Ein Koffer Wörter

Ein Poetry Slam für die Hosentasche, geht das? Kommt drauf an. Ein Koffer Wörter hat: Poetry. Quatschige Quatschtexte. Jede Menge Selbsthass. Ein Koffer Wörter hat nicht: Nerviges Lehramtsstudierendenpublikum mit Becks-Gold-Flaschen in der Hand. Applausometer. Covid-19-Aerosole. Such's Dir aus.

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episode 91: Baum und Blatt


TL;DR „Er gehörte zu den Malern, die Blätter besser malen als Bäume“. Aber dennoch wurde aus „einem Blatt, das im Winde wehte (…) ein Baum; und der Baum wuchs , er strecke unzählige Äste aus und bekam ganz phantastische Wurzeln…“

Es fand ein Poet aus Hannover
Kein‘ Reim auf die Heimat, was doof war,
Drum dichtete er
Meist über das Meer
Weil’s reimlich viel leichterer Stoff war

Hi, Matthias hier. Ja, so hab ich auch mit dem Kopf geschüttelt, als ich den EingangsLimerick zum ersten Mal laut vorgelesen habe. Aber schließlich gibt’s einen Grund, warum ich die Dinger Reimdingsis nenne und nicht Poeme oder so. Als Alltagspoet musst du wirklich sehr gut sein oder opportunistisch und nach 90 Folgen Koffer-Wörter-Podcast kann ich ruhigen Gewissens sagen: Ich habe aus Gründen hart an meinem Opportunismus gearbeitet. Denn erstens bin ich nicht sehr gut, sondern nur gut. Und zweitens bin ich so verdammt faul und prokratinatorisch veranlagt, dass ich jeden Werktag kurz vor Mitternacht vor dem Dilemma stehe, jetzt noch mal richtig einen rauszuhauen oder einfach das Erstbeste ins Mikrofon zu rülpsen, was mir durch den Schädel geistert. Momentan zum Beispiel liegt ein Buch neben meiner Tastatur, das ich erst kürzlich wieder hervorgekramt habe, weil es ein paar bedenkenswerte Dinge über das Schaffen von Kunst enthält. Lasst uns also streng nach dem Motto „Einfach-das-Erstbeste-ins-Mirko-Rülpsen“ kurz mal darüber reden. Das Buch heißt „Baum und Blatt“ und stammt von J.R.R. Tolkien, dem Herrn-der-Ringe-Typen, der im Nebenjob aber auch Philologie-Prof. in Oxford war. Neben einem lesenswerten Aufsatz über „Märchen“, in dem es unter anderem um Phantasie und Imagination geht (für die verknöcherte Professorenschaft damals offenbar eher ein Reizthema) ist in diesem Buch auch die recht kurze Geschichte „Blatt von Tüftler“ – Leaf by Niggle – abgedruckt. Niggle ist ein Maler, aber einer von der vor sich hinfriemelnden Sorte. Mehr oder weniger sein ganzes Künstler-Leben lang malt Niggle an einem einzigen Baum, wobei er eigentlich, wenn man es ganz genau nimmt, nur einzelne Blätter malt. Tolkien schreibt „Er gehörte zu den Malern, die Blätter besser malen als Bäume“. Aber dennoch wurde aus „einem Blatt, das im Winde wehte (…) ein Baum; und der Baum wuchs , er strecke unzählige Äste aus und bekam ganz phantastische Wurzeln…“ Und man kann sich denken, wie die Geschichte weitergeht. Vögel besuchen den Baum, hinter dem Baum entwickelt sich eine Landschaft und nach und nach ist Niggle ganz und gar damit beschäftigt, dieses eine Bild immer mehr zu erweitern. Er vergisst seine anderen Bilder oder verwendet sie, um das eine große Bild zu erweitern. Dauernd wird er durch dämliche Alltagsdinge und insbesondere seinen nervigen Nachbarn aufgehalten und Niggle wird niemals fertig. Die Leute fangen an, über den komischen Kauz zu reden, man macht sich Sorgen, man beginnt, seine Nützlichkeit für die Gesellschaft in Frage zu stellen und Niggle selbst reibt sich vollständig zwischen seinem Baumprojekt, seinem Alltag und den gesellschaftlichen Zwängen auf. Interessant ist, dass Nigel nicht mal ein besonders guter Maler ist, nur für diese Sache mit den Blättern, da hat er ein Händchen und versucht stets, bei jedem Blatt „seien Form, seien Glanz und das Glitzern der Tautropfen an seinen Rändern einzufangen.“ Mich hat die Geschichte von Tüftler, wie er im Deutschen heißt, schon als Kind fasziniert. Denn na klar, auf die sprachliche Kunst übertragen, war Tüftler eher der Reimdingsi-Schmied als der Romancier, und doch entsteht schließlich ein in mehrfachem Sinne wunderbares Gesamtwerk. Was ich immer ganz besonders eindrucksvoll fand, war die Tatsache, dass Niggle trotz all seiner Schwierigkeiten und all seiner Verzweiflung, die er – auch selbstverschuldet – erleiden musste, niemals Opportunist geworden ist.

Baum und Blatt

Irgendwo hat eine Junta Gott gespielt
Und irgendwo ein Papst ein Pferd gesegnet
Irgendwo hat ein Minister auf das Kanzleramt geschielt
Und irgendwo hat’s auch bestimmt geregnet

Irgendwo hat ein Konzern den Aktienwert halbiert
Und irgendwo ein Arsch mit seinem Geld geprahlt
Irgendwo ist irgendwas Verbotenes passiert
Und Niggle hat an seinem Blatt gemalt

Irgendwo hat eine Frau kein Kind empfangen
Weil sie gerade lieber Star Trek sah
Und irgendwo, da hat sich einer aufgehangen
Weil er in Grammatik eine Niete war

Irgendwo hat ein Friseur eröffnet
Und die anderen Friseure haben ihn verklagt
Irgendwo hat jemand zu spät Stopp gesagt
Und Niggle hat an seinem Blatt gemalt

Und irgendwann, da haben sie gefunden
Dass der Niggle nicht zuhause hocken soll
Dass der Niggle viel zu viele Stunden
Viel zu wenig Pferde segnet, woll

Und haben ein Gesetz gemacht
Dass Niggle keine Blätter malen darf
Das hat den Niggle letztlich umgebracht
Denn Pferde segnen, das kann nur der Papst


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 March 2, 2021  6m