich in den Biergarten. Es war immer noch kalt und grau draußen und ich war der einzige Gast. Der Kellner brachte nur ein fragendes Schnauben heraus, bestimmt roch er meine Fahne. Ich störte, hatte offenbar kein Recht, hier zu sein. Warum konnte ich mich nicht einfach zu den Kinderwagenhühnern mit einer Plastikflasche Bonaqua an den Rand des Spielplatzes setzen und den Kindern beim Spielen zusehen, schien er mich zu fragen. Ein großer, dicker Typ war er, jetzt schon schwitzend, das schwarze Haar an der Stirn klebend, dünne Lippen. Ich bestellte Kristallweizen, weil ich das irgendwie passend für den Zoo fand und versank danach in dumpfe Grübelei. Nach einer Wartezeit von fünfzehn Minuten döste ich ein.

Erwachen. Orientierungslosigkeit. An der Tür zum Innenbereich des Cafés stand der Kellner und beschimpfte eine andere Angestellte, brüllte sie an. Seine Hand sauste ein paar Mal auf den nassen Tisch neben ihm. Zwischen den beiden breitete sich eine Bierpfütze aus, ein zerbrochenes Glas lag neben ihnen auf dem Boden. Fetzen von beschissener Kuh, besoffener Schlampe und Feuern drangen zu mir herüber. Benommen, fast noch im Halbschlaf stand ich auf und näherte mich ihnen. Was mich faszinierte, war die Stimme der Kellnerin, die manchmal protestierend in seinen Redeschwall einfiel. Etwa zehn Meter entfernt blieb ich stehen, halb gedeckt von einem recht verkümmerten Buchsbaum, der aus einem Betonquader zwischen den Tischen herauswuchs. Nachdem sich die Kellnerin eine weitere unflätige Schimpftirade ihres Chefs angehört hatte, fing sie mit einer dunklen, durchdringenden und leicht wackeligen Stimme an zu sprechen. Ihre Stimme klang wie ein seltsam unbestimmter Singsang, getragen, fesselnd, immer wieder absterbend und – tatsächlich – sturzbetrunken. Sie erklärte ihm, was für ein mickriger Niemand er sei, dass er sich seine Joseph-Goebbels-Anwandlungen besser für das Affenhaus aufsparen solle oder wenn er nachts mal wieder verzweifelt versuchen würde, eines der Hängebauchschweine zu vergewaltigen. Dass er das letzte Wesen auf der Erde sei, das in diesem Ton mit ihr reden dürfe, dass er ein Nichts, ein erbärmlicher Kinderficker sei, ein kümmerliches Arschloch. Sie wandte sich ab und blickte mit leeren Augen in meine Richtung. Immer noch kämpfte ich mit einer lähmenden Müdigkeit, riss krampfhaft die Augen auf. Außerdem hatte ich Durst. Der Kellner brüllte etwas, sie zischte zurück, Fick dich doch, schwankte in meine Richtung. Ausdruckslos schaute sie mich an, wie ich mit geweiteten Lidern wie gelähmt halb hinter diesem Buchsbaum stand, den Kellner von hinten auf sie zustürmen, ihn ihren Kopf von hinten in beide Hände nehmen sah, wie ich bewegungslos den Kerl den kleinen Kopf auf einen Plastiktisch hinuntersausen lassen sah, den kleinen Kopf, jetzt blutend. Ich wollte schreien und schaffte es nicht. Der Kellner beugte sich über sie, nahm das Kinn in eine Hand, zwei Schraubendreherfinger schlossen sich um ihren Kiefer und zwangen die Frau, ihn direkt anzuschauen. Verschwinde zischte er, verschwinde oder du bist tot. Sie richtete sich auf, langsam, taumelnd, stolperte in meine Richtung, der Kellner verschwand. Sie torkelte mir in die Arme, sah mich nicht, als hätte sie mich eben nicht bemerkt, rannte weinend in mich hinein. Du hast es doch gesehen, flüsterte sie. Sie roch nach Alkohol. Ja, brachte ich hervor, es tut mir leid, ich war wie gelähmt. Ich stotterte noch mehr in dieser Art und nichts davon war gelogen, ich hätte helfen wollen, ehrlich, ernsthaft, aber konnte mich nicht rühren. Pech für mich, schrie sie und rannte weg, schnell, unsicher, mit den Armen rudernd und ich wieder starr, bestürzt, unfähig zur Bewegung. Schließlich zwang ich mich, ihr hinterher zu gehen, Noch während ich sie suchte, rief ich die Polizei an.

Auf dem Bürgersteig vor dem Haupteingang fand ich sie. Sie saß auf dem Bordstein, hatte ein Taschentuch vor den Kopf gepresst, telefonierte. Sie trug immer noch eine weiße Schürze, darunter einen dunkelroten Rock, Camper, das Oberteil ein dunkelgrünes Etwas mit langen, dünnen Ärmeln. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt. Mit etwas Abstand kniete ich mich neben sie, wartete ab. Sie bemerkte mich, sah kurz zu mir herüber, telefonierte weiter mit einer Freundin oder Mitbewohnerin. Ich ruf noch mal an, dann legte sie auf. Was willst du? – Ich hab die Polizei angerufen. – Ja, haben die mir erzählt. – Hör zu, wegen eben, ich war völlig weg… Der Rest war Gestammel. Meine Stimme versagte, die Tränen schossen hoch, ich drehte mich weg von ihr. Ich wünschte mir, die Szene noch einmal durchleben zu können, wünschte, ich wäre im richtigen Augenblick losgestürmt und hätte ihn aus vollem Lauf zu Boden geworfen. Warum hatte ich nicht einmal das Richtige tun können, statt einfach nur dazustehen und zu beobachten? Die Tränen liefen an meinem Gesicht herunter, die schämte mich, war wütend, auf mich, den Scheißkellner, dieses schwitzende Arschloch, war wütend auf sie, warum auch immer. Ich stand auf. Bleibt gefälligst hier sitzen, bis die Polizei kommt! Ihr Gesicht stand direkt vor meinem, ein dünnes Oval mit einer klaffenden Wunde links oben über der Augenbraue, die Augen zusammengekniffen, ihr Mund bebte. Setz dich hin! Auch ihre Augen schwammen in Tränen. Ich brauche deine verdammte scheiß Aussage, damit sie ihn bestrafen.
Ich sank zurück auf das Pflaster, murmelte ein Schongut. Sie nahm das Taschentuch vom Kopf. Wie schlimm sieht es aus? Es war ziemlich übel, obwohl die Wunde über ihrem linken Auge klein war. Augenbraue und Wange waren mit braunem Blut verkrustet, Blutflecken waren überall auf der Schürze und ihren Schuhen verteilt. Der Rest war makellos, die funkelnden, dunklen Augen, das glatte, schwarze Haar. Hat aufgehört zu bluten, sagte ich, solltest du nähen lassen wegen Narbe und so. Und so? Auf und so kann ich verzichten, zischte sie. Soll es wachsen, wie es will.


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 February 27, 2021  6m