Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0440: Gender-Medizin


Mittlerweile hat sich ja der Ausdruck „Männergrippe“ etabliert. Weil Männer angeblich wehleidiger sind und schon unter einem harmlosen Schnupfen furchtbar leiden. Aber es stimmt, dass Frauen und Männer verschieden krank werden. Aber sie werden nicht verschieden behandelt. Das ist ein Fehler.

Download der Episode hier.
Zitiertes Paper: Sex chromosomes: Why the Y genes matter
Opener und faszinierender Ted-Talk: „Why sex really matters | David Page“ von TEDx Talks
Closer: „Louis C K on gender differences“ von BerlinbleibtBerlin
Musik: „Sex, Drugs & Rock’n Roll“ von den Eastern Ellises / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Nach 440 Folgen staune ich immer noch, wie wichtig der Sendungstitel ist. Gestern ging’s um Sex im Weltall und das hat überdurchschnittlich viele Leute interessiert. Sex sells eben. Aber Göring lief auch ganz gut. Ich hoffe, dass es da keine seltsamen Zusammenhänge gibt, igitt…

Darum habe ich eine Millisekunde gezögert, das Wort „Gender“ in den Titel zu heben. Denn das hat ein eher durchwachsenes Image. Noch vor kurzem wurde sogar in der SZ schwadroniert, was für ein Käse diese gender studies doch sind. Herausgeschmissenes Geld – stand da. Weil eben ein Mann ein Mann ist und eine Frau eine Frau. Basta!

Das gender mainstreaming ist nun seit fast 20 Jahren ein erklärtes Ziel der Europäischen Union, aber in den meisten Köpfen ist der Unterschied zwischen gender und sex immer noch nicht angekommen. Gender ist das psychologische oder soziale Geschlecht und Sex das Biologische.

Und um letzteres geht es heute. Das ist nämlich sehr faszinierend. Denn die Aussage, dass wir Menschen uns alle zu 99,9 % genetisch ähneln, hört man ja immer ‘mal wieder. Stimmt ja auch irgednwie. Gilt für mich und Johnny Depp. Zum Glück. Oder mich und Donald Trump. Leider. Aber mit meiner Freundin oder mit Scarlett Johannsen verbinden mich nur 98,5% Erbgut. Das ist ein Grad an Ähnlichkeit, der auch auf mich und einen beliebigen männlichen Schimpansen zutrifft.

Genetisch ist es eben wichtig, dass ein Mann keine Frau ist.

Das liegt daran, dass wir 23 wunderbar symmetrische Chromosomenpaare haben. Wenn wir Frauen sind. Beim Mann ist ein Chromosom nämlich etwas kurzbeinig. Hat das X-Chromosom über 1500 Gene, hat das Y-Chromosom gerade ‘mal schlappe 78 Gene. Und, so die Lehrmeinung, da liegen nur Informationen ‘rum, die mit Sex zu tun haben.

Das vermittelt die Vorstellung, dass alle Zellen des Körpers bei Frau und Mann im Prinzip ähnlich funktionieren und gleich gebaut sind, nur da im Unterleib gibt es ein paar kleine Unterschiede. Weswegen Männer und Frauen auch die gleichen Krankheiten bekommen oder die gleichen Medikamente in gleichen Konzentrationen.

Diese Unisex-Politik geht sogar soweit, dass Pharmakonzerne jahrzehntelang ihre Studien nicht einmal an Frauen gemacht haben. So tief saß dort der Schrecken noch nach dem Contergan-Skandal.

An die 20 Jahre lang wurden Medikamente nicht einmal mehr an Frauen getestet! Und auch heute noch sind in den Studiengruppen meist nur 10% bis maximal 40% Frauen. Weil es ja egal ist bei Kopfschmerztabletten oder einer Salbe gegen Gelenkschmerzen, ob man das an Frauen oder Männern testet. So die weitverbreitete Vorstellung.

Männer und Frauen sind aber nicht gleich, wenn es um Krankheit und Behandlung geht. Sie sind grundverschieden. Und das bei jeder Krankheit.

Warum haben für jeden Mann, der an Rheuma leidet, ungefähr drei Frauen das gleiche Problem?

Hat das etwas mit der Fortpflanzung zu tun? Etwas mit Sexualhormonen? Nach unserer gängigen Vorstellung nicht. Eine anatomische Erklärung gibt es auf jeden Fall nicht.

