Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0441: Das Elfte Gebot


Das mit den zehn Geboten ist ja nicht so einfach, wie man denken mag, wenn man Charlton Heston glaubt. Juden, Katholiken und Protestanten zählen die z.B. verschieden. Und dann stehen die in dem Buch auch noch zweimal drinnen. Und nicht genau gleich. Warum sollte es also nicht ein elftes Gebot geben? Und warum hat sich der arme Moses Shapira deswegen umgebracht

Download der Episode hier.
Opener: „Teamspeak2 Das Elfte Gebot von TheResidentEvil“ von BierGarten100
Closer: „George Carlin – Religion is bullshit“ von tommixoft
Musik: „Buy Me A Bible Of Beatles“ von JOOSTVD / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Moses Wilhelm Shapira nahm sich 9. März 1884 das Leben. Er konnte mit seiner Schande nicht mehr leben. Noch ein halbes Jahr vorher war er bekannt und geschätzt in der ganzen Alten Welt. Jetzt machte sich ganz Europa über ihn lächerlich. Und kein antisemitisches Stereotyp wurde dabei ausgelassen.

Dabei ist seine Lebensgeschichte die eines ständigen Aufstiegs. Geboren wurde er 1830 in Kamienitz-Podolsky. Damals Polen, aber russisch besetzt. Heute Ukraine. Im Alter von 25 Jahren folgte er seinem Vater nach Palästina, ins heutige Israel. Damals ottomanisches Reich.

Auf der Reise war er zum Christentum konvertiert und hatte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Daher der Name „Wilhelm“ zwischen Moishe und Shapira. Vier Jahre später eröffnete er einen Laden in Jerusalem. Wo er den üblichen Plunder an christliche Reisende und Pilger verkaufte. Aber auch antike Keramik, die er den palästinensischen Bauern abkaufte.

1868 wurde am Toten Meer die berühmte Mesha-Stele gefunden. Um deren Besitz die Großmächte Europas einen schwunghaften Handel begannen. Moses mischte da für das Deutsche Reich mit, erworben haben sie dann aber die Franzosen.

Die Stele ist ca. 2800 Jahre alt. Der moabitische König Mescha preist darin: Den moabitischen König Mescha. Wie er all’ die Bauvorhaben seines Reichsgottes Kemosch brav ausgeführt hat. Und wie er die Moabiter aus der Sklaverei in Nord-Israel geführt hat. Das Moabitische ist dabei dem Hebräischen sehr ähnlich und damit das älteste erhaltene Denkmal in Quasi-Hebräisch.

Riesen-Ding. Und sicher eine Chance, Geld zu verdienen. Jetzt, wo die Moabiten in aller Munde waren und alle Reiche Europas im Wettkampf um die wichtigsten biblischen Artefakte waren, da musste man sich doch einmal umsehen, ob es nicht etwas gäbe.

Und richtig, sein arabischer Partner Salim Al-Kari hatte da ‘was im Angebot. Bald begann ein schwungvoller Handel mit Artikeln, denen man damals sogar den Namen „Moabitica“ gab. Meist Tonfiguren, Scherben, kleine Köpfe, gerne auch erotische Plastiken. Wahllos mit irgendwelchen phönizischen Zeichen bekritzelt, die Al Karis Töpfer von der Mescha-Stele abkopiert hatten.

Um die Schlappe mit eben diesem Fundstück auszugleichen, gingen deutsche Archäologen bald auf Einkaufstour in Israel. Und 1873 kauften sie 1700 solcher Stücke bei Moses ein. Die gingen in den Besitz des Alten Museums in Berlin über. Bald entwickelten sich die ersten Theorien um diese Schätze des Altertums. Moses war ein gemachter Mann und zog mit seiner Familie in ein großes Haus außerhalb der schmutzigen Altstadt Jerusalems.

Erster Auftritt von Shapiras Nemesis. Dem französischen Archäologen Charles Clermont-Ganneau. Der war doch ein wenig verwundert, dass sooo viele Schätze auf einmal so – hopplahopp – auftauchten. Und reiste an.

Nicht nur, dass er Salim Al-Kari zu einem Geständnis brachte, er fand auch genau die Quelle für den verwendeten Ton. Und den Chef-Töpfer, der ihm auf der Stelle ein paar Fälschungen bastelte. Und die Beduinen, die diese dann effektvoll in der Wüste vergruben.

Das Alte Museum in Berlin saß auf einem großen Haufen Plunder. Das sah man auch bald in Berlin ein. Siehe: Emil Friedrich Kautzsch and Albert Socin, „Die Echtheit der moabitischen Altertümer geprüft“, aus dem Jahre 1876.

Entsetzt distanzierte sich Moses von seinem Geschäftspartner und es gelang ihm, seinen guten Namen einigermaßen zu bewahren. Sein Image sauber zu halten, wie man heute sagen würde.

Wichtig. Die Geschichte hat noch ein Kapitel. 1887 war Moses auf eine, sagen wir mal, Beduinen-Party eingeladen. Und erfuhr da von einem seltsamen Fund, mit dem niemand etwas anfangen konnte. 15 beschriebene Pergamentstreifen. Gefunden in einer Höhle des Wadi Mujib, einem Seitenarm des Arnon.

