Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0450: No Sports!


Ich bin Mitte Dreißig selber Opfer des Sports geworden. Meine Droge war Laufen. Und ich habe brav Kilometer gezählt und Geschwindigkeiten berechnet. Weil ich dachte, das wäre gesund. Aber Sport ist nicht immer gesund und er hat auch keine schöne Geschichte.

Download der Episode hier.
Beitragsbild: By Acagastya (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Opener: „Sports Song – Educational Children Song“ von English Singsing
Closer: „The Big Bang Theory – Sheldon and Penny Go to Run“ von Canal de TBBTVideos
Musik: „Move“ von BREEZELESS / CC BY-NC-ND 3.0

+Skript zur Sendung
„Sport ist Mord.“ Hat angeblich Winston Churchill gesagt. Der sprach aber Englisch und da reimt sich das nicht einmal. Gesagt hat er „No sports“. Heißt es. Als Antwort auf die Frage, wieso er als übergewichtiger Raucher und Vieltrinker so alt geworden ist.

Lustig an diesem Zitat ist, dass es falsch ist. Es taucht praktisch nur im deutschsprachigen Raum auf, ist in England und den USA völlig unbekannt. Es lässt sich auch nicht im renommierten Oxford Dictionary of Quotations finden. Und es gibt weit und breit keine Quelle dazu.

Tatsächlich war Winston Churchill in seiner Jugend durchaus sportlich aktiv als Fechter, Schütze, Reiter und Polospieler. Trotzdem ist das Zitat die Lieblingswaffe aller Sportmuffel. Aber das ist ja eine aussterbende Rasse. Laut einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2009 geben 65% aller Deutschen an, regelmäßig Sport zu treiben.

Denn von allen Seiten wird uns gepredigt, wie wichtig das sei. Krankenkassen honorieren Sport mit Bonuspunktsystemen, bieten kostenlose Sportkurse an und zahlen sogar einzelne Kurse im Fitness-Studio. Beitragserhöhungen für Faule, Raucher und Übergewichtige sind schon lange im Gespräch und werden sicher früher oder später auf uns zukommen.

Alle sind sich einig: Sport ist gesund und wichtig. Und wie immer gilt: Je mehr, desto besser. Profi-Fussballer werden Schönheits-Ikonen. Unser Spiegel sagt uns täglich: Sportlich ist das neue Sexy.

Dabei ist der ganze Sportwahn eine recht neue Geschichte in der Geschichte. Und keine so saubere, reine und brave, wie man meint. Denn sich da auf die Antike zu beziehen, ist nicht ganz richtig. Ja, die Alten Ägypter schon betrieben Leibesertüchtigung. Und nannten das sḫmḫ-jb. Das bedeutet „Sich vergnügen“. In keinster Weise das, was sich in den Gesichtern der Jogger spiegelt, denen ich so begegne.

Und dann kamen die alten Griechen. Schon die Mykener hielten Wettkämpfe ab. Statt sich auf dem Schlachtfeld um Leib und Leben zu bringen, übte man Militärisches im Wettkampf. Das sparte Menschenleben. Das ist die Wurzel des Zehnkampfs bei olympischen Spielen. Militärisches Training für die Aristokratie. Sport statt Mord, sozusagen.

Doch dann kamen die wilden Germanen und beendeten die Antike. Und den Sport auch. Klar schubsten sich die alten Rittersleute mit langen Stangen vom Pferde. Und sie werden auch den Kampf mit dem Schwert geübt haben. Aber nicht wegen mens sana in corpore sano. Oder um sexy auszusehen. Oder der Diabetes vorzubeugen.

Im Mittelalter also war es keine gute Geschäftsidee, ein Fitness-Studio zu eröffnen. Und das blieb dann so bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein. Bodybuilder hätten bis dahin höchstens Jobs in den beliebten Freakshows gefunden. Neben der bärtigen Dame und dem Schlangenmenschen. Und nicht als Gouverneur von Kalifornien.

Der moderne Sport aber, so wie wir ihn kennen und betreiben, kommt gleichzeitig mit der Industrialisierung in Europa an. Erfunden und erdacht in England. Und zwar beides. Im Unterschied zu der Leibesertüchtigung eines Turnvater Jahns in Deutschland zeichnet sich der Sport durch sein Leistungs-, Konkurrenz- und Rekordprinzip aus.

Die elitären Adelsschichten und die neureiche Schicht der Bürger betrieben Sport nicht, wie in Deutschland, zur politischen Erziehung, sondern als Freizeittätigkeit. Und weil man in England damals schon auf alles wetten konnte, wurde auch der Sport zu etwas, was man unbedingt quantifizieren, messen, validieren und vergleichen können musste. Sonst wusste man ja nicht, wer gewonnen hat. Höher, schneller, weiter.

In Kontinentaleuropa verwunderte das die Betrachter noch sehr. „[…] Männer, die von England kamen, wußten den staunenden Freunden zu erzählen, dass die Leute über dem Kanal, so vernünftig sie sonst auch seien, doch recht kindlichen Vergnügungen huldigen. So unterhalten sich junge Leute, einen Lederball auf einer Wiese herumzustoßen, andere wieder schlügen mit einer Art Teppichklopfer den Ball über ein Netz u.s.w.,“ Berichtet Michaelangelo von Zois noch aus den 70er-Jahren des neunzehnten Jahrhunderts.