Autismus. Für jede Autistin gibt es fünf männliche Autisten. Lupus. Denn, Gregory House: Manchmal ist es eben doch Lupus. Für jeden Mann, die an dieser gefährlichen Krankheit leiden, gibt es sechs Frauen, die es erwischt. Oder die mysteriöse Tako-Tsubo-Kardiomyopathie, auch Broken Heart Syndrom genannt. Statistisch gesehen erleiden das Frauen neun Mal so oft wie Männer.

Die Herzschwäche z.B. betrifft beide Geschlechter. Aber während bei den Frauen meist die Dehnbarkeit der Herzwand gestört wird, betrifft es bei Männern meistens die Pumpfunktion selber.

Weder Rheuma, Autismus, Lupus oder Tako-Tsubo haben das geringste mit irgendwelchen sexuellen Funktionen zu tun. Warum ist das also so? Die momentane Antwort der Medizin auf diese Frage ist: Das liegt an den Sexualhormonen.

Möglich. Aber das ist nur eine Hypothese, mehr nicht. Und in keinem der genannten Beispiele, nicht einmal beim Rheuma ist diese rätselhafte Wirkmechanik nachgewiesen. Die Hormone sind hier einfach eine Schutzbehauptung. Weil es einfach plausibel klingt. Das passiert in der Medizin ab und zu.

Es scheint sich etwas ganz Anderes abzuzeichnen. Im Mai letzten Jahres hat das Whitehead Institute, die führende Forschungsstätte für Genforschung, ein sehr interessantes Paper veröffentlicht. Mühevoll hatte man da sozusagen einen Stammbaum der Säugetier-DNA entwickelt. Denn das Y-Chromosom hat seine Einbeinigkeit im Laufe der Zeit erst erworben.

Wenn aber wichtige Funktionen betroffen waren, dann haben sich die Gene nicht sang- und klanglos aus dem Erbgut verabschiedet. Sondern diese Information wurde entweder an das X-Chromosom weitergereicht. Oder aber an Autosome. Das sind Chromosome, die eben keine Sex-Chromosome sind.

Das konnten sie in vier Fällen explizit für den Menschen nachweisen. Das Gen mit dem hübschen Namen EIF2S3 z.B. ist für die Produktion von Spermien unerlässlich. Aber das liegt beim Menschen nicht mehr auf dem Y-Chromosom, sondern auf einem Autosom gelagert.

Immer, wenn man sich mit der Genetik befasst, kommt man zum Schluss, dass alles viel komplizierter ist als gedacht. Wir haben wohl bisher zuviel Augenmerk auf die Sexualhormone gelegt. Dabei gibt es z.B. die Ryukyu-Ratte. Die kommen völlig ohne Y-Chromosom aus. Im Ernst. Und trotzdem gibt es da natürlich Männchen und Weibchen.

Was unseren Organismus angeht, ist der Unterschied zwischen Frau und Mann ein entscheidender. Man könnte diese Erkenntnis so verkürzen: Jede Zelle in unserem Körper ist eine XX-Zelle oder eine XY-Zelle. Auch wenn wir die Unterschiede nicht würdigen, so ist eine XX-Leber, Hirn oder Herzzelle eine andere als eine XY-Leber, Hirn oder Herzzelle.

Diese Erkenntnis sollte die Medizin endlich verändern. Es gibt ja schon Lehrstühle für Gender-Medizin, einen sogar in Berlin. Denn die Unterschiede liegen auf der Hand. Jetzt, wo wir das auch noch erklären können, muss der Unisex-Ansatz in der medizinischen Forschung enden. Und es muss bei der Medikamentenzulassung darauf geachtet werden, ob man an Männern oder Frauen testet.

Medikamente könnten besser und gezielter eingesetzt werden, wenn es sie in einer XX- und einer XY-Variante gäbe. Diese Forschung wird Leben retten. Viele Leben. Und vielen Betroffenen ihre Krankheit erleichtern.

Und mit der Gender-Debatte hat das gar nichts zu tun. Es geht nicht darum, ob wir im Stehen pinkeln, wieviel Lohn wir bekommen oder wie unsere Geschlechtsorgane aussehen. Es geht darum, ob unser Körper aus XX-Zellen gebaut ist oder aus XY-Zellen. Das ist viel mehr als Hormone oder gesellschaftliche Geschlechterrollen. Es geht eben um Sex und Drugs.


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 May 10, 2016  12m