Ein Koffer Wörter

Ein Poetry Slam für die Hosentasche, geht das? Kommt drauf an. Ein Koffer Wörter hat: Poetry. Quatschige Quatschtexte. Jede Menge Selbsthass. Ein Koffer Wörter hat nicht: Nerviges Lehramtsstudierendenpublikum mit Becks-Gold-Flaschen in der Hand. Applausometer. Covid-19-Aerosole. Such's Dir aus.

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episode 96: Theorie der modernen Lyrik


TL;DR Heute ist, bzw. war Weltfrauentag. Und darum gibt’s von mir heute keinen Rausschmeißer zum Schluss, sondern ich überlasse das letzte Wort einer der größten deutschsprachigen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, Else Lasker-Schüler. Das Gedicht heißt „An Gott“ und stammt aus dem Buch „Meine Wunder“ von 1911

Da sitzt ein Kerl, erwachsen, in der Stube, zieht sich probeweise Verse an, so’n bisschen wie bei H&M in der Garderobe, an- und wieder abgelegt, kurz an- dann wieder abgeregt, säh man in seinen Kopf hinein, er könnte 13 – Überschaum aus allen Poren tropfend – sein, dem überhaupt kein Reim zu peinlich oder klein sein kann, denn irgendwann, da hat sein Ich beschlossen, nicht oder nur wenig überzeugend vor sich hin zu reifen, kneift vor allen längstgestreiften Zeichen seines Fertigseins, und albert atemlos in Eins durch Kleines oder Großes.

Statt, wie alle ander’n einen Dachstuhl auszubauen oder cool mit flacher Hand das eine oder and’re Kind zu hauen, weil es den Leander aus der ander’n Klasse plattgemacht hat, achtet er nicht drauf, ob seine Kinder Klassenkonferenz in Quarantänezeiten schwänzen, weil er Verse sucht und Sätze, die er noch ergänzen muss, mit Wucht verflucht

Und zwischendurch Verzweiflungsmärsche durch das Sonnenlicht, weil der Exkurs zumindest kurz verspricht, dass alles knorke wird und sich zum Guten wendet, nicht nach kurzem Sturz zerbricht und unvollständig endet.

Hi, Matthias hier, ich habe mich aus Gründen im Laufe des Tage mit der Theorie der modernen Lyrik beschäftigt. Es gibt dazu ein hervorragendes Buch, genauer gesagt ein zweibändiges Werk, herausgegeben von Walter Höllerer und es ist die Leistung dieses Autors, dass er in seinem Werk „Theorie der modernen Lyrik“ ausschließlich Reimdingsi-Schmiede selbst und nicht etwa Literaturwissenschaftler_innen zu Worte kommen ließ, denn erstere pflegen zumeist eine Sprache oder Themenauswahl, die anderen Reimdingsi-Schmied_innen bei ihrem täglichen Struggle durchaus helfen kann, während zweitere einfach nur sehr komische Leute sind. Jetzt ist dieses Buch von Walter Höllerer schon was älter, selbst die von Norbert Miller und Harald Hartung herausgegebene Neuauflage von 2003 ist schon reichlich angestaubt, aber trotzdem stehen viele wahre und wichtige Dinge drin, auch wenn ich mir deutlich mehr Beiträge weiblicher Autorinnen wünschen würde. Aber: Isso, bleiben wir Pillermannträger heute also weitgehend unter uns. JEDENFALLS: Es gibt darin einen sehr schönen Text von Gottfried Benn, aus dem ich kurz zitieren möchte, einfach, um zu zeigen, wie altmodisch eigentlich unsere (und auch meine) Themenwahl in den Reimdingsis ist, denn Gottfried Benn ist jetzt ja auch nicht mehr so ganz taufrisch, sag ich mal. Er schreibt (und ich kürze jetzt an der einen oder anderen Stelle „Wenn Sie am Sonntag Ihre Zeitung aufschlagen, finden Sie in einer Beilage meistens (…) ein Gedicht. Es ist meistens kein langes Gedicht, und sein Thema nimmt die Fragen der Jahreszeit auf, im Herbst werden die Novembernebel in die Verse verwoben, im Frühling die Krokusse als Bringer des Lichts begrüßt, im Sommer die mohndurchschossene Wiese im Nacken besungen, zur Zeit der kirchlichen Feste werden Motive des Ritus und der Legende in Reimen gebracht (…). Ich gehe hiervon aus, weil dieser Vorgang einen Hintergrund hat, die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.“

Ich finde, das ist ein sehr gutes Zitat, und vor allem ist es schon 70 Jahre alt und trotzdem müssen wir uns noch immer mit Novembernebeln und Krokussen herumschlagen, müsst ihr, liebe Koffer, Euch von mir Krokusse und Novembernebel anhören. Ja, seid Ihr denn bescheuert? Moment, werdet Ihr sagen, aber das ist ja immer irgendwie ironisch gebrochen. Stimmt, isso, aber trotzdem: Fortschritt geht irgendwie anders, oder? Ich will hier jetzt nicht dazu aufrufen, diesen Podcast zu de-abonnieren, denn das hab ich schon ein paar mal zu viel getan und inzwischen könnte ich den verbleibenden Hörenden die Folgen besser per Mail zuschicken, das wäre vom Kostenaufwand günstiger, aber man könnte ja einfach mal versuchen, nicht noch die siebte Ironieschleife zu drehen sondern einfach mal über die Dinge zu reimdingsen, die wirklich neu sind. Mit zeitgemäßen lyrischen Mitteln. Das Problem ist nur: Was soll das denn sein? Quantenphysik? Polyamorie? Völkermord? Gab’s zu Benns Zeiten auch schon. Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Reimdingsi-Game schon mehrfach durchgespielt. Besonders wir weißen Pillermannträger haben so viele tote Bäume damit gepflastert, das sollte eigentlich für die nächsten paar hundert Jahre reichen. Nur, jetzt kommt’s: Was, wenn wir nix anderes können, oder noch schlimmer, in dem, was andere schon vor 100 Jahren zur Vollendung gebracht haben, so mittelmäßig sind, dass wir ganz persönlich sogar noch Fortschritte machen können? PP. Persönliches Pech, sag ich mal. Und Du, lieber Koffer, liebe Kofferöse, lies Dir doch vielleicht mal Reimdingsis von Nicht-Pillermannträgern durch. Heute ist, bzw. war Weltfrauentag. Und darum gibt’s von mir heute keinen Rausschmeißer zum Schluss, sondern ich überlasse das letzte Wort einer der größten deutschsprachigen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, Else Lasker-Schüler. Das Gedicht heißt „An Gott“ und stammt aus dem Buch „Meine Wunder“ von 1911. Tschüss.

An Gott

Du wehrst den guten und den bösen Sternen nicht;
All ihre Launen strömen.
In meiner Stirne schmerzt die Furche,
Die tiefe Krone mit dem düsteren Licht.

Und meine Welt ist still –
Du wehrtest meiner Laune nicht.
Gott, wo bist du?

Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen,
Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,
Wenn goldverklärt in deinem Reich
Aus tausendseligem Licht
Alle die guten und die bösen Brunnen rauschen.


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 March 9, 2021  8m