Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0453: Nach der Wahrheit


In den Anfangstagen des Internets kannte meine Begeisterung keine Grenzen. Ich dachte, wir brechen auf in ein neues Zeitalter der Aufklärung. Des Wissens. Der Wissenschaft. Na ja, hat nicht ganz geklappt. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein.

Download der Episode hier.
Opener: „Scientific Method Song Video“ von Have Fun Teaching
Closer: „Teaching Some Science“ von YoureInMySpotFBPAGE
Musik: „i hate science“ von Luis Sanchez

+Skript zur Sendung
Was mir an diesem Rennen um die amerikanische Präsidentschaft besonders aufgefallen ist, ist eine komisches Grundthema. Die Wahrheit. Donald Trump nennt sowieso jeden einen Lügner, aber auch die anderen Kandidaten bezichtigen sich in einer Tour der Lüge. Das ist nicht besonders neu, aber dieses Mal doch besonders ausgeprägt.

Ist ja auch eine schwierige Sache mit der Wahrheit. Mit den Fakten. Mit der Vernunft. Eigentlich ist ja die Basis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens die Vorstellung, dass Fragen objektiv beantwortet werden können.

Das hat wahrscheinlich nicht nur mit der Aufklärung zu tun. Sondern eher mit der Art, wie wir überhaupt zu einem Urteil kommen. Wenn ich und mein Nachbar uns uneins sind, wem diese Kuh gehört, dann gibt es viele Wege, sich zu einigen.

Der älteste Weg wäre das Faustrecht. Und ich hoffe, dass mir dann meine Kenntnisse in Krav Maga helfen. Aber mein Nachbar schlägt ein Wettrennen vor. Weil er zwar schwächer ist, aber schneller. Der Kuhdieb. Wir überprüfen also nicht irgendwelche Fakten, sondern lassen einen Wettbewerb entscheiden. Das ist eigentlich eine Art Gottesurteil. Wer gewinnt, hat recht.

Aber spätestens seit der Magna Charta, wurde auf eine andere Art Recht gesprochen. Eine Jury wurde eingesetzt, die gemeinsam zu einem Urteil kommt. Und die versuchen natürlich, die Wahrheit rauszufinden. Weil wir glauben, dass es eine objektive Wahrheit gibt. Das ist die Grundlage für unsere Rechtsprechung noch heute.

Aber durch das Internet sind wir jetzt schon in einer Gesellschaft nach der Wahrheit. Ein nicht kleiner Teil der Bevölkerung ist Fakten und Argumenten gegenüber schon nicht mehr zugängig. Die schreien Lügenpresse. Die verteufeln die Wikipedia. Und leben in dem Bewusstsein, von vorne bis hinten angelogen zu werden.

Das ist das eigentliche Problem. Unsere Gesellschaft teilt sich mittlerweile in der Mitte. Da sind diejenigen Menschen, die an Dinge wie Vernunft glauben. Der wissenschaftlichen Methode vertrauen. Die Fakten akzeptieren.

Und die andere Hälfte tut das eben nicht mehr. Die klicken sich durch ihre rechtspopulistische Welt im Internet. Oder durch die esoterische. Paralleluniversen mit ganz eigenen Wahrheiten. Ganz eigenen Fakten. Einem ganz anderen Verständnis von Realität gar.

Nicht nur eine Welt, in der die Nazis das deutsche Volk von der Unterdrückung durch den jüdischen Finanzbolschewismus befreien wollten. Oder eine Welt, in der die Erde 6000 Jahre alt ist. Und vielleicht sogar noch eine flache Scheibe. Oder eine Welt in der aufgestiegene Meister, Erzengel oder gar Geistes-Einhörner das Schicksal der Menschheit prägen.

Über jeden dieser Punkte habe ich schon Diskussionen geführt. Und das nicht mit ungebildeten Dummköpfen, sondern Ingenieuren, Programmierern, Mathematikern oder Medizinern.

Es gibt wahrscheinlich drei Gründe, Vernunft und Objektivierbarkeit zu bezweifeln.

Das erste Argument ist ein emotionales. Vernunft ist zu kalt. Rationalisierung nimmt dem Leben das Wunder, das Staunen, die Magie. Außer der wissenschaftlichen Welt muss es noch eine andere geben. Ein romantischer Ansatz, sozusagen.

