Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0454: Stanislaw Petrow


Ich habe schon öfter erwähnt, dass die guten, alten Zeiten nicht so gut waren. Ein Mantra hier im Explikator beinahe. Denn der Kalte Krieg war nicht so kalt, wie man meint. Einige Male war es sehr knapp. Und 1983 sogar besonders knapp. Weswegen die Geschichte von Stanislaw Petrow auch so einen hohen symbolischen Wert hat.

Download der Episode hier.
Opener: „Ronald Reagan Evil Empire Speech (Excerpt)“ von Levan Ramishvili
Closer: „Reagan tells Soviet jokes“ von oboguev’s channel
Musik: „ Cold War (2014)“ von JUS DAZE / CC BY-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Ich wurde schon dreimal gebeten, von Stanislaw Petrow zu berichten. Das ist der sowjetische Offizier, der – so die Legende – die Welt vor der Vernichtung gerettet hat. Und trotz Alarm nicht den „Roten Knopf“ gedrückt hat. Versuchen wir das einmal so genau zu machen, wie die Quellenlage das im Moment hergibt und meine 10 Minuten.

Was genau die heißeste Phase des Kalten Kriegs war, ist umstritten. Über die Kubakrise habe ich ja schon die Sendung 289 gemacht. Aus persönlicher Erinnerung erinnere ich aber das Jahr 1983 als das gefährlichste Jahr. Klar, da war ich in der Friedensbewegung und vielleicht ein bisschen voreingenommen.

Die USA hatten, was keiner in Europa glauben wollte, einen greisen B-Movie-Schauspieler zum Präsidenten gemacht. Ronald Reagan. Der hatte als ersten Schritt die laufenden Abrüstungsverhandlungen beendet. Von heute auf morgen. Am 8. März bezeichnete er die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“. Der Opener war ein Ausschnitt aus dieser Rede.

Am 23.3. stellte er dann seinen Sci-Fi-Raketen-Schutzschirm der Öffentlichkeit vor. SDI. In der Presse gerne als „Star Wars“-Programm bezeichnet. Die Idee dahinter war, im Weltall ein Satellitensystem zu haben, dass sowjetische Raketen erkennen und per Laserstrahl abschießen konnte – na ja, so ungefähr. Das das alles heiße Luft war, war damals durchaus nicht klar.

Das hätte das Gleichgewicht des Schreckens nachhaltig verändert. Das funktionierte nämlich so: Greifst Du mich an, dann vernichte ich Dich auch. Unweigerlich. Und beide Großmächte waren dazu auch in der Lage. Uta Ranke-Heinemann hatte 1983 ausgerechnet, dass die Arsenale an Atomwaffen lässig für den Tod von 100 Milliarden Menschen reichen würden.

Wenn nun eine Seite einen Angriff gestartet hätte, dann, um auf einmal möglichst viele Ziele – im Idealfall alle Ziele – zu vernichten. Und das eben in einem Übermaß. Wir nannten das damals den Overkill.

Wenn so ein Angriff ganz früh, beim Start, entdeckt wurde, dann blieben dem Gegner ca. 23 Minuten Zeit, selber einen Gegenangriff zu starten. Ja, die flogen mit Mach 20, als 24.000 Stundenkilometern. Abwehren konnte man die Raketen praktisch nicht. Dafür gab es keine Technologie. Die typischen Raketen hatten dabei an die zehn Sprengköpfe, die ungefähr 300 kT TNT Sprengkraft hatten. Hiroshima, im Vergleich, das war einmal 15 kT.

Auf beiden Seiten ging man von mindestens 150 Millionen Toten direkt durch die Detonation aus. Die Strahlung hätte dann sicher den Rest vernichtet. Die Logik war: Wenn Du mich tötest, töte ich Dich auch. Pervers natürlich, aber bisher hatte das ja ganz gut funktioniert.

Bis dieser unberechenbare Schauspieler an die Macht kam. Und auf einen ebenfalls senilen Betonkopf traf, auf Yuri Andropov. Die Lage war sehr angespannt. Ein funktionierender Raketenabwehrschirm hätte die ganze Logik zerstört. Die USA hätten die Sowjetunion also vernichten können und sich dann hinter ihren Raketenschirm zurück gezogen.

So angespannt war die Lage, dass die Sowjets Anfang September aus Versehen ein südkoreanisches Flugzeug abgeschossen hatte. Eine Passagiermaschine, die man für ein militärisches Flugobjekt gehalten hatte. 269 Tote, darunter auch der amerikanische Kongress-Abgeordnete Larry McDonald.

In der Nacht des 26. September war die Arbeit in dem Serpukhov-15-Bunker nahe Moskau also nicht einfacher geworden. Hier kontrollierte man das Satelliten-Frühwarnsystem. Kommandierender Offizier war der erfahrene Stanislaw Petrow. Man nannte das die Gefechtswache, dieser Dienst galt als Frontdienst.

Viele Männer sitzen vor vielen Monitoren in einem abgedunkelten Raum in zwei Etagen. Ein bisschen so wie in Houston können wir uns das vorstellen. Das Licht der Monitore ist grün.
Das System basiert auf Satelliten-Systemen. Das erste beruft sich auf die Infrarot-Bilder der Sputniks im sogenannten Molniya-Orbit. Wenn eine Rakete startet, wird es sehr, sehr heiß – das erkennt die Infrarot-Kamera. Mit bis zu 3 Bildern in der Sekunde.