Und was Moses da las, war aufsehen erregend. Ein völlig neue Version des Deuteronomiums. Des fünften Buch Moses. Mit einem elften Gebot! Sagenhaft. Sofort suchte er den Rat von Professor Konstantin Schlottmann, Archäologe und Bibelforscher mit höchster Reputation. Na ja, angeschlagener Reputation. Denn Schlottmann hatte die moabitischen Fälschungen damals für echt befunden und wollte jetzt nicht noch einmal den gleichen Fehler machen. Kein Statement aus Halle.

Erst 1883 zeigte Moses seinen Fund einem anderen Archäologen, der sich in sein Geschäft verloren hatte. Und auch dieser war ähnlich von den Socken wie Moses selber. Die beiden feierten ihren Fund und schmiedeten gar schon Heiratspläne für ihre Kinder.

Noch im Juni war Moses in Berlin, um die 2000 Jahre alten Pergamente zu verkaufen. Doch auch in Berlin war man etwas angefressen und hielt den Fund für eine Fälschung. Sagte man Moses aber nicht, man bot ihm lediglich einen deutlich niedrigeren Preis.

Setzt der also guter Laune seine Reise fort und bietet also die Stücke dem British Museum für eine Million Pfund an. Eine stattliche Summe. Mit der man sich heute z.B. einen mittelgroßen Flugzeugträger kaufen könnte. Wenn man das wollte.

Hier, in London, glaubt man ihm eher. Es kommt zu einer richtigen Shapira-Begeisterung. Wochenlang sammeln sich lange Schlangen vor dem Museum, wo die Pergamente ausgestellt sind. Alle sind überzeugt hier den ältesten Schriftbeweis für einen biblischen Text zu sehen. Und dass er noch anderen Inhalts war als die bekannte Version aus der King-James-Bibel macht alles noch sensationeller.

Zweiter Auftritt von Charles Clermont-Ganneau. Der eilt stante pede nach London und erklärt rucki-zucki, aus der Hüfte, auch diesen Fund von Moses Shapira für eine billige Fälschung. Schnell schließt sich das Museum diesem Urteil an. Man will sich ja nicht so lächerlich machen wie damals die Deutschen.

Erstens, so das Urteil: Pergament überlebt in der Wüste nicht 2000 Jahre. Und wenn, dann nimmt es nicht diesen seltsamen Charakter von Leder an.

Zweitens: Die Tinte ist ja knalleschwarz. Kein bisschen verblichen. Und das nach so langer Zeit. Are you kidding?

Drittens: Der Text ist ja voller Rechtschreibfehler und anderer unüblicher Ausdrücke. Eine schlechte Fälschung.

Und schließlich viertens: Ein elftes Gebot? Im Ernst? Der Text stimmt ja überhaupt nicht mit der Bibel überein! Billig gemacht also auch noch.

Clermont-Ganneau gegen Shapira: 2:0

Moses Ruf war ruiniert. Überall wurde er lächerlich gemacht. Der gierige kleine Jude, der sich da mit dummen Fälschungen bereichern wollte. Der wirklich die Chuzpe besaß, das sogar zweimal zu versuchen! Eine Million Pfund! Da könnte man sich ja einen Flugzeugträger für kaufen. Ach nee, das haben sie nicht geschrieben, die waren ja noch nicht erfunden worden…

Sechs Monate später nahm sich Moses Shapira das Leben. In Schande. Die Pergamente wurden Jahre später für 10 Guineas versteigert. Und verbrannten dann 1899 wahrscheinlich bei einem Hausbrand. Wir haben nur Fotos und Zeichnungen von diesem damals einmaligen Fund.

Lange Zeit später gab es dann diesen Hirtenjungen. 1947, um genau zu sein. Mohammed Ad-Dib.
Der seine Ziege suchte. Und in den den Höhlen Qumrans die ersten sogenannten Schriftrollen vom Roten Meer fand.

Insgesamt umfaßt dieser Fund 850 Rollen aus dem antiken Judentum. Und 15.000 Pergamentstücke, die bis ins kleinste Detail genau so aussehen wie Moses Deuteronomium!

Das Pergament ist genauso lederartig, die Tinte schwarz, die Texte voller Rechtschreibfehler und seltsamer Ausdrücke. Und die Texte variieren zum Teil komplett von den Texten, die wir Christen seit 2000 Jahren tradieren.

Die Originale sind fort. Hundertprozentig sicher können wir nicht sagen, was Moses da verkaufen wollte. Aber es ist sehr gut möglich, dass er ein ungewöhnlich wichtiges Dokument in den Händen hielt.

Die frühesten Bibeltexte, die man zu seiner Zeit kannte, waren erst ein paar Jahrhunderte alt. Mittlerweile haben wir weit mehr als 5000 verschiedene Versionen biblischer Texte. Nicht eine Version ist mit einer anderen wortgleich.

Ach, was das elfte Gebot ist, wollt ihr wissen? Nicht aufsehenerregend. Hat nichts damit zu tun, dass man nicht Dark Orbit spielen soll. Es lautet: „Du sollst in Deinem Herzen nicht hassen Deinen Bruder. Denn ich bin der Herr Dein Gott.“

Was ist jetzt also die Moral dieser traurigen Geschichte?
Kann natürlich nur die eine sein: Bringe Dich nicht um! Niemals!
Das endet nie gut!


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 May 11, 2016  15m