Das zweite Argument behauptet, dass Wissenschaft einfach auch nur eine Religion ist. Das wir alle kollektiv an bestimmte Dinge glauben. Und Religionen eben genauso Fakten beschreiben wie ein Experiment.

Und das dritte besagt einfach, dass es gar keine objektive Wahrheiten gibt. Und steht nicht in der Zeitung A das Gegenteil wie in der Zeitung B? Kann man das nicht auch SO sehen?

Die Masse der Information im Internet hat nicht zu einem neuen Zeitalter der Aufklärung geführt. Eher sind wir mitten in einer Antiaufklärung. Nicht im Reich der Information, sondern im Reich der Desinformation.

Wir sind also in einer Welt nach den Fakten. In einer Welt der Daten. Denn es stimmt ja gar nicht, dass es so einfach geworden ist, an objektive Information zu kommen. In Wirklichkeit bedarf das einiges Aufwands. Auch in der Wikipedia ist es wichtig, mal den Diskurs hinter der Seite zu lesen.

Und es gehört ein gehörige Menge an Wissen dazu, die Quellen, die man findet, zu gewichten. Googelt doch einmal die Symptome eures Hustens. Da werdet ihr ein Haufen Seiten finden, die euch erklären, dass das sicher Krebs ist. Denn es ist immer Krebs.

Oder googelt mal nach, ob Moses wirklich, faktisch das Rote Meer geteilt hat. Berücksichtigt ihr auch amerikanische Quellen und wertet die alle gleich, dann werdet ihr so bei 50:50 landen. Im Ernst, habe ich selbst versucht.

Die Welt ist viel einfacher geworden durch das Internet. „Siri, wie komme ich von hier nach Transylvanien“ z.B. führt sofort zu einem Ergebnis. „Nächste rechts abbiegen.“ sagt sie dann. Klar kann man alles schnell googeln. Wie wenn man immer die größte Bibliothek der Welt in der Hosentasche hat.

Aber es ist viel schwieriger geworden, ein größeres Bild zu gewinnen. Und furchtbar schwierig, Zusammenhänge zu erkennen. Das Internet ist ein großes Durcheinander von Parallelwelten. Und mittlerweile bastelt sich da jeder nach seinem Geschmack eine Welt zusammen.

Und die Entscheidung, ob es den Klimawandel gibt oder nicht, ist auf einmal eine religiöse geworden und keine wissenschaftliche mehr. 99% aller Metereologen bezweifeln das schon seit Jahren nicht mehr, aber bei Donald Trump oder im Programm der AfD steht immer noch das Gegenteil.

Das ist kein kleines Problem, vor dem wir da stehen. Es ist ja eigentlich kein Problem, wenn die Pegidisten zum Beispiel glauben, dass Geister die Eukalyptus-Bonbons erfunden haben und nicht die Schweizer, wie jeder weiß.

Aber es ist ein Problem, dass wir nicht mehr miteinander reden können. Das wir uns in kleine Parallelgesellschaften organisieren. In diesen aufregenden, spannenden Zeiten arbeiten wir nicht gemeinsam an einer neuen Zukunft, sondern haben unsere Kontroversen auf eine neue Tiefebene geführt.

Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Deutschen glaubt, von vorne bis hinten belogen zu werden. Von Politikern und den Medien. Und haben sich im Internet eine Welt jenseits der Fakten gebaut.

Ein nicht unbeträchlticher Anteil der Deutschen glaubt, dass es eine Geistwelt gibt, die über uns entscheidet. Und haben sich im Internet eine Welt jenseits der Fakten gebaut.

Und genauso die Fundamentalisten jeglicher Geschmacksrichtung, egal ob christlich, muslimisch oder meinetwegen sowjetisch, neonazisch oder maoistisch.

Wir haben alle Informationen der Menschheit ins Netz gespielt. Und jetzt kehren wir ins Reich des Nicht-Faktischen zurück. Wir geben gerade die Aufklärung auf. Das spaltet uns. Und trennt uns.

Vernunft muss weiter die Grundlage unseres Zusammenlebens bleiben. Sonst könnte es wieder ziemlich dunkel werden. Und dann wird das Faustrecht wahrscheinlich auch wieder kommen.

Was mich erinnert: Irgendwo habe ich noch die Rechnung für diese Kuh…


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 May 31, 2016  12m