Bald hatten auch die Manchester-Kapitalisten erkannt, dass es nachhaltiger ist, wenn man seine Arbeiter sich nicht totschuften lässt. Also hatten diese auf einmal Freizeit. Ganz neue Sache. Dummerweise neigten die dann dazu, sich in Pubs zusammenzurotten und so Dinge zu erfinden wie Gewerkschaften. Und dabei so Leuten zuzuhören wie Kommunisten.

Doch da gab es ja den Sport. Und ruckzuck hatte jeder Ausbeuter seinen Sportverein. Damit die Arbeiter ‘was zu tun hatten. Das ist die Wurzel des „Bayer“ vor dem Leverkusen. Es sind nicht nur Marxisten, sonndern eine ganze Reihe Historiker, die die Sportvereine für eine Disziplinierungs- und Ablenkungsmaßnahme halten.

Und dann kommt in dieses Gemisch noch eine Prise Darwin hinein. Der persönlich dafür gar nichts kann. Doch durch den Sozialdarwinismus bekam das antike „mens sana in corpore sano“ einen fiesen Beigeschmack des Völkischen. Man müsse verhindern, das der Volkskörper degeneriere. Dass das Erbgut, die Gene, gesund bleibt. Institute für Volks- und Rassenhygiene wurden gegründet. Lange vor den Nazis. Man nennt diese Ideologie Eugenik und sie stammt aus dem Jahre 1883.

Somit ist die Eugenik acht Jahre älter wie Basketball, neun Jahre älter wie Handball und immerhin 12 Jahre älter wie Volleyball. Alles neue Disziplinen zur Körperertüchtigung des Volkes. Und weil ja ganz Europa in einem dauernden, nationalistischen Wettkampf war, gab es darum bald auch wieder Olympische Spiele. Alles, was gerade greifbar war, wurde zu neuen Disziplinen verwurstet.

Taubenschiessen – echte natürlich, nicht die aus Ton, Hindernis-Schwimmen, Tauziehen, Seilklettern, ja sogar Architektur, Literatur und Malerei wurden zu olympischen Wettkampfarten. Und den Nationen schnell sehr wichtig. Schon 1916 war es im Reichstag keine Frage mehr, dass man massiv in den Sport investieren müsste, damit man auch genug Medaillen abbekommen kann.

Mit dem Radio und dann dem Fernsehen wurde Sport dann zu der großen Massenablenkung, die sie auch heute noch ist. Dabei sind die Fussballer, denen wir bei der WM zujubeln, gar keine Ikonen der Gesundheit. Sondern wie alle Leistungssportler nach ihrer Karriere wahrscheinlich körperliche Wracks.

Lassen wir hier ausnahmsweise ‘mal die Nazis weg, Leni Riefenstahl und zahllose Wochenschau-Videos haben ja sehr deutlich gemacht, das Sport, Propaganda und Wehrertüchtigung im Dritten Reich das Gleiche waren.

Sondern schauen wir auf heute. Auf Smartwatches, die den ganzen Tag Schritte zählen. Und jede Kalorie zählen. Und den Puls messen. Und einen bei Fehlverhalten mahnen.

Darauf, dass der Wettkampf jetzt überall angekommen ist. Den Körper zu benutzen ist mittlerweile komplett vom Leistungsdenken durchdrungen. Und ein Muss. Wer keinen Sport treibt, lebt ungesund, ist undiszipliniert und faul.

Man stelle sich folgendes vor: Selbst Marathon-Laufen ist ein Massensport geworden! Dabei war der legendäre Marathon-Lauf das erste überlieferte Beispiel für den plötzlichen Herztod. Und natürlich sind auch heute die Entzündungsparameter und Blutwerte eines Marathonläufers noch Tage danach nicht von denen Herzkranker zu unterscheiden.

Wer spaziert heute noch? Kein Mensch. Nein, man nimmt zwei Skistöcke in die Hand und nennt das dann Walking! Alles im Geiste von: Wie schnell? Wieviel Bahnen? Wie weit? Wie oft?

Na klar. Man sollte den Körper bewegen. Aber fragen wir doch mal Sportwissenschaftler, wie viel Bewegung dem Körper gut tut und ab wann zu viel beginnt. Wie bitte? Drei- bis fünfmal die Woche eine halbe Stunde Spazieren? Das ist alles? Mehr ist nicht nötig? Ach was?

Ich zitiere Professor Ingo Froböse. Leiter des Zentrums für Gesundheit und Leiter des Instituts für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln: „Ich würde mir wünschen, dass die Menschen wieder regelmäßig ein bisschen Gymnastik machen würden: fünf oder zehn Minuten zu Hause am offenen Fenster Sauerstoff und Licht tanken und die Muskeln kräftigen.“

Wenn man sich an diese Ratschläge hält, wird viel Zeit frei. Für Muse. Für’s Nachdenken. Für’s Nichtstun. Löcher in die Luft starren. Das ist die einzig richtige Strategie gegen die Leistungsgesellschaft in unseren Kleinhirnen. Und nicht Sport.


fyyd: Podcast Search Engine
share








 May 25, 2016  14m