Eine visuelle Überwachung mit normalen Kameras gibt es auch, aber das führt oft nicht zu so eindeutigen Bildern wie die Infrarotkameras.

Darum leitet das Infrarotsystem seine Bilder an das Computersystem in Moskau weiter, dass die Bilder auswertet und dann einen Alarm meldet. Dann bleiben 24 Minuten Zeit. Bis die Raketen Russland vernichten. Minus drei Minuten, denn die Gyroskope der sowjetischen Raketen brauchen Zeit, um hochzufahren. Erst nach 13 Minuten Flugzeit konnte man die Information der Infrarot-Satelitten endgültig überprüfen. Denn ein drittes System führte aus großer Höhe eine Radarüberwachung über Europa und Asien durch. In einem 40-Grad-Winkel. Aber den Horizont mussten die Raketen dabei schon überflogen haben.

Und diese Nacht sollte das passieren, was eigentlich zu groß, zu wahnsinnig und zu unfassbar für einen einzigen menschlichen Verstand ist. Eine riesige, bisher nie benutzte Anzeige zeigt in roten Buchstaben das Wort „Start“. Sirenen ertönen. Die Amerikaner hatten eine Rakete gestartet.

Der Computer hat den Start natürlich auch an den Generalstab geschickt. Irgendwo im Kreml holt jemand Yuri Andropov aus dem Schlaf, es ist 0:15 Uhr. Es bleiben also nur wenige Minuten Zeit zu reagieren. Die Stimmung war panisch. Die Operatoren waren aufgesprungen, alle riefen durcheinander.

Petrow erkundigt sich bei den Offizieren, die die Raketenbasis visuell überwachen. Aber weil sich die Basis genau auf der Tag- und Nachtgrenze befindet, können diese keine Aussage treffen. Kein Start zu sehen, aber es ist auch so praktisch nichts zu erkennen. Ein uneindeutiges Ergebnis.

Aber der Oberleutnant Petrow kennt die innere Logik des Atomkriegs. Eine Rakete? Eine einzelne Rakete? Das macht komplett keinen Sinn. Er greift zum Telefonhörer und teilt dem Generalstab mit „Fehlalarm“.

Während dieses Anrufs noch erscheint ein zweiter Raketenstart auf dem Bildschirm. Und auch während dieses Anrufs entscheidet Petrow: Auch Fehlalarm. Auch zwei Raketen machen militärisch keinen Sinn.

Als er den Hörer auflegt, erscheinen bald noch drei weitere Starts. Die Sirenentöne werden durchdringender. Die Anzeige wechselt von „Start“ zu „Raketenangriff“. Vier Minuten waren vergangen, angeblich fünf Raketen in der Luft. Deren Start aber nur vom Infrarot gemeldet wurde, auf den Kameras war nichts zu erkennen.

Darum bleibt Stanislaw Petrow bei seinem Urteil. Fehlalarm. Daraufhin ticken die Uhren weiter. Es müssen die längsten sieben bis acht Minuten der Weltgeschichte gewesen sein, bis der Radar meldet: Keinerlei Raketen weit und breit. Die Entscheidung „Fehlalarm“ war richtig.

Aufgrund selten vorkommender metereologischer Umstände hatte die Sonne in die Objektive der Satelliten gespiegelt. Und hinter den Linsen zu einer Temperatur geführt, die einem Raketenstart geähnelt hat. Und zu diesem seltsamen Phänomen geführt. Es war eine Art Fata Morgana gewesen, eine optische Schwäche im System.

Der Rest der Geschichte, wie wir sie kennen und tradieren, wird im Westen meisten noch falsch erzählt. Petrow hatte keinen „Roten Knopf“. Er handelte genau nach dem Handbuch, das er selber geschrieben hatte. Er wurde nicht unehrenhaft entlassen. Er war nie ein gebrochener, armer Mann.

Weil die Ursache so lächerlich war, entschloss man sich, ihn doch nicht wegen dieser Nacht zu befördern oder mit Orden auszuzeichnen. Man beförderte ihn aber für eine andere Leistung und hielt die Geschichte lieber geheim.

Sicher war das der aufregendste Tag in seinem Leben, so sagt er selber, aber eben auch nichts Besonderes. Erst 1993 grub dann eine russische Zeitung die Geschichte aus. Die dann langsam auch in den Westen schwappte, wo sie zu der Legende wurde, die wir gerade gehört haben.

Der einsame, besonnene Soldat, der persönlich die Welt rettete. Gesunden Menschenverstand benutzte, statt dem perversen Kalkül einer atomaren Strategie. Denn er hat natürlich recht: Die ganze Geschichte ist wahrscheinlich nichts Besonderes. Wir können gut und gerne davon ausgehen, dass es auf beiden Seiten Dutzende solcher Ereignisse gab. Von denen wir nur nicht wissen.

Und Dutzende von Petrovs. Aber auch von Vorgesetzten und Präsidenten, die sich immer wieder gegen den Dritten Weltkrieg entschieden haben. Soweit eigentlich eine zivilisatorische Leistung der Menschheit. Die den Aufbau dieses Arsenals aber nicht unbedingt wettmacht.


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 June 1, 2016  15m